Nordhochdeutsch I
[Aus dem Oberbayerischen Volksblatt, Autor ungenannt.]
Die Google-Recherche ergab vor ein paar Tagen für den Begriff Nordhochdeutsch das Ergebnis: Fehlanzeige! Eine Umfrage unter Landsleuten und Zuwanderern mit norddeutschen Wurzeln sagen wir zwischen Nordrhein-Westfalen und den Küsten der Nord- und Ostsee zeigte völliges Unverständnis, was den Begriff Nordhochdeutsch betrifft.
Silke, Deutschlehrerin aus Cloppenburg in Niedersachsen, wo angeblich das beste Hochdeutsch gesprochen wird, jetzt an einem südbayrischen Gymnasium tätig sagt:
Nordhochdeutsch?? Mainste etwa Norddeutsch? Ja, klar, dass iss Plattdeutsch, jawoll! Kuckma', maine Omi kann noch Plattdütsch schnack'n, aber ich spreche nur Hochdeutsch, kain' Dialekt; weißte. Nordhochdeutsch? Wass iss dass denn? Nee, iss nich'!
Die Silke Verzeihung: Silke ohne Artikel! wird tatsächlich von der größten Sprachautorität, die Deutschland hat, nämlich vom Duden, genauer: vom Aussprache-Duden, in den folgenden Punkten darin bestätigt, hochdeutsch zu sprechen, nicht etwa norddeutsch oder nordhochdeutsch.
1. Anlautendes S sei, so der Duden, in der hochdeutschen Standardsprache als sogenanntes summendes, stimmhaftes S zu sprechen. Dieses wird in der Lautschrift als /z/ wiedergegeben. Also: /ze:/, /zone/, /zilke/ für See, Sonne, Silke Am Wortende ist hier übrigens kein E, sondern der Schwa-Laut zu sprechen, wie etwa im Artikel the des Englischen.
2. Auslautendes S sei dagegen ohne Summen, also stimmlos und scharf zu sprechen. Die Wörter das und dass klassisch als daß" geschrieben lauten gemäß Duden gleich, nämlich beide als dass! Begründet wird dies mit der sogenannten Auslautverhärtung. Das heißt: Die weichen, stimmhaften Mitlaute (Konsonanten) b, d, g sowie s werden am Silben- und Wortende hart gesprochen, also als p, t, k und ss oder ß: Lob, Wind, Zug, was sind laut Duden also quasi als Lop, Wint, Zuk, wass zu sprechen.
3. Das W in Was oder Wind soll als summendes, stimmhaftes V gesprochen werden. Dadurch klingt es eher wie ein F als wie das W im Englischen what, das mehr dem bairischen W ähnelt.
4. Maine statt meine: Der Zwielaut ei soll als ai realisiert werden. Diese Maßgabe verrät einen grundlegenden Unterschied der Artikulierung von Lauten im Munde eines Nord- und Süddeutschen: In der nördlichen Aussprache des Hochdeutschen werden die Vokale viel weiter hinten im Gaumen gesprochen als in der südlichen Variante unserer deutschen Sprache. So hat man als Süddeutscher oft den Eindruck, die Norddeutschen hätten mit Verlaub beim Sprechen einen Knödel verschluckt.
Diese vier Beobachtungen mögen hier genügen, um das Phänomen des Nord-Süd-Gegensatzes in der deutschen Standardsprache (nicht: im Dialekt!) aufzuzeigen:
Diese vier Merkmale sind hochsprachlich, standarddeutsch und vom Duden abgesegnet. Wer sie nicht beachtet, spricht substandardliches Deutsch, bestenfalls regional geprägtes Hochdeutsch. Der Duden bezeichnet den Substandard als Umgangslautung.
Duden lässt Abweichung nicht zu
Auch dort wird für die vier beschriebenen lautlichen Eigenheiten keine Abweichung zugelassen; sie werden also auch für die Umgangssprache als verbindlich angesehen! (Die) Silke kann also tatsächlich argumentieren, sie spreche perfektes Hochdeutsch. Aber das kann sie nur auf der Grundlage des Dudendeutsch.
Schön für die niedersächsische Silke sowie für die meisten Menschen, die zwischen Nordrhein-Westfalen und der Nord- und Ostseeküste leben, dort aufgewachsen und sprachlich sozialisiert worden sind!
