Der große Schriftsteller Siegfried Lenz ist tot
Die Welt, 7. Okt. 2014, 12:16
Der große Schriftsteller Siegfried Lenz ist tot
Er war einer der großen Chronisten der Nachkriegszeit: Siegfried Lenz, Schöpfer von Bestsellern wie Deutschstunde und Heimatmuseum, ist tot. Das bestätigte der Verlag Hoffmann & Campe der Welt.
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Foto: pa/dpa
Siegried Lenz (1926 bis 2014)
Als Schriftsteller habe ich erfahren, wie wenig Literatur vermag, wie dürftig und unkalkulierbar ihre Wirkung war und immer noch ist, erklärte Siegfried Lenz 1988, als man ihm den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verlieh. Wie immer war Siegfried Lenz – und das war er privat wie öffentlich, in seinem Schreiben und in seinem Dasein – leise gewesen und allzu bescheiden. Denn Siegfried Lenz, der mehr als 60 Jahre lang schriftstellerisch tätig war, dessen Werk mehr als 10.000 Seiten umfasst, der Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke geschrieben hat, der weltweit knapp 30 Millionen Bücher verkaufte, hat durchaus gewirkt.
Der 1926 in Ostpreußen geborene Lenz war ein anerkannter, gefeierter und berühmter Schriftsteller. Darüber hinaus war er, so sein Freund, der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, höchst beliebt und vielleicht auch geliebt. Als Gründe dafür führte Reich-Ranicki die elementare Lebensbejahung von Lenz an, dessen Herzlichkeit und warme Menschenfreundlichkeit. Lenz hat seinerseits dem Kritiker eine Erzählung gewidmet, in der er Reich-Ranicki als den Großen Zackenbarsch bezeichnet, jenen Fisch, der im Aquarium das Leben (oder besser dessen Abbild, die Literatur) reguliert, sich durch keinen Köder verführen lässt, viel Appetit hat, aber seine Beute nicht wahllos verschlingt. Auch dies, eine eher liebevolle als vergiftete Huldigung, die Autoren und Kritiker gewöhnlich meist verbindet.
Der Volksschriftsteller
Ich wurde am 17. März 1926 in Lyck geboren, einer Kleinstadt zwischen zwei Seen, von der die Lycker behaupteten, sie sei die Perle Masurens. Die Gesellschaft, die sich an dieser Perle erfreute, bestand aus Arbeitern, Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten Fischern, geschickten Besenbindern und geduldigen Beamten schrieb Lenz in seiner Autobiografischen Skizze. Aus genau solchen Menschen setzt sich das Lenz'sche Werk zusammen. Genau das macht Lenz zum Volksschriftsteller.
Fischer wollte Lenz ursprünglich werden. Oder Spion. Jedenfalls wollte er einen Beruf ergreifen, in dem nicht viel gesprochen wird. Ich wüsste nicht, was ich lieber täte als Schreiben, erklärt Lenz an anderer Stelle seiner Autobiografischen Skizze. Doch was ich ebenso gern tue, das ist Fischen – eine Tätigkeit, bei der es nicht auf die Beute ankommt, sondern auf das Gefühl der Erwartung.
Volontär bei der Welt
Siegfried Lenz wurde 1943, nach dem Notabitur in den Weltkrieg geschickt, zur Kriegsmarine. Kurz vor Kriegsende desertierte er in Dänemark, kam 1945 in britische Gefangenschaft und landete später in Hamburg. Hier und in Dänemark hatte er zeitlebens seine Wohnsitze. Er begann Philosophie, Anglistik und Literatur zu studieren, wurde Volontär bei der Welt und schrieb 1949 seine erste Kurzgeschichte Die Nacht im Hotel, eine Vater/Sohn-Geschichte, die wie so viele Werke von Lenz, in einer Männerwelt spielt.
1951 veröffentlichte er seinen ersten Roman Es waren Habichte in der Luft. Bereits hier schlug Lenz mit der Erfahrung totalitärer Herrschaft eines seiner wichtigsten Themen an und bekannte seine Solidarität mit den Macht- und Sprachlosen. Seine Kriegserfahrungen, die Erinnerungen an eine Jugend in einer Diktatur, ließen ihn in seinen Romanen, die sich um politische Themen der deutschen Vergangenheit drehten, sozialkritische Perspektiven entwickeln, die immer wieder von existenziellen, auch pessimistischen Motiven gebrochen wurden.
