Liebe(s, r) Frau/Fräulein/Herr Sorrow,
hast Du auch einen Vornamen? Dann kann man sich leichter auf gleicher Augenhöhe ansprechen. Übrigens, you can say you to me, aber das war eh schon klar. Ich heiße Detlef, und meine russischen Freunde dürfen mich auch Dimitri nennen. Irgendwelche Angelsachsen habe mich Datelaff buchstabiert. Is auch in Ordnung.
Danke für das Lob für den einen „Reform“-dafür-Grund.
Die Dagegen-Gründen sind ein sehr, sehr weites Feld, welches mit den Einwänden = Gegen-gegen-Gründen sowie den Gegen-gegen-gegen-Gründen leicht schwer überschaubar wird. Und das will man doch nicht.
Nachfolgend will ich einen einzigen Grund schildern, und diesen einen Grund ein wenig ausleuchten.
Wenn 100 Ameisen oder Wissenschaftler oder andere intelligente Wesen, meinetwegen auch Roboter, auf einer K u g e l den höchsten Punkt erklimmen wollen, dann werden sie ab irgendwann ihn einigermaßen getroffen haben. Diesen Punkt dann noch und noch genauer einzumessen auf tausendstel und millionstel Meter, das bringt nicht mehr gar so viel, aber man kann es machen; das ist immer noch Wissenschaft.
In gleicher Weise haben Sprachfreunde und Sprachschaffende die Rechtschreibung behutsam und folgerichtig vereinheitlicht. Seit Erfindung des Buchdruckes 1455 und insbesondere seit dem Beginn der Bücher-Massenherstellung um 1850 wurde hier viel gute Arbeit geleistet; Bücher von 1870 können wir ohne fremdliches Erstaunen lesen.
Diese Optimierung – zu vergleichen mit den Ameisen, die den höchsten Punkt der Kugel erklimmen – war 1950 mit der Durchsetzung der lesefreundlichen Kommasetzung (die in den 20er Jahren sich durchzusetzen begonnen hatte) schon weitestgehend vollkommen.
Wenn ein Ding in dieser Weise bereits bestmöglich oder optimiert ist, muß jedes Abweichen wieder eine Verschlechterung sein.
Und dies ist mein Hauptgrund gegen die sogenannte Rechtschreib„reform“.
Und hiermit bin ich auch im wesentlichen fertig mit der Begründung.
Nun kommen noch einige Ausleuchtungen.
Wie gesagt, um 1950 setzte die lesefreundliche Kommasetzung sich in allen Redaktionen und Verlagen und in den Schulen durch.
Um 1900 wurde aus Thür Tür und aus complicirt kompliziert; sonst war da nichts Nennenswertes.
Einige Baustellen bestanden in den 20er Jahren bis heute: Photographie > Fotografie, Graphik > Grafik sind teils noch im Wandel, teils schon entschieden: Telephon schreibt bei uns keiner mehr; aber die Nazi-Versuche (1944) von Fysik, Füsik und Filosofie waren klägliche Versager, und es spricht weiterhin viel für Niveau statt Niwo und für Paket und Päckchen statt Packet und Päckchen.
Um zwei Baustellen hat sich keiner gekümmert: 1. Niemand konnte mir bisher sagen, warum es Bestätigung heißt – stetig kenne ich, aber statig und deshalb stätig?
2. Die Schreibung der russischen Namen geht im Russischen ganz einfach, nämlich so, wie man sie spricht. Nur im Deutschen weiß man dann nicht, ob es Ssassanow oder Sassanow oder Ssassanof oder Sassanof oder Sassanoff oder Ssassanoff oder womöglich Sasanof heißt.
Also zwei minderwichtige Marginalminorismen.
Alle anderen Änderungen (Wörterverbote, ss-Diktatur, Trennquatsch [Uro- ma, Fuldau- ferweg, Ruma- roma, Grippee- pidemie, Tee- nager]) sind eindeutige Rückschritte und Verschlechterungen, die bis auf die ss-Peinlichkeit und drei winzige Wörterverbote sämtliche wieder zurückgenommen worden sind. Peinlich sind auch die Schreibungen Tennis-Ass (Tennisarm kenne ich, aber Tennisarsch??) und Tipp, aber Top und Pop (Poppmusik^^ werden die Leute höchstens dann schreiben, wenn sie die auch meinen).
Und weiterhin voll kraß sind die unpädagogische Beliebigkeitsschreibung („Unlernbarkeit durch ausufernde Grauzonen“) und die weitgehende Abschaffung der Kommasetzung im Schulunterricht (Schüler dürfen in der Schule nicht die lesefreundliche Zeichensetzung lernen, die sie später im Beruf benötigen).
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Detlef Lindenthal
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