Fehlervermeidung war ein Ziel
(... und jede Politiker-Verlautbarung dazu war eine Lüge.)
1995
Die Fehlervermeidung durch die vereinfachten, angeblich erleichternden Regeln der Rechtschreibreform stand immer obenan auf der Liste der Erfolgsversprechungen der Kultusminister und ihrer Helfershelfer. Triebfeder aber waren im Hintergrund handfeste ideologische und wirtschaftliche Interessen, die keineswegs dem Gemeinwohlbelang verpflichtet waren.
Auf ihrer Konferenz vom 25. bis 27. Oktober 1995 hatten die Ministerpräsidenten den Kultusministern vier Bedingungen genannt, unter denen sie einer Neuregelung (nicht etwa einer Reform) der Rechtschreibung zustimmen würden: 1. Die Neuregelung solle der „Erleichterung des Schreibens und Erlernens des richtigen Schreibens“ dienen. 2. Sie müsse sich „auf das Notwendige beschränken und eine behutsame Weiterentwicklung der Rechtschreibung gewährleisten“. 3. Vor der Neuregelung bedürfe es einer „umfassenden Beteiligung der Öffentlichkeit“. 4. Eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit sei vonnöten, „um die Akzeptanz der Änderungen sicherzustellen“. Die Kultusminister haben keine dieser vier Bedingungen erfüllt. (FAZ v. 5.9.2000)
Die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) erklärte, man habe sich 'bis in die tiefsten Details' mit der Reform beschäftigt und sei zu dem Ergebnis gekommen, 'daß wir dem so nicht zustimmen können'. (SZ 28.10.1995)
Beim nächsten Treffen gelang aber der 32köpfigen Laienspieltruppe der angebliche Durchbruch:
Immerhin hat eine veritable Ministerpräsidentin, Frau Heide Simonis aus Schleswig-Holstein, nach getaner Arbeit die Öffentlichkeit wissen lassen: „Die Neuerungen dienen jetzt wirklich der Erleichterung. (Die WELT, 16.12.1995)
(Wohlgemerkt, es geht um die minderwertigste Urfassung der „Reform“!)
Ab 1996
Gisela Böhrk, schleswig-holsteinische Kultusministerin (im Progagandamaterial des AOL-Verlages):
„Die neuen Regeln erleichtern das Erlernen der Sprache. Erste Tests haben gezeigt, dass die Fehlerquote sinkt. Endlich wird in allen deutschsprachigen Ländern nach denselben Regeln geschrieben. Was soll daran schlecht sein?“ *)!
Ingrid Stahmer, Kultursenatorin von Berlin (im Progagandamaterial des AOL-Verlages):
„An der Rechtschreibreform schätze ich besonders, dass sie für Schülerinnen und Schüler eine Erleichterung im Umgang mit der geschriebenen Sprache. (...) Die neuen Schreibweisen sind logisch und systematisch.“
Hartmut Holzapfel, hessischer Kultusminister (im Progagandamaterial des AOL-Verlages):
„Die Rechtschreibreform bringt eine Reihe von Neuerungen, die allesamt überschaubar sind und insgesamt das Schreiben erleichtert.“
Rolf Wernstedt, niedersächsischer Kultusminister (im Progagandamaterial des AOL-Verlages):
„Eine maßvolle Vereinfachung der Regeln, die vor allem den Schülern zugute kommt.“
Theodor Ickler hörte: „Durch die Rechtschreibreform sind wir 90 Prozent unserer Rechtschreibfehler los. (KMK-Präsident Wernstedt, im Rundfunk-Interview gehört, fast wörtlich zitiert, die Zahl hat er auf jeden Fall genannt!) (Mitteilung am 5.12.02).
Heide Kuhlmann notiert in „Orthographie und Politik / Zur Genese eines irrationalen Diskurses“ Wernstedts „Auffassung, daß mit der Reform das Herrschaftsinstrument Orthographie, mit dem wirklich Bedrückung betrieben werden kann, abgebaut werde …“.
Dies ist das Vokabular des ideologischen Kulturkampfes. Tatsächlich ist die „Rechtschreibreform“ selbst zu einem Mittel der obrigkeitlichen Bedrückung geworden.