Seit 1951 lebte Lenz als freier Schriftsteller. Das bedeutete für ihn, mehrere Stunden am Vormittag und mehrere Stunden am Nachmittag diszipliniert zu schreiben.
Klug, leise, humorvoll
Man schreibt eigentlich nur von sich selbst hat Siegfried Lenz einmal gesagt. Und so konnten wir durch Lenz' Werke einen Blick auf den klugen, leisen und humorvollen Schriftsteller erhaschen und erkennen, dass Siegfried Lenz ein nachdenklicher, bescheidener, gerechtigkeitsliebender Mensch war. Ein Mann, dem Geschichten oft dazu dienten, Geschichte lebendig werden zu lassen.
In seinen berühmten Romanen So zärtlich war Suleyken (1955) und Heimatmuseum (1978) ließ Lenz seine Jugend in Masuren wieder aufleben, zeigte sich aber auch als Meister der humoresken Kleinform. Hier werden Menschen in Masuren, Traditionen und Lebensweisen in Schelmenstücken, Märchen und Anekdoten unterhaltsam beschrieben, heraus kommt eine Mischung aus Münchhausiaden und Eulenspiegeleien.
Ostpreußen erscheint hier als Landschaft voller Käuze und Originale, die Lenz als zwinkernde Liebeserklärung an mein Land ausgab. Und dennoch hat Lenz einmal bekannt: Heimat bedeutet mir nicht so viel, als dass ich um jeden Preis zurück gehen möchte. Lenz fühlte sich durch und durch wohl in seiner Wahlheimat Hamburg.
Suleyken wurde für das Fernsehen verfilmt, ebenso wie Der Geist der Mirabelle (1975). Zu den anekdotischen Erzählungen von seiner Heimat zählt auch So war das mit dem Zirkus, ein Stück, das 1971 entstand. 1961 hatte Siegfried Lenz sein erstes Drama geschrieben, Zeit der Schuldlosen, das sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzte und das am Deutschen Schauspielhaus von Gustaf Gründgens uraufgeführt wurde.
Kein Beschöniger, kein Fantast
Wer anfing Lenz zu lesen, konnte sich schnell von dessen Geschichten fesseln lassen, von seinen zweifelnden, aufrechten Helden, den glasklaren Beobachtungen, der ökonomischen Erzählstruktur und der konzentrierten Handlung, die Gefühle weitgehend ausspart. Lenz war kein Schmeichler, kein Beschöniger, kein Fantast. Ihn beschäftigten einfache Menschen. Über sie erzählte er einfache Geschichten. Wer ihm eine Neigung zum Betulichen unterstellte, einen Rückzug in vergangene Welten, der hatte die Kraft nicht erfasst, die in ungezuckerten, direkten Sätzen liegt. Lenz' Erzählungen und Romane sind wie japanische Möbel. Sie sind schlicht und schön und beinahe perfekt.
Siegfried Lenz, dessen Prosa sich bewusst an die Tradition der deutschen Novelle anlehnte, an die englische Kurzgeschichte und die russische Erzählung, fesselte in den meisten seiner Werke durch seine Anteilnahme am menschlichen Schicksal. Von Verfolgung, Freundschaft und Verrat erzählt Lenz. Seine Helden sind oft norddeutsche Kleinbürger, normale Leute, Menschen mit Moral, die gegen Niederlagen ankämpfen, meist wortkarg, zurückhaltend, bodenständig, spröde.
Fast immer sind es Männer, die auch ein männliches Leben führen, also Fischer, Taucher, Sportler, Bauern, Kapitäne. Sie leben in der Natur. Seine Lieblingsfigut ist wohl der auf sich selbst angewiesene Außenseiter. Die Konflikte, die die Männer ausfechten, scheinen ewig gültig. Da geht es um Auseinandersetzungen von Vater und Sohn, Lehrer und Schüler, Mensch und Natur. Kitsch, Gefühligkeit, opernhafte Dramatik kommen in Lenz' Werk nicht vor. Fast könnte man meinen, Lenz sei wie Hemingway, nur auf deutsch und mit deutschen Charakteren.
