Duden – Geschichte voller Merkwürdigkeiten
F.A.Z., 10.08.2011
Die optimale Sprache dem Kint mit Leffeln eintrichtern
Vor hundert Jahren starb Konrad Duden, dessen Ansichten zur Rechtschreibung nicht viel mit dem zu tun haben, wofür der Name heute steht. Die Geschichte seines Reformwerks steckt voller Merkwürdigkeiten.
For hundert jaren starb Konrad Duden, ferert als fater der orthografie. Der Mann, dessen Name zum Synonym für buchstäbliche Korrektheit geworden ist, hätte diese Schreibweise nicht als Affront empfunden. Duden war ein Anhänger der „phonetischen Schule“, er träumte von einer Schreibung, in der jedem Laut nur ein Buchstabe entspricht und umgekehrt. „Schreib, wie du sprichst“ war das Prinzip dieser orthographischen Utopie, die freilich voraussetzt, dass alle Menschen ein standardisiertes Hochdeutsch sprechen.
Dass zu seiner Zeit noch die Dialekte den Alltag bestimmten, hielt Duden für ein bald überwundenes Hindernis. Seinem Ideal am nächsten kam die ziemlich lautgetreue italienische Orthographie, die er als Hauslehrer in Genua kennengelernt hatte. Als abschreckendes Gegenbeispiel dienten ihm die Unregelmäßigkeiten der englischen Rechtschreibung; das deutsche Schriftsystem verortete er zwischen diesen Polen. Es zu einer volksnahen, „demokratischen“ Rechtschreibung weiterzuentwickeln, die bildungsferne Schichten von den Mühen komplizierter Regeln erlöst, war sein Ziel.
Unter Arbeitern und Bauern wüte die herrschende Orthographie wie die Pest das hat nicht Duden gesagt, sondern, in einem „Spiegel“-Artikel von 2005, der Kopf der jüngsten Orthographie-Reform, Gerhard Augst. Die soziale Begründung mit ihrer Gleichsetzung von Demokratie und Simplizität ist bis heute der Evergreen der Reformer. Außerhalb der Buchstabenwelt stand Duden selbst aber linken Neigungen durchaus fern. Als Student hatte er sich zwar für die Ziele der versuchten Revolution von 1848 begeistert, doch nach ihrem Scheitern setzte er, wie viele Nationalliberale, auf das autoritäre Preußen als Motor der politischen Vereinigung Deutschlands. Der Schuldirektor Duden war loyaler Monarchist, der seinen Liberalismus auf das Private beschränkte. Sozial engagiert, lehnte er die Sozialdemokratie zutiefst ab.
Zu Beginn der siebziger Jahre, als Duden zum Reformaktivisten wurde, stritten Germanisten und Lehrer schon seit Jahrzehnten über die Orthographie. Eigentlich waren diese Kontroversen überflüssig, denn es gab ganz ohne amtliche Regelungen eine leidlich funktionierende Schreibung, die trotz mancher Varianten schon weitgehend vereinheitlicht war. Sie hatte sich im Laufe der Jahrhunderte aus der Praxis der Schreiber, Drucker und Korrektoren entwickelt. Der Grammatiker Johann Christoph Adelung goss sie Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Regeln. Sein Wörterbuch, „der Adelung“, war eine Art Duden vor dem Duden.
Dass die Orthographie trotzdem zum Zankapfel wurde, lag vor allem am „Vater der Germanistik“, Jacob Grimm. Er fand die Orthographie seiner Zeit „unrichtig, barbarisch und schimpflich“: Durchdrungen von den Ideen der Romantik, war Grimm überzeugt davon, dass die deutsche Sprache im Mittelhochdeutschen ihren Zenit erreicht hatte und sich seitdem auf dem Abstieg befand. Um ihn aufzuhalten und aus dem Geist der restaurierten Sprache die ersehnte deutsche Einheit erstehen zu lassen, entwarf er eine Orthographie, die nicht nur die Substantive klein machte, sondern die Wörter wieder klingen und aussehen ließ wie in den Zeiten Walthers von der Vogelweide: Mond, Licht oder Ereignis sollten künftig wieder mand, liecht und eräugnis heißen. Die Forderung, Löffel durch leffel zu ersetzen, trug Grimms Anhängern den Spottnamen „Leffel-Partei“ ein.
