Den "Hebel" Schule nicht vergessen
Lieber Herr Professor Ickler!
Sie haben recht deutlich geantwortet auf der Stammseite von http://www.rechtschreibreform.com.
Vermutlich aber verkennen Sie meine Motive, die mich an dieser Diskussion teilhaben lassen.
Mir geht es zum einen darum, die Diskussion verstehen zu lernen, was ich nur durch Hinterfragen erreichen kann, und es geht zum anderen darum, die neuen Definitionen und Erkenntnisse auf ihre Anwendbarkeit im Schulbereich zu überprüfen. Es müssen doch einerseits Transparenz andererseits Transfermöglichkeiten geschaffen werden.
Sie sind gegenwärtig dabei, ein übergeordnetes Ganzes zu schaffen. Sie suchen eine Leitidee, einen Rahmen, der wirklich alles unter sich vereint, was einsammelbar ist sozusagen einen Superkollektor.
Sie haben recht, wenn Sie in diesem Zusammenhang meine Wortmeldung zurückweisen: Eine Faustregel ist keine alles bestimmende Rahmenrichtlinie. (Aber, sie ist eine praktische Anleitung für Schulkinder, mit der man doch in den meisten Fällen zum Ziel gelangt.)
Sie haben auch recht, wenn Sie sagen, daß eine Faustregel nicht (unbedingt) ins Wörterbuch gehört. (Aber die Faustformel gehört dann in irgendein Didaktikbuch hinein. Jene Faustregel zu zerfleddern oder zu verhöhnen, ist wohl nicht ganz richtig.)
An einem Beispiel will ich mein Verständnis des Begriffes Faustregel (Krücke, Geländer, Brückenschlag, Gehhilfe...) erhellen. Ich mache eine Anleihe im Fachbereich Mathematik/Geometrie:
Wenn ich meinen Schülern Einsichten vermittle in den Bereich der Volumen- und Oberflächenberechnung von Säulen, dann lasse ich sie zunächst den jeweiligen Körper erkennen. Sie dürfen handeln (basteln), Handlungsvorgänge versprachlichen und letztlich abstrahieren. Höchstes Ziel des Unterrichts ist selbstverständlich die kürzestmögliche Berechnung mit spezieller Formel. Hauptziel jedoch ist es, die Fähigkeit anzubahnen, daß Schüler die Säulen überhaupt berechnen können.
Den Weg hin zu dieser Fähigkeit macht jederzeit meine Faustformel klar, und umgedreht, die Faustformel macht weitere Erkenntnisse möglich, denn im Vergleich aller beliebigen Säulen ist von der Handlungsschiene bis zur Schiene der Abstraktion folgende Faustformel der Volumenberechnung zu finden: Volumen = Grundfläche mal Körperhöhe.
Ebenso ist für die Berechnung der Oberfläche folgende Faustformel zu entdecken.
Oberfläche = zweimal Grundfläche plus Mantelfläche.
Ich weiß: Jeder Techniker würde mir unmittelbar widersprechen und mir einen Würfel an den Kopf schleudern, denn hier ist die Berechnung wesentlich kürzer zu fassen.
(V = a³, O = G mal 6).
Gleichwohl würde ich unbeirrt meinen Weg des Lehrens weitergehen, denn ich schaffe mit meiner Methode Übertragungsmöglichkeiten auf andere Körper, während der Techniker den Blick auf spezifische Körper einengt. Im übrigen habe ich in der Schule die Möglichkeit der Differenzierung.
Vielleicht läßt sich aus diesem Beispiel der Konflikt unserer sehr unterschiedlichen Positionen ableiten. Sie finden meine Faustformel zu dünn: Groß schreibt man das sinnlich Wahrnehmbare. Es ist für mich eine Arbeitshypothese oder besser eine schülergerechte und altersgemäße Arbeitsanleitung, die allerdings nicht das Namenwort in seiner Besonderheit legitimiert, sondern sich lediglich als Entscheidungshilfe beim Schreiben versteht.
Außerdem: Ich bilde keine Ingenieure, Journalisten und Dichter aus. Ich packe den später in irgendeinem Wirtschaftszweig Integrierten lediglich einen Rucksack, dessen Inhalt aufgrund unterschiedlicher Kapazität unterschiedlich ausfällt. Nur manche wollen was das Sprachliche angeht feinste Differenzierungsmöglichkeiten, Etymologien, grammatische Besonderheiten mitnehmen. Das bekommen sie. Alle aber müssen mit einem einfachen, zweckdienlichen Handwerkszeug ausgerüstet sein.
Eine Provokation zum Schluß: Wohlüberlegt haben die Rechtschreibreformer den Weg über die Schule gewählt. In den heiligen Hallen der Kultusminister hat diese Sprachrevolution stattgefunden, dort wo die Schaffung des mündigen Bürgers oberste Richtschnur ist. Welch eine paradoxe Handlungsweise.
Sie Herr Professor Ickler versuchen den Weg über die aufgeklärte, mündige Gesellschaft.
Meinen Sie, ohne den Hebel Schule zurechtkommen zu können. Und wo bitte und zu welchem Prozentsatz ist denn die Gesellschaft mündig sprachmündig? Dann wären ja auch Wille und Engagement zu erkennen!
Die eigentliche Frage dieses Strangs soll aber nicht vergessen werden. Rechtschreibung = Artenschutz?? Wie schütze ich denn nun die Großschreibung vor dem Aussterben. Die ersten Übergriffe wurden ja nun abgewehrt, doch wer den Hebel besitzt, der braucht ja nur die Verjährungsfrist abzuwarten. Haben Sie denn ein Argument für die Großschreibung, das unsere Schüler mit ihrer noch wenig geschulten Zunge in die Welt hinausposaunen können?
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