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ftd.de, Sa, 7.8.2004, 13:33, aktualisiert: Sa, 7.8.2004, 18:06
Rechtschreibreform: Schüler wären bei Rücknahme die Verlierer
Die angekündigte Rückkehr von Spiegel- und Springer-Verlag zur alten Rechtschreibung hat eine ungeahnte Kontroverse in Deutschland ausgelöst. Warnungen kamen auch aus der Schweiz.
Vergleich Rechtschreibung
Während der Schritt vor allem von Länderchefs der Union und dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle begrüßt wurde, stieß er bei SPD-Ministerpräsidenten, aber auch bei einigen CDU-Politikern auf teils scharfe Kritik. In Schulen und Hochschulen soll am 1. August 2005 die Reform verbindlich werden. Es drohen in Schulen und einem Teil der Medien damit künftig unterschiedliche Schreibweisen.
Für den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck hat die Ankündigung der Verlage viel mit Kampagne und Public Relations, aber wenig mit Inhalt zu tun, wie der SPD-Politiker dem Tagesspiegel sagte. Der brandenburgische Bildungsminister Steffen Reiche verwies in der Berliner Zeitung darauf, dass mit der Reform viele alte Ausnahmeregelungen aufgegeben worden seien.
Auch Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus hat sich gegen eine Rücknahme der Rechtschreibreform gewandt. Berlins Kultursenator Thomas Flierl (PDS) bekräftigte dagegen in der Berliner Zeitung seinen Wunsch nach einer vorsichtigen Revision der Reform, um deren hässlichste Fehler zu beseitigen.
Hessische Ministerin erhebt Vorwürfe gegen die Medien
Die hessische Kultusministerin Karin Wolff hat den Verlagen vorgeworfen, die Bevölkerung zu verunsichern. Gleichzeitig räumte sie Defizite bei der Vermittlung der Reform ein. Die Medien halten uns Politikern vor, wir hätten ein Chaos angerichtet. Dabei tragen die Verlage mit ihrem Schritt selbst zur allergrößten Verunsicherung bei, sagte Wolff am Samstag. Es werde kaum erwähnt, dass die Kultusministerkonferenz einige Änderungen bei der Reform berücksichtigt habe und künftig ein Gremium mit der organischen Weiterentwicklung der Rechtschreibung beauftragen will.
Christian Wolff (Niedersachsen) will die Reform im Herbst kippen
Die Rücknahme soll nach dem Wunsch des niedersächsische Ministerpräsidenten Christian Wulff schon im Herbst erfolgen. Damit würde man dem Wunsch einer großen Mehrheit der Deutschen nachkommen, sagte der CDU-Politiker der Bild am Sonntag.
Einen Befürworter fand Wulff im FDP-Bundesvorsitzenden Guido Westerwelle. Er will für die Rücknahme der Rechtschreibreform kämpfen. Der Welt am Sonntag sagte er: Die neue Rechtschreibung ist so überflüssig wie ein Kropf. Die könne und solle man rückgängig machen. Wenn der bayerische Ministerpräsident wirklich, wie angekündigt, dafür ist, dann sollte seine Staatsregierung schnell im Bundesrat beantragen, dass die Länder gemeinsam den Unfug der Rechtschreibreform rückgängig machen.
Mehrheit der Deutschen für alte Rechtschreibung
Edmund Stoiber (Bayern) kann sich eine Überarbeitung vorstellen
Bayern geht nach den Worten von Ministerpräsident Edmund Stoiber dabei ergebnisoffen in die Diskussion. Es werde jedoch immer offensichtlicher, dass mit der Rechtschreibreform erhebliche Unsicherheit über das richtige Schreiben eingetreten sei. Stoiber will auch Lösungen prüfen, die nur Teile der Reform verwirft und andere beibehält. Es besteht Handlungsbedarf. Es kann nicht sein, dass im Ergebnis jeder schreibt wie er will und es keine akzeptierte Ordnung mehr gibt, sagte Stoiber.
Eine Blitzumfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag von RTL ergab eine deutliche Mehrheit für die alte Rechtschreibung. 75 Prozent der lediglich 506 Befragten sprachen sich für die alten Schreibweisen aus, bei älteren Menschen war die Zustimmung sogar noch höher.
Der Geschäftsführer der Rechtschreibkommission, Klaus Heller, sagte der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, er halte den Boykott der neuen Regeln für unmoralisch, da die Rechtschreibreform ein jahrzehntelanger demokratischer Prozess gewesen sei. Es kann doch nicht sein, dass in der Schule etwas gelehrt wird, das anders ist als das, was man liest, sagte er.
