Die Schweiz steigt aus der Rechtschreibreform aus
Deutsche Sprachwelt 9.5.2007
Allgemeine deutsch-schweizerische Presseagentur
Die Schweiz steigt aus der Rechtschreibreform aus
Die Schweizer Medien steigen weitgehend aus der Rechtschreibreform aus. Das hat die dritte Tagung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) gezeigt, die am 7. Mai in Zürich stattfand. Anwesend waren Vertreter der wichtigsten Schweizer Zeitungen und Presseagenturen (Teilnehmerliste siehe unten). Auffällig war, daß aus Deutschland zwar Teilnehmer von Sprachvereinen, Verlagen und weiteren Institutionen angereist waren, jedoch keine Teilnehmer von Zeitungen oder Presseagenturen.
Nationalrat Filippo Leutenegger (Medienarena) eröffnete die Konferenz und kam gleich zu den seit der letzten Reform der Rechtschreibereform weiterhin bestehenden eklatanten Mängeln. Einige Beispiele, die der Orthographie-Fachmann Stefan Stirnemann anführen werde, seien nicht nur anregend, sondern auch haarstäubend, kündigte er an. Wegen der zahlreichen verschiedenen Entscheidungsträger, welche es bei der Rechtschreibereform gebe, sei es „wichtig, daß nun alle an einem Tisch säßen“.
Anschließend übergab Leutenegger das Wort an Peter Zbinden, den Präsidenten des Sprachkreises Deutsch (SKD). Zbinden ließ zu Beginn seiner Rede ein Bild mit einem Papierkorb erscheinen, in dem ein neuer Rechtschreib-Duden lag. Inzwischen sei es der SOK gelungen, wie angekündigt Wörterlisten zu veröffentlichen, durch welche die größten Mißstände der Rechtschreibreform korrigiert werden könnten.
Stirnemann (ebenfalls Sprachkreis Deutsch, Schweiz) sagte in seinem darauffolgenden Vortrag, daß neue Widerstandsaktionen organisiert werden müßten, und an die Konferenzteilnehmer gerichtet: „Wir sind Spielleute, die versuchen, heillos verstimmte Instrumente zu stimmen, damit sie wieder zusammen spielen können.“
„Warum ist die SOK erst jetzt gegründet worden?“ frug Stirnemann und lieferte die Antwort gleich mit: Man mußte erst die Arbeit des Rechtschreibrates abwarten. Immer wieder sei versprochen worden, die Fehler und Mängel der Rechtschreibereform würden korrigiert. Noch 2005 sei der Ratsvorsitzende Hans Zehetmair vor die Presse getreten und hätte einige Änderungen und Anpassungen als große Korrektur verkaufen wollen. Er habe „der Öffentlichkeit vorgegaukelt, es wäre etwas verbessert worden, was gar nicht mehr zu verbessern war.“
Daß man die Wörter „Urinstinkt“ und „Sprecherziehung“ nicht mehr „Urin-stinkt“ und „Sprecher-ziehung“ trennen dürfe, sei nicht der angekündigte große Wurf gewesen, andere minimale Flickwerkereien auch nicht. Stirnemann führte aus, der Rechtschreiberat sei bloß eingerichtet worden, um die Öffentlichkeit etwas zu beruhigen: „Der eingesetzte Rat sollte der Öffentlichkeit vorgaukeln, die Probleme seien nun gelöst.“ Seine Rolle habe Zehetmair in Form eines heimeligen Landesvaters auch gut gespielt.
„Doch was haben wir jetzt?“ fragt Stirnemann: „Mehrere Wörterbücher mit unterschiedlichen Auslegungen und etliche sogenannte Hausorthographien. Die Rechtschreibung ist nicht mehr einheitlich.“ Anschließend erläuterte Stirnemann anhand zahlreicher Beispiele, man sei wieder in die Zeit zurückgefallen, bevor Konrad Duden eine einheitliche deutsche Rechtschreibung geschaffen hatte. Der Rechtschreibrat „habe es für gut befunden, Varianten zu häufen.“ Bei anderen neuen Schreibweisen handele es sich nicht bloß um Schreibweisen, sondern um Schreibweisen, die unterschiedliche Bedeutungen haben. So sei „handvoll“ nicht das gleiche wie „Hand voll“, „vielversprechend“ nicht gleich „viel versprechend“. Etliche Wörter, die einen Begriff darstellen, würden durch die willkürliche Getrenntschreibung nicht mehr als Begriff erfaßt werden.
Doch gerade dies sei ein ihr eigenes Merkmal der deutschen Sprache, eine Eigenart der deutschen Sprache, daß in ihr durch Zusammensetzung von Wörtern eigenständige Begriffe gebildet werden können. „Wie kommt man dazu, daß die Grundregel der Getrenntschreibung der Normalfall sein soll, wobei die deutsche Sprache von Zusammenschreibungen lebt?“ fragt Stirnemann und fügt hinzu, dies halte er für „den reinen Wahnsinn“.