Gabriele Behler, Kultusministerin von Nordrhein-Westfalen (im Progagandamaterial des AOL-Verlages):
„Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist beschlossene Sache, eine Erleichterung für die Lernenden, keinerlei Grund für Aufgeregtheiten.“
Henner Wittling, saarländischer Kultusminister (im Progagandamaterial des AOL-Verlages):
„Nach meiner Auffassung überwiegen die Vorteile der Rechtschreibreform. Viele Ausnahmen und Sonderregelungen, die das Schreiben und Schreibenlernen erschwerten, sind verschwunden. Schülerinnen und Schüler machen außerdem die spannende Erfahrung, daß ihre Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam mit ihnen lernen.“
Gerburg Böhrs, Referentin im Kieler Bildungsministerium, im Evangelischen Pressedienst (edp):
„Wer das Schamgefühl, aber auch die Hilflosigkeit von Analphabetinnen und Analphabeten erlebt hat, wird jede noch so kleine Erleichterung begrüßen.“
1997
Kultusminister Hans Zehetmair behauptet, die Reform sei ein voller Erfolg, es gebe 40 Prozent weniger Fehler im Diktat, und im übrigen seien 60 Prozent der Schüler für die Reform (vgl. Rita Baedeker über die Podiumsdiskussion der SZ zur Rechtschreibreform „Deutschland zum Diktat!“ am 05.02.1997 in München. In: SZ 08.02.97, S. 13).
Protokoll der Sitzung des Schleswig-Holsteinischen Landtags am 21.2.1997. Es ging um die vorzeitig betriebene Einführung der „Rechtschreibreform“ durch Erlaß der damaligen Bildungsministerin Böhrk.
Sabine Schröder , SPD [am 21.2.1997 im Kieler Landtag]:
Auch die Uni Kiel und Untersuchungen in NRW haben gezeigt, daß nach den neuen Regeln bis zu 50 % weniger Fehler gemacht werden.
(Lebhafter Beifall des Abgeordneten Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
[Karl-Martin Hentschel verbreitet noch mindestens weitere 8 Jahre das Weniger-Fehler-Märchen, siehe unter 2004. Die genannten „Untersuchungen“ aber wurden kritischen Blicken vorenthalten.]
[Der ehemalige Reformer Prof. Dr. Eisenberg konstatierte jedoch in der „Welt“ vom 26. 2. 98: „Unter unabhängigen Didaktikern und Praktikern besteht Konsens, daß die Zahl der Rechtschreibfehler nicht abnehmen wird. Von besserer Lehrbarkeit der Neuregelung kann insgesamt keine Rede sein.“]
1998
Bundesverfassungsgericht:
Nach den Eindrücken, die der Senat in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, besteht kein Anlaß, die von der Einschätzungsprärogative des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur getragene Prognose in Frage zu stellen, auf der Grundlage der neuen Rechtschreibregeln lasse sich das richtige Schreiben der deutschen Sprache leichter erlernen. (Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 14.7.1998)
Dazu ein Kommentar in den Lübecker Nachrichten, (ca. 15.7.98) von einem Herrn Dieter Swatek abgefaßt, der als „Diplom-Volkswirt, Staatssekretär im Ministerium für Bildung …“ vorgestellt wurde: „Im Sinne der Kinder – Karlsruhe hat sich mit seinem Urteil eindeutig auf die Seite der Kinder gestellt. Sie sind die Gewinner des gestrigen Tages. Nicht nur, daß den jetzigen Schülerinnen und Schülern das Umlernen erspart wird, auch künftige Schülergenerationen werden es nun leichter haben, die deutsche Rechtschreibung zu erlernen. Sie müssen statt der 212 Schreibregeln 112 und von jetzt 52 Kommaregeln nur noch 9 anwenden….“
ca. 1998
Annette Schavan, damals Kultusministerin in Baden-Württemberg, im Progagandamaterial des AOL-Verlages: „Die Rechtschreibreform wird die Beliebtheit von Rechtschreibregeln nicht erhöhen, sie wird aber die Beherrschung der Regeln erleichtern.
1999
Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Prof. Dr. Kauffold, vor dem Schweriner Landtag am 16.9.1999:
„... An den Schulen des Landes wird zur Zeit überall an der Verwirklichung der Neuregelung mit Interesse und Engagement gearbeitet. Zwischenzeitlich hat sich auch herausgestellt, daß Schülerinnen und Schüler, die bereits das vierte Jahr die neuen Schreibungen als Selbstverständlichkeit anwenden, weniger Fehler machen, als vor der Reform festgestellt werden konnten. Das wäre also ein positives Ergebnis. Ich hoffe, das stimmt auch so...
In der Presse wurde daraufhin verbreitet, daß neue Untersuchungen bewiesen, daß Schüler weniger Fehler machen.
In Unkenntnis der Aussagen des Ministers schrieb am 29. November 1999 das Ministerium (Frau Dr. Christiane Noeske) an den Vertreter der Bürgerinitiative S-H, S. Salzburg: „Empirische Studien über erste Ergebnisse liegen jedoch in Mecklenburg-Vorpommern, entgegen der von Ihnen zitierten Pressemeldung, noch nicht vor. Hier wären zurzeit vorschnelle Untersuchungen und Verallgemeinerungen fehl am Platz.
Eine Bitte um Zusendung oder Quellenangabe der von Kauffold genannten Untersuchung blieb natürlich unbeantwortet.