Sprachwissenschaftler rechnet mit Selbstregulierung
Der Tübinger Sprachwissenschaftler Wolfgang Sternefeld rechnet mit einer zunehmenden Aushöhlung der Rechtschreibreform. Vieles am neuen Regelwerk sei vom linguistischen Standpunkt aus wenig sinnvoll und werde sich in der Praxis nicht durchsetzen, sagte der Universitätsprofessor am Samstag. Wer am wenigsten damit zurecht kommt, sind die Lehrer. Sie haben einfach keine Kompetenz bei der Rechtschreibung. Für die Schüler dagegen wäre eine Rückkehr zu den alten Regeln kein besonders großes Problem.
Nach Ansicht Sternefelds ist die Rechtschreibreform schon früh ein Politikum geworden, das sich verselbstständigt hat. Auf die Sprachwissenschaftler habe man dabei kaum gehört. Einige von ihnen hätten sich daher frustriert zurückgezogen. Meine Prognose ist: Stillschweigend wird die Reform zu einem großen Teil wieder zurückgenommen einfach durch die Praxis, sagte Sternefeld. Nur das Vernünftige werde sich durchsetzen.
Der Bayerische Elternverband (BEV) hat die Rückkehr zur alten Rechtschreibung kritisiert. Das ist eine populistische Entscheidung, sagte die BEV-Vorsitzende Ursula Walter. Sie plädierte für eine Beibehaltung der neuen Regeln. Müssten die Schüler tatsächlich zur alten Rechtschreibung zurückkehren, müsste wertvolle Unterrichtszeit für das erneute Umlernen eingesetzt werden. Es gebe in der Sprache Wichtigeres als die Rechtschreibung, sagte Walter.
Philologenverband: Sommertheater
Nach Ansicht des Philologenverbands Baden-Württemberg führt die Absicht von Spiegel und Springer zu einer großen Verunsicherung von Schülern, Lehrern und Eltern. Der neu entflammte Streit sei ein Sommertheater mit verheerenden Folgen, sagte am Samstag der Verbandsvorsitzende Karl-Heinz Wurster in Stuttgart. Mit einer Reform der Reform werden Kinder zu Versuchskaninchen für die Anhäufung unterschiedlicher Schreibweisen gemacht. Gerade jüngere Schüler hatten die Reform gut angenommen.
Kritik regte sich auch in der Schweiz. Eine Kehrtwende würde in den Schulen zu Chaos führen, sagte der Präsident der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), Ulrich Stöckling, der Neuen Zürcher Zeitung. Das deutsche Pendant zur EDK, die Kultusministerkonferenz, dürfe den Forderungen nach einer Wiedereinführung der alten Schreibweise nicht nachgeben.
Sämtliche Lehrmittel seien mit der Reform umgestellt worden und die Lehrer hätten in teuren Kursen gelernt, wo sie bei Schülerarbeiten den Rotstift ansetzen müssten, sagte Stöckling. Wenn jetzt die Uhr wieder zurückgedreht wird, dann werden weder Schüler noch Lehrer wissen, welche Regeln denn nun gelten. Dann drohe die völlige Verwilderung der Sprache, weil sich niemand mehr um irgendwelche Schreibregeln kümmern werde. Zudem wären die Mehrkosten für das öffentliche Bildungswesen ein volkswirtschaftlicher Blödsinn, sagte der EDK-Präsident.
Aust verteidigt seine Entscheidung
Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust will ´Schwachsinn´ verhindern
Unterdessen hat der Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Stefan Aust, die Entscheidung seines Hauses verteidigt. Aust begründete den Entschluss am Samstag im Inforadio des RBB mit der nach wie vor mangelnden Akzeptanz der neuen Regeln durch die Bevölkerung. Als jetzt die Kultusministerkonferenz entschieden hat, dass im nächsten Jahr diese merkwürdige Reform auch noch Pflicht werden soll, da haben wir gedacht, jetzt müssen wir etwas tun, um diesem staatlicherseits verordneten Schwachsinn Grenzen zu setzen.
Rückendeckung erhielt er von einem der bekanntesten Literaturkritiker Deutschlands. Die seit Jahrhunderten bestehende Kluft zwischen der Sprache der Literatur und des Alltags darf nach Ansicht von Marcel Reich-Ranicki nicht auf die Rechtschreibung übertragen werden. Deswegen bin ich froh und sehr zufrieden, dass Springer, Spiegel und Süddeutsche wieder zu der alten Rechtschreibung zurückkehren, sagte Reich-Ranicki am Samstag in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa in Frankfurt am Main. Es sei schon schlimm genug, dass in Deutschland niemals so gesprochen wurde und vielleicht auch nie wird, wie die großen Schriftsteller in ihren Werken schreiben. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass es auch zwei Orthografien gibt.
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