40 Jahre Schul- und Rechtschreibreformiererei
BILDUNG: Die ersten Jahre sind entscheidend
Linguistik-Studie: Die deutschen Grundschulen integrierten vor 30 Jahren Kinder bildungsferner Familien besser als heute
[…] Deutsche Grundschulen verstärken heute also die sozialen Differenzen, anstatt sie anzugleichen. Das war nicht immer so, belegt eine brisante Studie mit dem Titel „Schreiben von Kindern im diachronen Vergleich“.
Gemeinsam mit drei Kollegen hat der Germanist Wolfgang Steinig erstmals die Schreibleistungen zweier Generationen verglichen. Das Fazit: Anfang der 70er Jahre vermochte das westdeutsche Schulsystem soziale Differenzen noch in großem Maße auszugleichen. Heute gelingt das nicht mehr. Doch man könne Lehrern keineswegs ein kollektives Versagen vorwerfen, schreibt der Siegener Professor. „Der Mangel an Chancengleichheit scheint systembedingt.“ Die Grundschule habe heute „in erheblichem Ausmaß die Fähigkeit eingebüßt, Unterschiede im Sprachgebrauch von Kindern unterschiedlicher Sozialschicht auszugleichen“.
1972 ließ Steinig 250 Viertklässler Aufsätze schreiben. 30 Jahre später wiederholte er den Versuch. Geschrieben wurde in den gleichen nordrhein-westfälischen Schulen. Gezeigt wurde derselbe zu diesem Zweck gedrehte amateurhafte Super-8-Film, den die Schüler in einem Aufsatz beschreiben sollten.
Das Ergebnis: 2002 haben die orthographischen Fehler um 77 Prozent zugenommen, inhaltlich sind die Texte dafür ansprechender.
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Mit seiner Studie zeigt Steinig, dass es 1972 noch keine größeren „schichtspezifischen Unterschiede“ am Ende der Grundschulzeit gab. „Damals gelang es der Schreibdidaktik in der Grundschule offenbar noch, die schriftlichen Fähigkeiten aller Schüler zu fördern.“ 30 Jahre später ist das Ergebnis ein anderes: „Die Texte zeigen sehr viel deutlicher, aus welcher sozialen Schicht die Familie eines Kindes stammt und welche Sekundarstufe es besuchen wird.“
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„Auch wenn ich es gern anders hätte, Rechtschreibung ist heute wichtiger denn je“, bestätigt Steinig im Gespräch, „sie wirkt als soziale Barriere und entscheidet über Schullaufbahn und beruflichen Erfolg“. In die Führungsetagen schaffe es nur, wer Orthographie und Kommasetzung beherrsche. „Die Rechtschreibung wird zur sozialen Markierung und dient als Kriterium für eine knallharte Auslese.“
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Als „Irreführung“ bezeichnet Steinig deshalb eine Didaktik, die Rechtschreibung in den ersten Schuljahren für „nicht so wichtig“ erklärt und am Ende der vierten Klasse als entscheidendes Argument für die Bildungsempfehlung in die Waagschale wirft. „Auf einmal sind Rechtschreibfehler als hartes Argument sehr gefragt, weil sie zählbar und juristisch überprüfbar sind.“
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Mittelschicht-Eltern greifen schon früh korrigierend ein. Sie bestehen zu Hause auf korrekter Rechtschreibung und ergänzen das lückenhafte Regelwissen aus der Schule. [Wenn sie es denn können nach der „Rechtschreibreform“]
Es sei schon eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die „linke, emanzipatorische Pädagogik“ seit den 70er Jahren Rechtschreibung in der Schule hinten an stellt. „Damit wollte sie den Unterschicht-Kindern entgegenkommen“, erläutert Steinig. „Man fürchtete, Kindern der Unterschicht ihre soziale Identität zu rauben, wenn man ihnen die Sprache der Mittelschicht aufzwingt.“ Mit dieser Rechtfertigung hat sich die Bundesrepublik jene Förderung schwacher Schüler gespart, die in anderen Ländern seit Jahrzehnten üblich ist.
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Steinigs Buch ist ein Novum, weil sich deutsche Soziologen, Pädagogen und Didaktiker seit 30 Jahren kaum noch für das Thema soziale Gerechtigkeit in der Schule interessiert haben. Ihr Fokus ist auf die Gruppe der Migrantenkinder und deren Zweisprachigkeit gerichtet.
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Steinigs 400-Seiten-Buch besteht aus einer Fülle von Statistiken und nüchterner Analyse. Doch im Gespräch scheut der Germanist keineswegs, die gängigen Lehrwerke mit deftigen Worten zu kommentieren: Viele seien nichts als ein „Potpourri aus unsinnigen Aufgaben und Ausfüllbögen“. Ihnen liege eine Art „Pfingstwunder-Didaktik“ zugrunde. Rechtschreibung werde nur noch wie eine bittere Pille untergemischt. Dahinter stehe, dass der Schreiberwerb als Naturwüchsigkeit verstanden werde. „Das ist Quatsch. Schreiben ist eine Kulturtechnik, die man begreifen und dann üben muss.“ Wenn sich Kinder ihre eigenen Lernwege suchen, können sie auch falsch sein. Dann erfordert es einen größeren Aufwand, wieder in die richtige Spur zu kommen.
Deshalb warnt Steinig vor der verbreiteten Annahme, schwache Rechtschreibfähigkeiten würden sich von selbst auswachsen. Dazu gebe es keine wissenschaftlichen Belege. Steinigs Studie gibt vielmehr Anlass zu der Vermutung, dass Schüler, die zu spät Rechtschreibregeln erlernen, deutlich mehr Fehler machen.
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Die Schreibregeln müssten nicht nur begriffen sondern auch trainiert werden, so Steinig. „Schule muss das ganz allein leisten können.“
Wolfgang Steinig, Dirk Betzel, Franz Josef Geider, Andreas Herbold: Schreiben von Kindern im diachronen Vergleich. Texte von Viertklässlern aus den Jahren 1972 und 2002. Waxmann Verlag, Münster 2010. 412 Seiten, 34,90 Euro (Von Nathalie Wozniak)
maerkischeallgemeine.de 7.10.2010
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