Die Zeit
19.08.2004 Nr.35
orthografie
Wettbewerb der Besserwisser
Die neue Rechtschreibung ist kein finsteres Bürokratenwerk und vergewaltigt nicht die deutsche Sprache. In Wirklichkeit vereinfacht sie die Orthografie an den Schulen. Verbesserungen bleiben immer möglich
Von Dieter E. Zimmer
Es war ein Overkill. Die Medienkampagne, zu der sich Springer und Spiegel in einer wunderlichen Allianz zusammengefunden haben, mit der Frankfurter Allgemeinen vorweg und der Süddeutschen halbherzig hinterdrein, dürfte die Ministerpräsidenten, denen sie Druck machen soll, mehr bedrücken als beeindrucken. Was, wenn es das nächste Mal nicht gegen ein so geduldiges Objekt wie die Schreibregelung geht, die die große Mehrheit des Volkes nicht die Bohne interessiert, sondern all diese konzertierte Desinformation und Stimmungsmache den Euro oder Hartz X zu Fall bringen soll?
Darum dürfte nicht die Rechtschreibreform gescheitert sein, wie ihre erbitterten Feinde seit Jahren behaupten, sondern die Konterreform. Nur ein einstimmiger Beschluss aller 16 Ministerpräsidenten könnte sie rückgängig machen. Diese Einstimmigkeit aber wird es nicht geben, weil dem einen oder anderen rechtzeitig klar sein dürfte, dass mit dem bloßen Beschluss noch wenig getan wäre und eine demokratisch zustande gekommene Reform sich nicht durch landesherrliche Dekrete wegpusten lässt, selbst durch eine Volksabstimmung nicht. Beides könnte nur Anstoß zu einem geordneten Rückbau sein. Der aber wäre ein langwieriger Prozess, und an jedem Knotenpunkt würde man sich fragen, wie viel Sinn ein vollständiger Abriss denn eigentlich noch hätte.
Desinformation und Stimmungsmache. Unter gnadenloser Aussparung jeder gegenteiligen Meinung operiert die Medienkampagne unisono mit drei Argumenten. Eins: Die Reform wurde dem Volk von Bürokraten oktroyiert. Zwei: 2005 soll sie für jedermann Pflicht werden. Drei: Es herrschen Verwirrung und Chaos. Als furchterregende Exempel für das, was dem Volk droht, dienen jedes Mal ein paar zufällige Wörter, deren Schreibung nicht gefällt; oft sind diese warnenden Beispiele falsch.
In ein paar Zeilen konzentriert, war diese Argumentation in dem Artikel zu besichtigen, mit dem die einflussreichste Gralshüterin der deutschen Sprache den Auftakt zu der Kampagne gab, Bild: »Schlechtschreibreform ›Das habt ihr dem Volk aufgezwungen‹ – ›Fassette‹ statt ›Facette‹! ›Delfin‹ statt ›Delphin‹? Ab nächstem Jahr soll die neue deutsche Rechtschreibung Pflicht werden … De facto schreibt nun jeder, wie er will.« Indessen, Delphin und Facette durfte und darf weiterhin jeder schreiben; die eingedeutschten Schreibungen sind lediglich fakultative Varianten.
Bürokratenwillkür. Die seit fünfzig Jahren auf der Agenda stehende Reform ist in endlosen internationalen Gremiensitzungen – viel zu vielen – und Anhörungen jahrelang beraten und dabei modifiziert worden, jahrelang konnte sie öffentlich diskutiert werden, und am Ende haben Bund und Länder sowie alle neun betroffenen Staaten ihr einhellig zugestimmt. Obendrein hat dann noch das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass die Art der Einführung (durch Verordnungen der Landesschulbehörden statt durch Gesetze) rechtens war. Dass die Fundamentalopposition, erst ein Jahr nachdem die Entscheidungen gefallen waren, aufgewacht ist, macht den ganzen Prozess nicht undemokratisch.
»Die Politik«, »die Bürokratie« hätte »die Sprache« vergewaltigt, die »dem Volk« gehört? Um »die Sprache« geht es sowieso nicht. Wer die Rechtschreibung mit der Sprache verwechselt, hat einen allzu armseligen Begriff von dieser. Dass die Reform »die Sprache konsequent ihrer Ausdrucksmöglichkeiten beraube«, ist eine Wahnidee, von deren Haltlosigkeit sich jeder Leser in drei Minuten überzeugen könnte. Es ging nicht um die Sprache, sondern um eine minimale, die Lesbarkeit nicht beeinträchtigende Veränderung der Schreibweise für einige tausend Wörter unter Hunderttausenden. Die Änderungsquote lag zwischen zwei und drei Prozent (die unzähligen zusätzlichen Trennfugen, die die unbedachte Neuregelung der Worttrennung mit sich brachte – I|gel, In|s|t|ru|ment –, nicht mitgezählt).
