Keine Erleichterung durch die Reform
Ansprache hilft
Zahlreiche Projekte und Angebote fördern Schüler beim Lesen und Schreiben
Erst steht das Lernen der Buchstaben auf dem Stundenplan, dann folgen die Laute. Schnell bilden Kinder die ersten Wörter und beginnen Schritt für Schritt zu schreiben und zu lesen. „Sie sind neugierig und versuchen, schon früh alleine zu lesen“, berichtet Grundschullehrerin Gudrun Kolmar, die an der Deutsch-Polnischen Europaschule Deutsch und Kunst unterrichtet. Nach dem Wissensstand der Schüler füllt sie Lesekisten mit Unterrichtsmaterialien. Gelernt wird mit Texten, Ratespielen und Lesekarten zum Ankreuzen. Wichtig sei, dass die Schüler viel üben und auch zu Hause lesen.
Ein altersentsprechender Wortschatz, korrekte Grammatik sowie Sprach- und Lesekompetenz sind der Schlüssel zum Wissenserwerb. Schüler mit Lese- und Schreibschwierigkeiten verstehen häufig Textaufgaben falsch und können Diktaten nur schlecht folgen. Da das Regelwerk der Deutschen Sprache [?] für viele Schüler eine große Herausforderung ist, sind Eselsbrücken gefragt: Wörter werden in einzelne Silben zerlegt und die sogenannten „Tiger-Wörter“, deren Endung wie ein „a“ lautet, aber „er“ geschrieben wird, werden im Klassenraum an ein unübersehbares langes Band geklebt. „Wichtig sind Schreibaufgaben zu Themen, die Kinder interessieren und motivieren, mit Sprache umzugehen“, erklärt Petra Wieler, Erziehungswissenschaftlerin und Professorin an der Freien Universität. Fehler beim Schreiben seien ganz natürlich, da Kinder erst die Abstraktion von der mündlichen Sprache lernen müssen. Hörkassetten, Erzählprojekte und Bücher unterstützen ebenfalls den Erwerb der Schriftsprache.
Ergänzend zum Deutschunterricht veranstalten viele Grundschulen Projekte, nutzen die Angebote von Vereinen und greifen auf ehrenamtliche Unterstützung zurück. So organisiert die Grips-Grundschule anlässlich des Internationalen Literaturfestivals in Berlin eine Leseprojektwoche, die mit einer Lesung eines Schriftstellers und einer Ausstellung der Kinder endet. Die Nürtingen Grundschule nutzt ihre Bibliothek und veranstaltet in Kooperation mit dem Verein Lesewelt Berlin Vorlesestunden für Kinder. Auf das Internet muss bei der Leseförderung nicht verzichtet werden. So setzen Schulen das Onlineportal Antolin vom Schroedel Verlag ein, das mit interaktiven Fragen die Auseinandersetzung mit Buchinhalten fördert.
Außerhalb der Schule bietet der Verein Lesart – das Berliner Zentrum für Kinder und Jugendliteratur – ein breites Programm an. Zu entdecken sind Gedichte, Geschichten, Lieder, Theaterstücke und Zeitungen. In eigene Worte umgesetzt, stärken sie die Ausdrucksfähigkeit der Schüler. Besonders erfolgreich ist das ausgezeichnete Projekt „WortStark“, das die Stadtbibliotheken Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte 2002 starteten. Die Bibliothekare hatten erkannt, dass Vorlesestunden nicht reichen und vor allem Kindern aus Migrantenfamilien nicht gerecht werden. Laut Katrin Seewald, der Leiterin der Kreuzberger Else-Ury-Bibliothek, konnten viele Kinder den Geschichten nicht folgen, weil ihnen Wörter fehlten. Mit pädagogischer Unterstützung entwickelten sie deshalb ein neues Programm für Kinder von zwei bis zwölf Jahren.
Die Ergebnisse der Berliner Leselängsschnittstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zeigen, dass der Wortschatz eines Kindes eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Lesekompetenz spielt und diese wiederum die Wortschatzentwicklung stärkt. Die 2006 abgeschlossene Studie belegt, wie auch die letzte Internationale Leseuntersuchung IGLU, dass der soziale Status der Herkunftsfamilie entscheidend für die Entwicklung des Kindes ist.
Eine Ergänzungsstudie zu IGLU 2006, in deren Rahmen die Rechtschreibleistungen von über 8000 Kindern am Ende der vierten Klasse getestet wurden, verdeutlicht, dass die Schüler überwiegend Schwierigkeiten bei der Rechtschreibung haben. Die Rechtschreibreform hat nach Peter May vom Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung keine Erleichterung für unsichere Schüler gebracht. Da die fehlenden Kompetenzen in den weiterführenden Schulen kaum aufgeholt werden könnten, empfiehlt May, Schüler individuell zu fördern. Nachhilfeunterricht oder Lerntherapien außerhalb der Schule können helfen, die Lücken zu schließen.
Auf die Lese- und Rechtschreibschwäche spezialisiert haben sich die Lehrinstitute für Orthographie und Schreibtechnik (LOS). Von insgesamt 200 Standorten sind sechs in Berlin. Um die Bedürfnisse der Kinder zu ermitteln, beginnt jede Förderung erst einmal mit einem Test. Schüler von der ersten bis zur elften Klasse können ihre Rechtschreibung auch in einem von Peter May entwickelten Test im Internet überprüfen (unter http://www.dideon.de).
Katja Gartz
tagesspiegel.de 29.05.2010
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