zu Orthographie
Orthographie (griech.) oder Rechtschreibung heißt der Inbegriff der allgemeinen und besondern Regeln, durch welche die richtige Schreibung der einzelnen Wörter in einer Sprache bestimmt wird. Fast alle neuern abendländ. Sprachen werden mit einer ihnen ursprünglich fremden Schrift geschrieben, die schon zu der Zeit, als diese zuerst auf die schriftliche Darstellung der Sprache angewendet wurde, nicht alle Laute derselben genau wiedergab, weshalb schon damals gewisse Laute und Worte von Verschiedenen verschieden geschrieben wurden. Hatte sich auch nun im Verlaufe der Zeit mit der Entwickelung der Literatur unter dem Einfluß eines richtigen Sprachgefühls, besonders aber der Grammatik und des Unterrichts ein gewisser Gebrauch herausgebildet und die Orthographie, wie z. B. des Lateinischen zur röm. Kaiserzeit, des Althochdeutschen durch Notker, des Mittelhochdeutschen in der zweiten Hälfte des 12. und der ersten des 13. Jahrh., eine gewisse Festigkeit gewonnen, so blieben doch in der lebendigen Sprache noch große Verschiedenheiten nach Ort (Dialekte) und nach Zeit (Sprachniedersetzungen); die Aussprache der Worte änderte sich im Laufe der Jahrhunderte, wie z.B. im Französischen und Englischen, während die Schreibung derselben im Allgemeinen sich erhielt und nur wenige Abänderungen erfuhr. So entstand der große Widerspruch zwischen Aussprache und Schreibung der Worte, besonders im Französischen und in noch höherm Grade im Englischen. In Deutschland riß seit Ende des 13. Jahrh., nachdem die feingebildete Hochsprache verfallen und die verschiedenen Mundarten wieder das Übergewicht erlangt, wie in der Sprache, so auch in der Rechtschreibung eine allgemeine Verwirrung ein, die zuletzt in eine vollkommene Zügellosigkeit ausartete. Erst Luther, der Schöpfer der neudeutschen Schriftsprache, ließ es sich in seinen Schriften mit Erfolg angelegen sein, auch die Orthographie auf Einfachheit, Sparsamkeit und Gesetzmäßigkeit zurückzuführen, doch vermochte er mit seinen Zeitgenossen und Nachfolgern nicht eine durchdringende feste Norm zu gewinnen. Daher gab sich schon seit dem 16. Jahrh. das Bemühen kund, die deutsche Schreibweise zu regeln. Bei dem Mangel an historischer Sprachkenntniß konnte jedoch das Unternehmen nicht gelingen; im Gegentheil wurden durch die verschiedenen tonangebenden Grammatiker einestheils erst manche von Grund aus irrthümliche Schreibweisen (wie z. B. der Gebrauch des h als Dehnungszeichen, namentlich hinter t) zu allgemeiner Anerkennung gebracht, anderntheils wurden Verschiedenheiten hervorgerufen und scheinbar begründet (z. B. deutsch und teutsch), über welche jetzt nur schwer eine Einigung getroffen werden kann. Das so entstandene Unsichere und Schwankende unserer deutschen Rechtschreibung, verbunden mit dem Beispiel anderer Nationen, welche für die Orthographie ihrer Schriftsprache durch Akademien (wie Frankreich, Spanien, Italien, Dänemark, Schweden, Rußland) oder durch officielle Annahme eines bestimmten Systems (Niederlande) eine feste Norm gewonnen haben, hat seit Ende des vorigen Jahrhunderts vielfach Veranlassung geboten zu Versuchen, die neuhochdeutsche Rechtschreibung trotz der tyrannischen Gewalt der Gewohnheit ebenfalls auf einen Normalzustand zurückzuführen. Adelung (Vollständige Anweisung zur deutschen Orthographie, 2 Bde., Lpz. 1788; 3. Aufl., 1812) stellte den bekannten Satz auf: Schreibe wie du sprichst, welchen Spätere auf Schreibe wie du richtig sprichst modificirten. Das Vage und Unsichere desselben einsehend, suchten Heyse (s. d.) und Becker (s. d.) namentlich den Grundsatz geltend zu machen, daß man schreiben müsse, wie es die Abstammung des Worts verlange, wo diese aber nicht deutlich sei, solle man sich nach dem herrschenden Sprachgebrauche seiner Zeit richten. Diesen Ansichten gegenüber hat sich seit dem Auftreten J. Grimms in neuester Zeit, abgesehen von einer großen Anzahl Unberufener und zur Entscheidung solcher Fragen Unfähiger, eine andere Gruppe erhoben, welche, der historischen Schule der deutschen Sprachforschung angehörig, auf die altdeutsche Schreibung zurückgeht und dieselbe in größerer oder geringerer Ausdehnung auf das Neuhochdeutsche anwenden will. Dieselbe dringt auf die Entfernung der großen Buchstaben, Auswerfung aller Dehnungszeichen (wie e und h) u. s. w. Mit mehr Mäßigung verfährt Weinhold in seiner Schrift "Über deutsche Rechtschreibung (Wien 1851), welcher eine Orthographie aufstellt, die zwar auf den alten Grundsätzen unserer Sprache ruht, aber zugleich die Fortentwickelung der letztern treu berücksichtigt. Seine Ansichten, obgleich sie für uns, die wir unter dem Einflusse des Herkommens und der Gewohnheit stehen, vieles Harte und Ungewöhnliche bieten, haben namentlich in Östreich vielen Anklang gefunden und sind hier z. B. durch Vernaleken bereits in mehre officiell anerkannte Schulbücher eingeführt worden.
(Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversationslexikon. Zehnte, verbesserte und vermehrte Auflage. In Funfzehn Bänden. Elfter Band. N bis Perth. Leipzig: F. A. Brockhaus. 1853. S. 463f.)
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Dr. Wolfgang Scheuermann
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