Bis heute hat sich nicht herumgesprochen, nicht einmal zu allen Ministerpräsidenten, dass der Staat dem Volk gar keine Orthografie verordnen kann. Es handelt sich bei der alten wie der neuen um nicht mehr und nicht weniger als die Schulorthografie. Sie gilt nur für Schüler und Lehrer und die staatlichen Behörden. Am 1. August 2005 soll nur die siebenjährige Übergangsphase enden, in der in den Schulen Alt und Neu nebeneinander gegolten haben. Im Übrigen konnte und kann jeder schreiben, wie ihm beliebt. Die heroische Widerstandspose der Konterreformer ist darum gratis. Sie dürfen ja, durften immer, werden immer dürfen. Jeder Verlag kann abwägen, ob er den orthografischen Vorlieben seiner jetzigen oder seiner künftigen Leser und Autoren entgegenkommen will. Nur dadurch, dass die allgemeinen Rechtschreibwörterbücher der Schulorthografie folgen müssen, um an den Schulen zugelassen zu werden, breitet sich diese in die Allgemeinheit aus.
Verwirrung und Chaos. Verwirrung besteht tatsächlich, und die Kippkampagne hat sie selber geschürt, indem sie in Aussicht stellte, demnächst würden wieder die »klassischen« Schreibweisen gelten – sodass sich die Leute nun fragen, ob sie sich den neuen Duden überhaupt noch kaufen sollen. Ein Chaos jedoch herrscht keineswegs. Es besteht lediglich ein Nebeneinander von zwei geringfügig verschiedenen Orthografien. In einem Kino, das zwei klar bezeichnete Ausgänge hat, herrscht aber nicht mehr Chaos als in einem mit nur einer Tür nach draußen.
Dass beide Orthografien lange koexistieren würden, mindestens eine Generation lang, war sehr wohl vorauszusehen. Es war nie zu erwarten, dass die Allgemeinheit die einmal, mühsam genug, in der Schule erlernten Schreibweisen verlernen würde. Es war nicht einmal zu wünschen, denn in Rechtschreibdingen ist der Mensch mit Grund stockkonservativ. Ohne sein Bedürfnis, den eingeschliffenen, sich automatisch einstellenden Wortbildern treu zu bleiben, gäbe es gar keine stabilen Schreibweisen. Da überdies das Hauptfundament der Schriftkultur nach wie vor nicht die ephemere Presse ist, sondern das Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte überdauernde Buch, ist das unbefristete Fortleben der Orthografie, in der von 1901 bis 1998 sämtliche Bücher gedruckt wurden, sogar ein dringendes Desiderat. (Dass Hitler 1941 mit einem Schlag sämtliche Frakturschriften abschaffte, hat schließlich dazu geführt, dass die meisten älteren deutschen Bücher heute vielen buchstäblich unlesbar erscheinen.)
Die Reformer haben das faktische Nebeneinander zweier Orthografien nicht oder jedenfalls nicht deutlich genug vorausgesehen, den Erfolg der Reform unnötigerweise an deren sofortige Akzeptanz in der außerschulischen Öffentlichkeit gekoppelt und sich damit die heutigen Schwierigkeiten zum Teil selbst eingebrockt. Welche Orthografie sich in der Öffentlichkeit schließlich durchsetzt, entzieht sich der Regelungskompetenz des Staates. Es entscheidet sich sozusagen am Markt. Wenn jene, die heute allein die Reformschreibung lernen, aus der Schule ins Leben hinauswachsen, wo teilweise anders geschrieben wird, werden sie (sofern es dann überhaupt noch jemandem auf rechte Schreibung ankommen sollte) ihre eigene dorthin mitnehmen, und dann treten beide in unmittelbare freie Konkurrenz. Wird die neue dann als »kindisch« angesehen, siegt die alte; gilt die alte als »altmodisch«, siegt die neue. Sonst mischen sich beide.