Diese „historische Orthographie“ fand viele Verfechter unter den Germanisten. Deutschlehrer experimentierten mit ihr, sie sorgte für Konfusion in den Klassenzimmern und behinderte über viele Jahre die Rechtschreibentwicklung, die eigentlich auf gutem Wege gewesen war. Erst durch die Irritationen, die von der „Leffel-Partei“ in der Lehrerschaft gestiftet wurde, geriet die Schule überhaupt in den Fokus der Orthographie-Diskussionen.
Von nun an wurde die leichte Erlernbarkeit und nicht die Leistungsfähigkeit des Schriftsystems zum Maßstab. Gegen Grimms „aristokratische Geheimwissenschaft“ formierte sich die phonetische Richtung, deren Ziel eine möglichst lautgetreue und zugleich gegenwartsorientierte Schreibweise war. Der Konflikt zwischen den Fraktionen bestimmte auf Jahrzehnte hinaus die Rechtschreib-Szene. Um die Schwankungsfälle, die es gab wie allmählich und allmählig, deshalb und deßhalb oder Fluth und Flut , zu bereinigen, hätte es eines solchen Grundsatzstreits nicht bedurft. Ebender aber unterminierte jetzt die bereits gewonnene Ordnung, ließ überwundene Unsicherheiten neu entstehen und schuf somit erst die Notwendigkeit einer amtlichen Regulierung.
Nach und nach gewannen die Phonetiker über die „Grimmschen“ die Oberhand. Ihre Ideen entsprachen dem wissenschaftlichen Zeitgeist. Phonetik und Lautphysiologie nahmen in diesen Jahren großen Aufschwung. Sprache bedeutete nun vor allem gesprochene Sprache, während der Eigencharakter des Schriftsystems aus dem Blick geriet. Zum Vordenker einer so inspirierten Orthographiereform wurde der Erlanger Germanistik-Professor Rudolf von Raumer, der bei Jacob Grimm studiert hatte. Für ihn wie für alle Kombattanten im Schriftstreit war die Regelung der Orthographie nicht nur eine schulische Angelegenheit, sondern auch ein Baustein der nationalen Einheit. Noch wichtiger als eine reformierte war Raumer deshalb eine einheitliche Rechtschreibung, die von der Bevölkerung im gesamten Sprachgebiet akzeptiert wurde. Dafür war er bereit, seine phonetischen Ideale zurückzustellen und an die tradierte Schreibweise anzuknüpfen.
Gibt es öffentlichen Verstand?
Diese ausgleichende Haltung, die darauf abzielte, zunächst nur variierende Schreibungen zu regulieren und den Einfluss der historischen Schule zurückzudrängen, verschaffte ihm die Sympathien der Kultusbehörden und vieler Lehrer, die nach einem Ausweg aus der festgefahrenen Orthographie-Debatte suchten. Bald nach der Gründung des Deutschen Reiches bekam Raumer den Auftrag, eine einheitliche Schulorthographie für ganz Deutschland zu entwerfen. Hier und dort verfassten Lehrer schon einmal auf eigene Faust Regeln, unter ihnen Konrad Duden, Gymnasialdirektor im thüringischen Schleiz, dessen Arbeiten die größte öffentliche Beachtung fanden. All diese Orthographien im Eigenbau gründeten auf Raumers Konzepten.
Duden schloss sich, obwohl er die herkömmliche Rechtschreibung als schlimmsten Hemmschuh unserer Volksbildung verdammte, auch Raumers Realpolitik der kleinen Schritte an. So verzichtete er auf die Substantiv-Kleinschreibung und war bereit, das Stammprinzip man schreibt Kind, obwohl man Kint sagt als Lesehilfe zu tolerieren, bis irgendwann das phonetische Prinzip sich endgültig durchgesetzt haben würde. Für den Karrierepädagogen war das Klassenzimmer der Transmissionsriemen der Reform, „weil wir niemals durch die Literatur, sondern nur durch die Schule zu einer einfacheren Rechtschreibung gelangen werden“.
