Politiker: „Die haben Schiß bis über beide Ohren“
Politik und Macht
Die haben Schiß bis über beide Ohren
FAZ.net, 27. 9.2004
Man möchte kein Politiker sein, wenn dieser Mann über einen schreibt: Jürgen Leinemann, 67, ist Autor beim „Spiegel”, Ressort Innenpolitik. Seine Texte klingen, als kenne er Schröder und Fischer besser als sie sich selbst; er scheint hinter ihre Fassaden zu blicken, ihre Ängste, Hoffnungen, Lügen zu durchschauen.
Ein Thema zieht sich wie ein roter Faden durch seine Texte: Politik als Droge; Politiker als Süchtige, abhängig von Applaus, öffentlicher Anerkennung, dem Hochgefühl der eigenen Wichtigkeit. Es ist auch sein persönliches Thema. Bei ihm war es der Alkohol. Auf dem Schreibtisch in seinem Büro in der Berliner Friedrichstraße steht ein Blumenstrauß: Heute seit 28 Jahren ist Jürgen Leinemann trocken. Über die Gefahren, denen Politiker ausgesetzt sind, hat er jetzt ein Buch geschrieben: Höhenrausch.
Herr Leinemann, Sie sagen, Politik ist wie eine Droge Politiker werden süchtig nach Arbeit, Öffentlichkeit, den Insignien der Macht. Sind Politiker krank?
Ihr Beruf gefährdet sie. Wir alle neigen dazu, suchtanfällig zu sein, weil uns in unseren westlichen Gesellschaften etwas Wichtiges fehlt eine Art Spiritualität, vereinfacht gesagt. Dafür suchen wir Ersatz: Belustigung, Arbeit, Alkohol. Politiker unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von ihren Wählern, nur bietet ihr Beruf besonders viele Möglichkeiten, aus unerfreulichen Realitäten auszubrechen: öffentliche Aufmerksamkeit, Reisen, Dienstwagen, Termine, Arbeit. Deshalb sind Politiker besonders anfällig. Und wären sie nicht in öffentlichen Ämtern und wäre nicht ein zentrales Merkmal von Sucht Realitätsverlust, dann wäre das ihre reine Privatsache.
Wie äußert sich der Realitätsverlust bei Politikern?
Ein Beispiel: der vielbeklagte Reformstau. Alles, was heute angepackt wird und großes Geschrei auslöst, war längst überfällig. Daß sich die demographische Situation verändert hat, daß die Rentenkassen leer sind, daß die Gesundheit zu teuer ist all das wissen wir seit Anfang der achtziger Jahre. Aber es bestand eine Art augenzwinkerndes Abkommen zwischen Politikern und Wählern: Wir sagen euch, daß alles nicht so schlimm ist, und ihr wählt uns wieder. Oskar Lafontaine sagte den Ostdeutschen 1990, daß ihre Wirtschaft den Bach runtergehen würde Helmut Kohl versprach blühende Landschaften: Ist doch klar, wie die Menschen da entscheiden.
Die Wähler wollen also belogen werden?
Sie verhalten sich wie Co-Abhängige, wie es in der Suchtsprache heißt. Die Mehrheit der Leute delegiert die Abwehr ihrer Ängste an ihre gewählten Vertreter. Die sollen, wenn sie schon nichts tun können, ihnen wenigstens die Welt schönreden. Umgekehrt fragen die in Meinungsumfragen: wohin wollt ihr geführt werden? Es passiert selten genug, daß sich mal einer hinstellt und sagt, liebe Leute, auch wenn's weh tut, das muß jetzt sein, hilft nichts.
Mit der Agenda 2010 erleben wir das im Augenblick.
In dieser Ernsthaftigkeit macht es die Regierung zum ersten Mal. Und die CDU macht mit, weil Ausflüchte nicht mehr helfen.
Wie wichtig sind eigentlich heute noch Inhalte? Es scheint in der Politik immer mehr um persönliche Erfolge zu gehen, weniger um große Ziele.
Politik wird immer komplexer. In der Medienwelt konzentriert sich die Aufmerksamkeit daher auf Personen. Damit wird der politische Betrieb zum Aufstiegskanal. Noch immer kann man, wie Schröder, aus dem Hinterhof bis ganz nach oben gelangen.