Aber ist es nicht schlimm, dieses Nebeneinander zweier Orthografien? Werden die Kinder nicht an der Schulorthografie irre, wenn sie außerhalb der Schule Dinge lesen müssen, die ihr nicht ganz entsprechen? Muss man sie nicht aufs sorgfältigste abschirmen gegen diese Unbill? Ach, die Kids wissen schon, dass im Leben manches unübersichtlicher ist als in der Schule. Von morgens bis abends müssen sie draußen im Leben noch ganz anderes lesen. Überall auf den Straßen stehen Sachen, die weder der neue noch der alte Duden erlaubt. Wer sich die Mühe macht, im Internet nachzuforschen, wie »das Volk« tatsächlich schreibt, wenn ihm dabei niemand auf die Finger sieht, dem werden die Augen übergehen. Wir ziselieren verbissen an der Orthografie von 1901 herum, zerraufen uns die Haare, ob man Delphin vielleicht auch Delfin schreiben kann, und draußen im Leben schreiben sie ihn Dälfihn oder dell Fien, wie es gerade kommt, weil dort schon vor der Reform das Bewusstsein verloren zu gehen begann, dass es überhaupt eine Orthografie gibt und man sich an sie halten sollte. Abhanden aber kommt es nicht wegen irgendeiner Rechtschreibreform, sondern weil die Leute aus der Schrift- in die Bildkultur abwandern und immer weniger, immer unwilliger, immer unaufmerksamer lesen. Um die weitere Ausbreitung der Schreibschwäche zu stoppen, müsste diese Leseschwäche überwunden werden, sonst sind alle Orthografien perdu.
Falls die Ministerpräsidenten nicht die Rücknahme der Reform verfügen, aber dem Sperrfeuer von Bild, FAZ und Spiegel das Ziel nehmen möchten, könnten sie – wahrscheinlich ohne lange internationale Entscheidungsprozesse – sogar etwas Schreckliches tun, was aber auf den zweiten Blick viel von seinem Schrecken verlöre: Sie könnten die Übergangsphase über 2005 hinaus unbefristet verlängern. Es hätte zur Folge, dass die Lehrer alte Schreibweisen wie in den acht Jahren zuvor nicht als Fehler anstreichen müssten. Damit wäre offiziell anerkannt, was sowieso der Fall ist: dass zwei Orthografien nebeneinander existieren, und die alte taugte nicht mehr zur politischen Protestschreibung gegen staatlichen Übermut.
Rückbau. Hinter dem Irrtum, dass sich die Reform mit einem »mutigen Sprung« aus der Welt schaffen ließe, scheint die Vorstellung zu stehen, die vor der Reform gültige Rechtschreibung sei irgendwie »natürlich«, von allein aus dem Volk hervorgewachsen oder von seinen Dichtern und Denkern vom Himmel herabgebetet worden. In Wahrheit war die alte Schulorthografie reines Bürokratenwerk, 1901 von einem kleinen Expertengremium innerhalb von drei Tagen beschlossen und diskussionslos angeordnet, und sie war darum nicht schlecht. Die Wörterbücher, die das damals beschlossene Regelwerk sichtbar und zum allgemeinen Maßstab machten, lieferte Konrad Duden nach, und seitdem ruhte die Kompetenz für die »Ausdifferenzierung« der Regeln – also für die Schreibung neu aufzunehmender Wörter – bei dessen Verlag. Die alte Rechtschreibung galt also nicht von ungefähr, sie hatte eine Rechtsgrundlage.
Die Reform von 1998 hat diese durch eine neue abgelöst. Die Rechtschreibreform »kippen« hieße: entweder die neue Rechtsgrundlage für ungültig erklären – dann gäbe es gar keine Schulorthografie mehr. Oder: zum Status quo ante zurückkehren – dann müsste wieder der Dudenverlag die Regeln von 1901 weiter »ausdifferenzieren«. Das aber wäre nicht nur wenig demokratisch, sondern auch aus anderen Gründen misslich. Die alte Rechtsgrundlage nämlich war eine provisorische Notlösung in Erwartung einer Neuregelung, 1955 von den Kultusministern verfügt, weil die Einheitsschreibung damals akut bedroht schien: Es gab zwei Dudenverlage, einen in Mannheim und einen in Leipzig, die das zugrunde liegende Regelwerk jederzeit verschieden interpretieren konnten; und andere westdeutsche Verlage hatten begonnen, es tatsächlich anders zu interpretieren.