Aber was ist dann vom Hochdeutsch all jener Menschen zu halten, die zwischen dem Rheinland und Südtirol leben, dort sprachlich sozialisiert worden sind und es ablehnen, das S im Wort vorne zu summen und hinten übermäßig zu betonen? Die es ablehnen, statt eines W ein stimmhaftes V zu sprechen, statt eines Ei ein Ai zu sprechen? Denen diese Regulierungen zutiefst widerstreben?
Viele Millionen von Menschen sprechen, sofern sie nicht im Dialekt reden, ein anderes Hochdeutsch als das von (der) Silke repräsentierte Hochdeutsch.
Der Professor für moderne Fremdsprachen an der FH München, Johann Höfer, hat schon 1987 für das andere Hochdeutsch den Begriff Südhochdeutsch geprägt. Universitätsprofessor emeritus (Universität Salzburg) Dr. Otto Kronsteiner hat in dieser Zeitung am 16./17. August 2014 ebenfalls die Existenz von südhochdeutsch postuliert und dieses klar von nordhochdeutsch abgegrenzt und die Dominanz des vom Duden propagierten Nordhochdeutschen heftig kritisiert. Professor Kronsteiner hat vor allem den Gegensatz im Bereich Wortschatz charakterisiert: Semmel Brötchen, Schnur Bindfaden, Schuhband Schnürsenkel und viele weitere Süd-Nord-Wortpaare mehr.
Wir schließen uns Kronsteiners Thesen an, möchten aber hier die Thematik erweitern und den Schwerpunkt auf die Aussprache des Hochdeutschen legen, denn: Der Ton macht die Musik!
Wenn die Bedienung den Gast fragt: Mit Sahne?, dann verwendet sie statt des südhochdeutschen Wortes Schlagrahm (Altbayern) oder Schlagobers (Österreich) den nordhochdeutschen Begriff Sahne. Wenn sie aber das S in Sahne nicht summt, spricht sie dieses Wort südhochdeutsch aus; tut sie das aber, spricht sie es nordhochdeutsch aus. Wichtiger als der Wortschatz an sich sind daher Aussprache und Tonfall.
Niemand summt das S im Süden
Um bei den vier markanten Merkmalen der Duden-Deutsch-Aussprache zu bleiben:
1. Fast niemand in Süddeutschland, Österreich, Südtirol und der Schweiz summt das S im Wort- und Silbenanfang vor Vokal. Wie kommt der Duden dazu, hier ein Summen, die Stimmhaftigkeit als Standard zu fordern? Besonders unsinnig ist die Forderung nach Stimmhaftigkeit auch bei Wörtern aus verschiedenen Fremdsprachen, bei denen das S definitiv stimmlos gesprochen wird! Servus, ganz gleich, ob als Lateinvokabel oder Grußformel mit summendem S: Das erzeugt Unverständnis, schlimmstenfalls Ohrenweh!
2. Im Süden des deutschen Sprachraums werden das und dass/daß" durchaus verschieden ausgesprochen. Des Bairischen mächtige Sprecher sprechen das mit dunklem A und weichem S, dass/daß" mit hellem A und scharfem ß; in anderen Regionen ist zwar der gleiche a-Laut zu hören, aber die s-Laute sind verschieden. Wieso verschenkt der Duden diese Differenzierungen? Millionen von Schulkindern wären dankbar, wenn sie lautlich den Unterschied zwischen das und dass beigebracht beziehungsweise bestätigt bekämen.
Fehler wie ich weiß, das dass Haus bald abgerissen wird sind kein Witz, sondern gelegentlich Realität.
Die sonstigen Auslautverhärtungen sind im Süden ebenfalls nicht vollzogen worden: Das Lob hat dort ein weiches b, das Bad ein weiches d, der Zug hat kein k oder gar ch hinten dran, sondern ein weiches g.
3. Wieso beharrt der Duden auf einem stimmhaften V-Laut für wo und wann, wer und was? Norddeutsche Schulkinder stolpern leider häufig über die Aussprache von englisch where, when, what; wine. Die W-Artikulation des südlichen Hochdeutsch ist sowohl der des Englischen (und, nebenbei, Lateinischen!) sehr viel näher.
4. Nicht einmal Bundeskanzlerin Merkel spricht maine Damen und Herren! Sie spricht meine, also südhochdeutsch, aber sagt gleich anschließend im norddeutschen Jargon: "...Daamm und Häan! Eine Mixtur der Sprachvarianten aber warum eigentlich nicht? Wir im Süden sind hier offenbar toleranter als der Duden und freuen uns über Merkels teils südliche, teils nördliche Aussprache, ohne sie aber in dieser Form annehmen zu wollen!
Oberbayerisches Volksblatt 19.9.2014
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