Ich habe über meine Nachbarn geschrieben, habe versucht, ihre Eigenarten zu zeigen, erklärte Lenz gern. Eine seiner ersten großen literarischen Figuren war ein Taucher im Hamburger Hafen. Er ist der Mann im Strom. Diesen Roman schrieb Siegfried Lenz 1957 und er wurde zwei Mal verfilmt. Er lebt von dem Kontrast zwischen Alt und Jung, Ehrlichkeit und krimineller Energie und der Symbolik, bei der ein Schiffswrack ebenso ausgeweidet und unbrauchbar übrig bleibt wie der alte Mann, der Titelheld. Lenz berührt damit ewig gültige, archaische Themen. Er trifft realistische Details ebenso scharf wie Atmosphäre und Stimmungen. Seine Figuren leben. Für einen Schriftsteller gibt es nichts, was größere Bedeutung hätte.
Deutschstunde 2,5 Millionen Mal verkauft
Lenz thematisiert die Vereinsamung des modernen Menschen und die Machtlosigkeit des Einzelnen. Sein berühmtester Roman Deutschstunde, der sich 2,5 Millionen Mal verkaufte, spielt in einer Besserungsanstalt für kriminelle Jugendliche. Dort soll der Bilderdieb Siggi Jepsen einen Aufsatz über die Freuden der Pflicht schreiben. Siggi denkt über seine Rolle als Täter und Opfer nach. Und Lenz liefert in diesem Roman, der viele Jahre zur Grundausstattung des Unterrichts gehörte, ein Plädoyer für das Gewissen, die Eigenverantwortung und die kritische Hinterfragung von Autoritäten.
Er verdeutlicht, dass ein Verständnis der Gegenwart erst durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich ist. Ob Lenz seine Personen erzählen oder handeln lässt, nie klagt er sie an. Aber er verteidigt oder verurteilt sie auch nicht. Dem Schriftsteller Siegfried Lenz geht es immer nur darum, die Menschen zu verstehen. Vielleicht, weil er ein Menschenfreund ist. Anders als die beiden anderen deutschen Großschriftsteller, Günter Grass und Martin Walser, die zeitweilig auch den Krawall des Literaturbetriebes brauchten, die gern deutlich und deftig schildern, was Menschen miteinander verhandeln, bleibt Lenz ein Schriftsteller der Andeutung, der Stille, der leisen Töne.
Zwischen 1948 und 2010 hat Siegfried Lenz knapp 180 Erzählungen veröffentlicht, 15 Romane und sieben Theaterstücke.
Einer seiner frühen Erfolge, die Erzählung So zärtlich war Suleyken, zaubert eine verlorene Welt Ostpreußens herbei. Lenz entfaltete sich hier als großer Fabulierer, als Landschaftsschilderer und Erfinder skurriler Gestalten. Zu seinen bedeutenden Werken zählen auch Das Feuerschiff (1960) Das Vorbild (1981) Arnes Nachlass (1999). Mit 82 Jahren schrieb Siegfried Lenz seine erste Liebesgeschichte. Die Novelle Schweigeminute war mit rund 360.000 verkauften Exemplaren der Überraschungserfolg des Jahres 2008.
Niemand, der Lenz kennenlernte, zeigte sich unbeeindruckt von der zugewandten Freundlichkeit des Schriftstellers, der bei jedem Gespräch seine Pfeife am Glühen hielt. Seine langjährigen Freunde, das Ehepaar Loki und Helmut Schmidt oder der israelische Autor Amos Oz, schätzten an Lenz dessen Gradlinigkeit. Oz befand: Siegfried Lenz beurteilt seine Charaktere nicht. Er beschreibt zwar ihre Schwächen, aber ohne auf sie herabzublicken. Er behandelt sie mit einem Feingefühl, das man in der Weltliteratur nur selten findet.
Siegfried Lenz wurde 88 Jahre alt. Zuletzt hatte er in diesem Verlag gemeinsam mit Altkanzler Helmut Schmidt (95) das Gesprächsbuch Schmidt – Lenz. Geschichte einer Freundschaft herausgebracht.
Lenz hatte im Juni dieses Jahres in Hamburg die gemeinnützige Siegfried-Lenz-Stiftung ins Leben gerufen, die sein Werk wissenschaftlich aufarbeiten soll. Das persönliche Archiv des Schriftstellers soll an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach gehen.
DW
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Tja, die Rechtschreibreform wird in Siegfried Lenz’ Zusammenhang schon totgeschwiegen …
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Norbert Lindenthal
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