Gedanken zur s-Schreibung
Wir haben heute, bedingt durch die sogenannte Rechtschreibreform, im deutschen Sprachraum zwei konkurrierende s-Schreibungen.
Die eine ist lesefreundlich, logisch und leicht zu handhaben. Die andere – seit 1996 „reformierte“ – führt zwar zu Leseerschwernissen, ist aber ebenfalls logisch – auf der Basis der ersteren. Was heißt das? Es bedeutet, daß zur sicheren Handhabung der neuen s-Schreibung die Kenntnis der herkömmlichen Schreibregeln Voraussetzung ist. Ohne ihre Beherrschung müssen die sehr zahlreichen Abweichungen von der Regelschreibung gelernt werden. Andernfalls verleiten die neuen Regeln (ss nach kurzem, ß nach langem Vokal) in unzähligen Fällen zu orthographischen Fehlern.
Es läßt sich beobachten, daß die Fehlerquote proportional zur Dauer seit Einführung der neuen s-Schreibung ansteigt, und zwar nicht nur bei Schülern, sondern auch bei erwachsenen Schreibern. Das gibt den Kritikern der ersten Stunde nachträglich recht, die bereits 1996 vor den Folgen der neuen s-Schreibung warnten: Die neuen Regeln seien zwar logisch, aber nicht praxistauglich. (In der Tat ist die Heysesche s-Schreibung, wie sie genannt wird, nichts Neues. Sie wurde bereits einmal nach einer Probezeit von der Schreibgemeinschaft als nichtbewährt verworfen, und zwar im 19. Jahrhundert in Österreich.)
Es liegt in der Natur des Menschen, daß er sich auch bei Fehlentscheidungen nur zögerlich zur Umkehr bewegen läßt. Also werden wir noch etwas auf Einsicht warten müssen. Doch diese wird kommen, da mögen die Apologeten der Heyseschen s-Schreibung diese noch so in den Himmel loben. Derweil sprießen überall im privaten und öffentlichen Schriftgut Fehler, die ohne Reform niemals auch nur denkbar gewesen wären. Und was das Schönreden betrifft: Worte sind Worte nur, da mögen sie sich noch so aufplustern und mit der ganzen Wucht einer dahinterstehenden Pseudowissenschaftlichkeit glänzen: Die Realität läßt sich durch Reden nicht ändern.
Wie Herr Ickler, so bin auch ich der Meinung, daß man fürs erste beide Schreibweisen für den s-Laut nebeneinander bestehen lassen solle, ohne die eine oder die andere zu verbieten. Wir dürfen uns darauf verlassen, daß die meisten Schreiber mit der Zeit freiwillig zurückkehren werden zur einfacheren, leichter anwendbaren und vor allem lesefreundlicheren Adelungschen s-Schreibung, wie sie sich seit Jahrhunderten bewährt hat. Wem es ein Anliegen ist, seine Leser mit augenfreundlichen Texten zu bedienen, wird nicht lange nachdenken müssen, für welche s-Schreibung er sich entscheidet!
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Karin Pfeiffer-Stolz
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