Als 1876 auf Initiative des preußischen Kultusministers Adalbert Falk eine Konferenz in Berlin zusammentrat, um einheitliche Schreibregeln für ganz Deutschland aufzustellen, war Duden bereits prominent genug, um neben Raumer zum Kreis der vierzehn Teilnehmer zu gehören, der sich aus Germanisten, Lehrern, Kultusbeamten und Vertretern der Druckerei- und Buchhändlerbranche zusammensetzte. Alle Eingeladenen akzeptierten Raumers gemäßigte Linie wenigstens als Diskussionsgrundlage. Grimm-Anhänger blieben ebenso ausgeschlossen wie allzu radikale Fonetiker. Nur zwei Konferenzteilnehmer gehörten nicht zu Raumers Parteigängern: der Germanist Wilhelm Scherer und der Privatgelehrte Daniel Sanders aus dem mecklenburgischen Neustrelitz, ein erfolgreicher Lexikograph, dessen Name heute noch im englisch-deutschen Wörterbuch „Muret-Sanders“ fortlebt. Diese beiden Traditionalisten wollten die überlieferte Rechtschreibung im Wesentlichen unangetastet lassen, standen aber einer vorsichtigen Standardisierung wohlwollend gegenüber.
Zunächst beschränkten sich die Konferenzteilnehmer auch programmgemäß darauf, variierende Schreibweisen zu vereinheitlichen. Statt Thau sollte es künftig Tau heißen, gibt statt giebt, Klasse statt Classe oder tot statt todt. Derartige Vorschläge waren unspektakulär, eine schnelle Einigung lag in greifbarer Nähe. Zum Eklat kam es, als die phonetisch orientierte Reformer-Mehrheit unerwartet die Abschaffung der Dehnungszeichen auf die Tagesordnung setzte, um Schreibungen wie Har, Son, Hun, faren oder wülen einzuführen. Nur bei gleichlautenden Wörtern (mahlen/malen) sollten Dehnungskennzeichnungen bleiben, ebenso bei i und e (Lehrer, ihn). Duden gingen die Vorschläge nicht weit genug. Er plädierte auch für Mel, nemen oder stilt. Sanders und Scherer spotteten über die orthographischen Jakobiner, die die „Guillotine niederfahren“ und „die Dehnungszeichen in den Staub rollen“ ließen.
Die Konferenz endete im Fiasko, ihre Vorschläge, auch die maßvollen, fielen durch. Auf der Website des Duden-Verlages kann man heute lesen, Bismarcks Veto sei der Grund des Scheiterns gewesen, doch das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Zwar war der Reichskanzler ein grimmiger Feind aller orthographischen Veränderungen, aber es waren der preußische Kultusminister und seine Kollegen aus den anderen deutschen Bundesstaaten, die, verschreckt von Schreibweisen wie Lon und Sal, das Regelwerk in Bausch und Bogen ablehnten. Sie fürchteten eine Abspaltung der Schulorthographie von der Schreibweise der Verlage und der Mehrheit der Bevölkerung.
Auch die Presse reagierte mit Empörung, die von Scherer und Sanders durch gezielt gestreute Informationen und eigene Beiträge noch zusätzlich angestachelt wurde. Für die Reformer, die sich damals wie heute als Fackelträger der Vernunft sahen, steckte dahinter nichts als Demagogie und dumpfer Konservatismus. Doch für Sanders gehörte die Beteiligung der Medien und der Öffentlichkeit der Duden das Urteilsvermögen absprach zum Prinzip einer wirklich demokratischen Rechtschreibung.