Diese unterschiedliche Ausdifferenzierung war fast unvermeidlich, weil das Regelwerk von 1901 für die allerschwierigsten Gebiete (Fremdwortschreibung, Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung) überhaupt keine ausreichenden Regeln enthielt. Hier hatte seine Anwendung mit den Jahrzehnten denn auch zu den zahlreichen Absurditäten der »bewährten«, der »klassischen« Rechtschreibung geführt, deren Tücken heute wie vergessen scheinen. Es war also dringend erneuerungsbedürftig. Darum wurde damals eine Neuregelung in Aussicht gestellt, zu der sich dann aber 40 Jahre lang niemand aufraffen mochte. Heute zu dem schon vor einem halben Jahrhundert ungenügenden Regelwerk von 1901 zurückzukehren wäre ein Schildbürgerstreich, den man der Kultusbürokratie denn doch nicht zutrauen sollte. Aber ein ganz anderes, ein drittes Regelwerk anzustreben, das beider Schwächen vermiede, eröffnete die ganze Reformdebatte aufs Neue. In der Zwischenzeit – Jahre? Jahrzehnte? – gäbe es entweder gar keine Schulorthografie mehr, oder es gälte weiter die neue, aber wieder nur auf Abruf, als versteinerndes Provisorium.
Nach einem Rücknahmebeschluss müsste also zunächst eine neue Rechtsgrundlage geschaffen und juristisch abgesichert werden, ein Projekt wie ein neuer Großflughafen. Gleichzeitig müssten neun internationale Abmachungen rüde gebrochen oder zurückverhandelt werden. Dann müssten die gedruckten Schulbücher makuliert und durch neue ersetzt werden – geschätzte Kosten 190 Millionen Euro für die unbrauchbar gewordenen Lagerbestände, 60Millionen für die Umstellung –, und jemand müsste das bezahlen, entweder die Länder (also ihre Steuerzahler) oder die Eltern (durch höhere Preise). Dann müssten die zwölf Jahrgänge, die bei der Rückumstellung noch in der Schule ertappt werden, neuen Rechtschreibunterricht erhalten. Und dann würde die Fundamentalopposition vielleicht applaudieren, aber sie wäre inzwischen stark gealtert, und ihr Applaus verhallte womöglich ohne Echo.
Die neue Rechtschreibung hat einige große Schwächen. Sie wurden von Freund und Feind rechtzeitig erkannt, aber nicht behoben, weil sich Reformer und Gegenreformer gegenseitig blockierten. Da keine Seite das Gesicht verlieren wollte, arteten Kritik und ihre Abwehr zu einem Wettbewerb der Besserwisser und Rechthaber aus, in den sich die Kultusbürokratie – darin besteht ihr Versagen – inhaltlich nicht einmischen mochte oder konnte. Nach fünf Jahren Praxis liegen die Schwächen heute noch klarer zutage. Sie liegen in den alten Unsicherheitszonen Fremdwort, groß/klein, getrennt/zusammen, in denen sich ständig verschiedene Logiken gegenseitig durchkreuzen, sodass es wirklich befriedigende – jedem intuitiv einleuchtende – Lösungen gar nicht geben kann. Hier bestanden schon früher die größten Unsicherheiten, hier bestehen sie immer noch. Ist das voraus von im Voraus ein Substantiv und muss darum groß geschrieben werden? Das nachhinein von im Nachhinein? Wie steht es mit von neuem und aufs Neue? Mit dem leid in leid tun, dem not in not tun, dem feind in feind sein, die die Reform irrtümlich zu Substantiven ernannt hat, während es doch alte Adjektive sind? Hier hat die Reform nichts erleichtert, sondern nur bekräftigt, dass man Deutsch nur richtig schreiben kann, wenn man bei jedem Zweifel im Wörterbuch nachschlägt.
Die größte Schwäche der Reformschreibung aber besteht darin, dass sie an einigen Stellen tut, was keine Orthografie tun darf: jemanden zwingen, zu schreiben, was er gar nicht meint. Die Rede ist von der starken Vermehrung der Getrenntschreibung. Sie zerreißt Begriffe wie sogenannt, umweltschonend, vielversprechend, wohlverdient in ihre Bestandteile, die einzeln jedoch meist etwas anderes bedeuten, und scheint sie damit aus der Sprache zu tilgen – ein Unding.
Es gibt einen Korrekturvorschlag der Rechtschreibkommission, der von der Kultusministerkonferenz akzeptiert wurde und bis zum nächsten Jahr in die Wörterbücher eingearbeitet sein soll. In vielen Fällen erlaubt er neben den neuen Getrennt- und Großschreibungen auch wieder die alten Schreibweisen, lässt das Unentscheidbare also praktisch unentschieden. Damit verringert er de facto den Abstand zwischen Neu und Alt und durchlöchert die unhandhabbaren neuen Regeln weiter, aus denen die lebensfremden Groß- und Getrenntschreibungen hervorgingen, lässt sie jedoch als beständige Gefahrenquelle weiter bestehen.
Wer wirklich etwas für die Rechtschreibung tun will: Hier ist der Handlungsbedarf.
(c) DIE ZEIT 19.08.2004 Nr.35
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