Das Reformwerk „steht in Widerspruch zur Rechtschreibung und zur Entwicklung unserer Sprache. Es könne daher kein Regelwerk sein“ führte er weiter aus. Zur Eindeutschung von Fremdwörtern führte er aus: „Die Entwicklung der Eindeutschung von Wörtern ist frei nicht vorhersehbar. Man kann sie nicht regulieren.“
Dann kam Stirnemann auf die aufgrund des angeblichen „Wortstammprinzipes“ ausgetauschten Buchstaben zu sprechen und zeigte eindrücklich anhand etlicher Beispiele auf, daß es nicht sinnvoll sei, die Sprache ihrer Unterscheidungsmöglichkeiten zu berauben. „Die Reformer wollten solche Unterscheidungsmöglichkeiten offenbar aufheben.“ und: „Heutzutage muß man ständig rätseln.“
Dann kam Stirnemann auch auf die Groß- und Kleinschreibung zu sprechen. Es sei besser, jetzt zu korrigieren anstatt zu warten. Konrad Duden habe die unterschiedliche Behandlung von gleichgelagerten Fällen später zu recht kritisiert und vereinheitlicht. Nun empfehlen Wörterbücher wie Duden und Wahrig jedoch in genau gleichgelagerten Fällen etwas anderes.
Das in Kernbereichen unbrauchbare Regelwerk widerspreche der Sprache. Es könne daher nicht als Grundlage dienen. Früher habe man sich im Zweifel nach dem Sprachgefühl richten können und mußte keine willkürlichen Wörterlisten oder an den Haaren herbeigezogene „Regeln“ auswendig lernen, sagte Stirnemann sinngemäß und schloß: „Zur Rechtschreibung gehören Sprachbewußtsein und nicht das Auswendiglernen von Regeln.“
Auszug aus der Teilnehmerliste:
Prof. Dr. Aden, Verein Deutsche Sprache, Vorstandsmitglied; Dr. Max Behland, Verein Deutsche Sprache, Text & Presse; Dr. Dr. Urs Breitenstein, Schwabe AG; Remi Bütler, Schweizer Radio DRS, Journalist; Pieder Caminada, Die Südostschweiz, Stellvertretender Chefredaktor, Beauftragter Rechtschreibung; Jürg Dedial, Neue Zürcher Zeitung, Auslandsredaktor; Dr. Rainer Diedrichs, Zentralbibliothek Zürich, gew. Pressesprecher (Redaktor Librarium, Präsident Gottfried-Keller-Gesellschaft); Stephan Dové, Neue Zürcher Zeitung, Chefkorrektor, Mitglied Rat für deutsche Rechtschreibung; Helmut Eidinger, Blick, Textchef, Koordinator Rechtschreibung Blick-Familie; Inés Flück-Zaugg, Sprach-Art Korrektorat, Lektorat, Übersetzungen; Peter A. Frei, Sportinformation Si AG, Direktor und Chefredaktor; Alois Grichting, Walliser Bote; Prof. Dr. Hans Haider, Peraugymnasium Villnach, Mitglied Rat für deutsche Rechtschreibung; Gottlieb F. Höpli, St. Galler Tagblatt, Chefredaktor; Arnold Kengelbacher, Zürcher Oberländer, Korrektorat; Walter Lachenmann, Forschungsgruppe Deutsche Sprache; Rolf Landolt, Bund für vereinfachte Rechtschreibung, Präsident, dipl. geogr., EDV UBS; Peter Lerch; Sportinformation Si SA, Stellvertr. Chefredaktor; Filippo Leutenegger, Medienarena, Verleger und Nationalrat; Reimuth Maßat, für die DEUTSCHE SPRACHWELT; Peter Müller, Schweizerische Depeschenagentur AG, Direktor; Rosmarie Neuhaus, Zürcher Oberländer, Korrektorat; Karin Pfeiffer-Stolz, Stolz-Verlag; Rolf Prévôt, Schweizer Beobachter, Leitung Korrektorat; Dr. Suzann-Viola Renninger, Schweizer Monatshefte, Ko-Herausgeberin; Dr. Kathy-Riklin, Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene, Gymnasiallehrerin und Nationalrätin; Marco Rodehacke, Basler Zeitung, Korrektorat; Stefan Stirnemann, Sprachkreis Deutsch, Gymnasiallehrer; Peter Stolz, Stolz-Verlag; Lea von Brückner, Sprachbox; Roderick von Kauffungen, SDA – Schweizerische Depeschenagentur, Leiter Marketing; Prof. Dr. Dr. Rudolf Wachter, Universität Basel; Peter Zbinden, Sprachkreis Deutsch, Präsident, gew. Schulleiter.
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