Ist das nicht eine Gefahr, daß es immer mehr Selbstdarsteller anzieht, die nur in die Politik gehen, um in der Öffentlichkeit zu stehen?
Für die meisten der jetzt regierenden Generation geht es wohl wirklich vor allem um persönlichen Erfolg. Die Älteren waren so gebeutelt worden vom Leben, daß sie als fertige Persönlichkeiten in die Politik kamen. Die heutigen werden wenn sie und wir Glück haben erst in den Ämtern zu jemand. Anfangs wollen alle etwas verändern in der Welt, dann aber merken sie, wie lange das dauert. Deshalb müssen sie erst ihre Wiederwahl sichern und auf einmal werden die Mittel zu Zwecken, Karriere und Betrieb werden Selbstzweck. Die Mediengesellschaft hat diese Tendenz sicher verstärkt. Hans-Dietrich, du bist im Fernsehen! hat die Mutter von Genscher durchs ganze Haus gerufen, da war der lange Außenminister.
Jemand wie Schröder will der noch was?
Zunächst wollte er persönlichen Erfolg und wohl nicht viel mehr. Als Kanzler hat ihn dann erst der Krieg eingeholt, und innenpolitisch hat er gemerkt, daß er nur noch mit richtigen Reformen weiterkommt. Inzwischen ist sein eigener Erfolg mit den Erfordernissen des Landes identisch. Jetzt spielt er alles oder nichts. Dazu neigt er: Situationen ausreizen, bis nichts anderes mehr geht, und dann da durch, ohne Wackeln.
Und das geht, ohne große Ziele, ohne Visionen?
Damit steht er ja nicht allein, ich kenne keinen, der welche hat. Keinen Politiker, aber auch keinen Philosophen, keinen Psychologen, keinen Dichter, der sagen kann, wie die Welt in dreißig Jahren sein wird. Wie er sie sich wünscht, das schon, aber wie sie wahrscheinlich aussehen wird und was zur Veränderung nötig ist, scheint niemand zu wissen. Wir leben in einer Übergangsphase. Und manchmal denke ich, daß jemand wie Schröder, der einfach learning by doing macht, im Moment gar nicht der Schlechteste ist.
Je näher man der Macht ist, desto stärker spürt man ihren Sog. Sie waren mit Anfang Dreißig in Washington Büroleiter des Spiegels, sind als Korrespondent im Weißen Haus ein und aus gegangen. Wie wichtig haben Sie sich da selbst gefühlt?
Als ich den Presseausweis fürs Weiße Haus bekam, dachte ich schon, das ist jetzt die höhere Weihe. Die White House Press fühlt sich ja durchaus als Teil der Weltmacht der Vereinigten Staaten. Die Frage, wer wessen Parasit ist, steht zwischen Politikern und Journalisten natürlich immer unterschwellig im Raum, auch in Berlin. Ich habe lernen müssen, daß ich für Politiker nicht der nette Jürgen Leinemann bin, sondern Der Spiegel.
Sie sind trockener Alkoholiker, unter Pseudonym haben Sie vor Jahren ein Buch über Selbsthilfe geschrieben. Können Sie kurz Ihren Weg in die Sucht schildern?
Ich komme aus einfachen Verhältnissen und konnte meine unglaublich schnelle Karriere selbst kaum fassen. Mit dreißig Jahren in Washington Korrespondent bei dpa, dann beim Spiegel, das war mehr, als ich mir in meinen kühnsten Träumen hatte vorstellen können. Ich traute mir nicht. Je länger es gutging, desto mehr fühlte ich mich wie ein Hochstapler. Im Hinterkopf hatte ich immer eine Stimme, die sagte, gleich fliegt alles auf. Ich hatte vor allem Angst, immer mehr, aber das durfte keiner merken. Das kann ich heute bei Politikern gut sehen: Die haben Schiß bis über beide Ohren, daß rauskommt, daß sie etwas nicht wissen oder können, aber nach außen geben sie den Strahlemann ab. Ich habe in diese Kluft Alkohol gegossen. Bis zum Zusammenbruch.
1976 begannen Sie eine Therapie, nehmen seither an Selbsthilfegruppen teil. Ihre Wegweisung, schreiben Sie, ist von Rühmkorf: Bleib erschütterbar und widersteh. Was für charakterliche Voraussetzungen sollte ein Politiker mitbringen, um in seinem Beruf gesund zu bleiben?