Das Ende der Optimierung
Dudens lautgetreue Regeln fand Sanders täppisch und roh. Demokratisch war für ihn die gewachsene Schreibung als Spiegel des allgemeinen Sprachbewusstseins mit all seinen Nuancen. Er betrachtete die Schriftsteller und Journalisten, die Profis der Schriftsprache, als wichtige Stimmen in der Orthographie-Debatte. Dass sie nicht zur Konferenz eingeladen wurden, dass überhaupt keine öffentliche Diskussion stattfand und stattdessen Schulmeister die neue Orthographie hinter verschlossenen Türen diktieren wollten, kritisierte er scharf. Das Etikett des Rechtsaußen, das Duden und andere Reformer ihm nach der gescheiterten Konferenz anhefteten, widersprach dem Selbstverständnis des Revolutionärs von 1848, der seine Stelle als Direktor einer jüdischen Schule wegen demokratischer Umtriebe verloren hatte.
Zwar war die Reform havariert, doch Raumers moderate Prinzipien, die auf der Konferenz ursprünglich zur Diskussion gestanden hatten, setzten sich während der folgenden Jahre in den einzelnen deutschen Bundesstaaten trotzdem durch. Raumer selbst starb bald nach der Konferenz. Die Rolle des Cheftheoretikers übernahm jetzt der Germanist Wilhelm Wilmanns, dem sein Freund Konrad Duden, inzwischen Schuldirektor im preußischen Hersfeld, als tatkräftiger Praktiker zur Seite stand. Duden verzichtete auf weitere „Optimierungsversuche“ im phonetischen Geist und konzentrierte sich stattdessen auf sein zweites großes Ziel, die Vereinheitlichung der Rechtschreibung. Aufbauend auf seiner Schulorthographie, brachte er 1880 das „Vollständige Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache“ mit 187 Seiten und rund 28 000 Stichwörtern heraus. Dieser Urduden, der von Auflage zu Auflage erweitert wurde, erwies sich als Erfolgsmodell. Schon 1887 waren 220 000 Exemplare verkauft.
Im Juni 1901, ein Vierteljahrhundert nach dem ersten, gescheiterten Versuch, fand in Berlin auf Einladung des Reichskanzlers Fürst Bernhard von Bülow wieder eine Konferenz mit dem Ziel einer gesamtdeutschen Orthographie statt. Man wollte keine fachlichen Diskussionen mehr, sondern schnelle Beschlüsse. Vorbereitet von Duden und Wilmanns, schrieb die Konferenz im Großen und Ganzen nur noch die Regeln fest, die in den Schulorthographien der Bundesstaaten, der Schweiz und Österreichs faktisch schon galten. Was hier beschlossen wurde, war die Grundlage der bis 1996 gültigen Rechtschreibung. Die Vereinheitlichung war gelungen, aber die von den Reformern gewünschte Vereinfachung blieb weitgehend auf der Strecke. Duden fand, „daß die so entstandene ,deutsche Rechtschreibung' weit davon entfernt ist, ein Meisterwerk zu sein“. Ein solches zu schaffen, versuchten während des folgenden Jahrhunderts immer neue Reformergenerationen vergeblich.
Was Duden und andere Reformer bewusst herunterspielten, war, dass die Schrift sich gegenüber dem gesprochenen Wort schon längst emanzipiert hatte. Seit dem Mittelalter als Texte grundsätzlich laut gelesen wurden hatte sie sich vom reinen Laut-Code für das Ohr zu einem differenzierten System für das Auge entwickelt, das dem Leser durch grammatische und semantische Zusatzinformationen die Sinnzusammenhänge verdeutlicht. Viele scheinbar unlogische Regeln erleichtern die visuelle Verarbeitung, weil sie das Schriftbild stabil und ausgewogen halten und die silbische Gliederung der Wörter verdeutlichen. Da die meisten Menschen bedeutend mehr lesen als schreiben, hat sich diese Leselastigkeit der Orthographie immer mehr verstärkt. Der Preis dafür besteht in den Mühen des Schreibenlernens.
Wolfgang Krischke
F.A.Z., 10.08.2011, Nr. 184 / Seite N4,
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