1999
Professor Dieter Nerius, Mitglied der Reformkommission, führte in einer Stellungnahme vor einem Parlamentsausschuß des Schweriner Landtages am 6.10.99 aus:
„Das Ziel der Neuregelung besteht darin, durch einzelne inhaltliche Änderungen die Systemhaftigkeit unserer Rechtschreibung und den Generalisierungsgrad ihrer Regeln zu erhöhen, und zwar mittels Reduzierung von Ausnahmen und Sonderfällen, die sich im Laufe der Entwicklung ergeben haben. Damit wird die Erlernung und Beherrschung der Orthographie in gewissen Umfang erleichtert, ohne dass die Kontinuität der Schrifttradition beeinträchtigt würde…. Bei objektiver Bewertung und ohne vorgefassten Unwillen erweist es sich, dass die eingeführte Neuregelung durchaus einen deutlichen Schritt in Richtung auf Systematisierung und Vereinfachung der Orthographie darstellt, der vor allem für die Schule erhebliche Vorteile bringt.
SPIEGEL-GESPRÄCH 2004:
SPIEGEL: Der Leipziger Pädagogikprofessor Harald Marx hat 1200 Diktate in alter und neuer Rechtschreibung verglichen und festgestellt, dass heute wesentlich mehr Fehler gemacht werden.
[Kultusministerin Doris] Ahnen: Es gibt meines Wissens in Österreich eine Studie, die genau das Gegenteil belegt. (Spiegel Nr. 48, 22.11.04)
Dazu ein Kommentar von Theodor Ickler:
Diese „Studie“ hat Professor Jörg Baumberger in der Neuen Zürcher Zeitung vom 28.9.2004 in ihrer ganzen Lächerlichkeit entlarvt: „'13 Prozent weniger Fehler dank der Reform' Wenn Bildungsforschung politische Karriere macht“. Hier ein Auszug:
Während eine stattliche Zahl reiner Meinungsbefragungen besteht, scheint nur eine quantitative empirische Studie zu existieren: Sie wurde 1996/97 am Wiener Gymnasium Sacré Cœur mit 27 Schülerinnen im Alter von 15 bis 16 Jahren durchgeführt.[…] Man muss nicht achtzig Millionen Deutschsprechende testen, aber ein Pool mit 12 Alt- und 15 Neuschreiberinnen, welche zudem erst ex post ihren Gruppen zugeteilt werden, wirft sehr wohl methodologische Fragen auf. (Ausführlicheres Zitat unter Ahnen-Interview)
2004
Karl-Martin Hentschel, Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen im Kieler Landtag, in einer E-Mail an Sigmar Salzburg, wiederholte das längst wissenschaftlich widerlegte Weniger-Fehler-Märchen:
[... ohne Anrede]
… Nun ist die Übergangszeit abgelaufen irgendwann muss man dann auch Entscheidungen akzeptieren. Tut mir leid wir haben wirklich wichtigere Probleme.
Im Übrigen bin ich sicher, dass ihr Sohn nach der neuen Rechtschreibung erheblich weniger Fehler macht, als nach der alten!
Gruß
Karl-Martin Hentschel
Der einzige, der bis 2004 die Folgen der „Reform“ empirisch wissenschaftlich seriös untersucht hat, ist Prof. Harald Marx. Er sagte in einem Interview mit dem Rheinischen Merkur am 28.1.2004:
„Ich stellte fest, dass die Kinder etwa bei der ß-Schreibung 2001 genauso gut oder schlecht waren wie 1996. Die Annahme, durch die Reform werde die ß-Schreibung vereinfacht, ist also infrage zu stellen. Bedenklich ist, dass bei Wörtern mit s-Laut, deren Schreibung nicht verändert wurde, jetzt häufiger als 1996 Fehler auftreten. Viele schreiben ‚Floss’ und meinen ‚Floß’….“
Also hat die Reform ihr Ziel, das Schreiben zu erleichtern, verfehlt?
„Ja…“
Rückblick 2005
„Als die Kleinschreibung vom Tisch war, bei der ja die meisten Diktatfehler gemacht werden, wollten viele von uns aufgeben, erinnert sich Augst. „Aber ich dachte, es muss doch zumindest einmal versucht werden. …“
(Reformer Gerhard Augst in SPIEGEL 30/2005)
Die neue Untersuchung von Dr. Uwe Grund soll unter anderem damit abgewertet werden, daß behauptet wird, nicht die Fehlervermeidung sei das Ziel der „Reform“ gewesen, sondern die leichtere Erlernbarkeit der Regeln. Aber wozu soll die dienen – wenn nicht dem richtigeren Schreiben?
Nachtrag: Die Untersuchung von Uwe Grund wurde in weiteren acht Jahren erheblich ausgeweitet und 2016 als Studie veröffentlicht, siehe hier.
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