Gut sind die dran, die etwas haben, das größer ist als sie selbst. Dann müssen sie sich nicht permanent selbst beweisen. Ich halte es nicht für Zufall, daß die christlichen Menschen die Politik am unversehrtesten überstehen. Johannes Rau zum Beispiel, der hat das zuletzt ganz gut hingekriegt.
Mit dem Aufhören scheint auch er Probleme gehabt zu haben, wie alle Politiker. Heide Simonis schreibt ganze Artikel über ihre Angst, nach der Politik ein Nichts zu sein.
Die spricht es am deutlichsten aus. Das ist die Angst vor dem Entzug. In der Politik haben wir es mit mehreren Drogen auf einmal zu tun Statussymbole, Applaus, Informationen , wenn all die Suchtmittel auf einmal weg sind, dann sehen die ganz schön alt aus. Körperliche Reaktionen, Infarkte, sind dann nicht selten. Ich weiß von Leuten, die sagen, sie haben dann immer neben dem Telefon gewartet, daß mal jemand anruft und sie nach ihrer Meinung fragt, um zu sehen, sie werden noch gebraucht.
Sollte es Selbsthilfegruppen für in Rente gegangene Politiker geben?
Das wäre hilfreich, ist aber unrealistisch. Auf jeden Fall sollten sie sich jemanden suchen, einen Freund, ein Familienmitglied oder jemand Professionelles, mit dem sie über ihren Entzug reden können.
Gibt es, was den Umgang mit Macht angeht, einen Unterschied zwischen Männern und Frauen?
Früher habe ich das geglaubt, ich hab's mir auch immer gewünscht. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher, obwohl ich glaube, daß Frauen generell dichter am Leben dran sind als Männer. Aber wenn ich sehe, wie Angela Merkel inzwischen mit dem Apparat umgeht, was für ein Kontrollfreak sie geworden ist, wie machtfixiert sie auftritt, dann muß ich sagen, das ist Helmut Kohl II.
Die mußte sich das wahrscheinlich bei den Männern abschauen, um in der Politik überhaupt ernst genommen zu werden.
Ich habe den Verdacht, das ist aber eine reine Mutmaßung, daß sie glaubt, wenn sie mal Kanzlerin wäre, könnte sie wieder mehr sie selbst sein. Das wird aber in diesem Amt nicht gehen.
Glauben Sie, daß sie 2006 Kanzlerin wird?
Ich halte das für möglich. Ich habe aber in den letzten Jahren gelernt, keine Voraussagen für länger als ein Jahr mehr zu geben. Daß ich überhaupt wieder anfange zu denken, Schröder könnte tatsächlich noch mal antreten, und daß ich nicht mal mehr ausschließe, daß er sogar wieder gewinnen könnte, das hätte ich mir noch vor drei Monaten nicht vorstellen können.
Hat es Sie gewundert, daß Joschka Fischer wieder so zugenommen hat?
Überhaupt nicht. Fischer war einer der ersten, die sich für das Thema Sucht interessiert haben. Mit dem habe ich oft und lange darüber geredet, in Bonn schon. Als er dann anfing zu laufen, behauptete er, er habe die Suchtgefahr jetzt hinter sich. Er wollte keinen Rotwein mehr und auch nicht mehr soviel essen. Ich habe ihm damals gesagt: Du bist umgestiegen. Du hast nicht die Drogen hinter dir, du hast eine neue. Daraufhin pflegte er mir den Unterschied zwischen Sucht und Leidenschaft zu erklären. Ich habe dann irgendwann aufgehört, mit ihm darüber zu rechten.
Sind Sie mit Ihrem speziellen Blickwinkel Politikern eigentlich sehr auf die Nerven gegangen?
Also, Joschka Fischer ganz sicher. Aber ich war erstaunt, wie viele sich doch auf Gespräche mit mir eingelassen haben, auch auf diese Sehweise. Die spüren ja selbst, daß da irgendwas nicht stimmt, daß sie dabei sind, sich zu verlieren, ihre innere Freiheit aufzugeben. Die Menschen in diesem Beruf sind wirklich in Gefahr.
Das Gespräch führter Johanna Adorján
Jürgen Leinemann: Höhenrausch. Blessing Verlag. 469 Seiten. 20 Euro.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.09.2004, Nr. 39 / Seite 29
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Detlef Lindenthal
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