„Wirkungen einer Verfassungsänderung“
Aus den Pressemitteilungen des Bundesverfassungsgerichts:
http://www.bverfg.de/pressemitteilungen/bvg12-063.html
Sondervotum des Richters Gaier:
Das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung schließt den
Kampfeinsatz der Streitkräfte im Inneren mit spezifisch militärischen
Waffen sowohl in Fällen des regionalen (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG) wie in
Fällen des überregionalen (Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG)
Katastrophennotstandes aus. Mit seiner Antwort auf die zweite
Vorlagefrage würdigt das Plenum weder hinreichend den Wortlaut der
einschlägigen Verfassungsnormen unter Berücksichtigung der
Entstehungsgeschichte noch erfolgt eine systematische Auslegung mit
Blick auf die Einheit der Verfassung als „vornehmstes
Interpretationsprinzip“. Insoweit hat der Plenarbeschluss im Ergebnis
die Wirkungen einer Verfassungsänderung.
1. Auch und gerade seitdem nach der Notstandsgesetzgebung anders als vor
1968 der Einsatz des Militärs im Inneren nicht mehr schlechthin
unzulässig ist, bleibt strenge Restriktion geboten. Es ist
sicherzustellen, dass die Streitkräfte niemals als innenpolitisches
Machtinstrument eingesetzt werden. Abgesehen von dem extremen
Ausnahmefall des Staatsnotstandes, in dem nur zur Bekämpfung
organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer als letztes
Mittel auch Kampfeinsätze der Streitkräfte im Inland zulässig sind (Art.
87a Abs. 4 GG), bleibt die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit
allein Aufgabe der Polizei. Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr und
nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die Polizei
verfügen; hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf die
Vernichtung des Gegners gerichtet, was spezifisch militärische
Bewaffnung notwendig macht. Mit dieser strikten Trennung zieht unsere
Verfassung aus historischen Erfahrungen die gebotenen Konsequenzen und
macht den grundsätzlichen Ausschluss der Streitkräfte von bewaffneten
Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des Staatswesens. Wer
hieran etwas ändern will, muss die zu einer Verfassungsänderung
erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten für sich gewinnen, was
Anfang 2009 nicht gelungen ist. Es ist nicht Aufgabe des
Bundesverfassungsgerichts, hier korrigierend einzugreifen.
2. Dass ein Einsatz der Streitkräfte mit militärischer Bewaffnung in
beiden Fällen des Katastrophennotstandes von Verfassungs wegen untersagt
ist, lässt sich mit einer historischen Verfassungsinterpretation, vor
allem aber mit einer systematischen Auslegung des Grundgesetzes
begründen. Entgegen der Auffassung des Plenums hat der Rechtsausschuss
des Bundestages im Rahmen der Notstandsgesetzgebung im Jahr 1968 eine
klare Entscheidung getroffen und in seinem damaligen Bericht, der
Grundlage für den Gesetzgebungsbeschluss des Bundestages zur
Verfassungsänderung war, unmissverständlich vorgeschlagen, den Einsatz
militärisch bewaffneter Streitkräfte auf den Staatsnotstand als eine
besonders gefährdende Situation des inneren Notstandes (Art. 87a Abs. 4
GG) zu beschränken. Zudem lässt das Plenum völlig außer Acht, dass zur
Zeit der Notstandsgesetzgebung eine weitergehende Zulassung des
Einsatzes militärisch bewaffneter Einheiten der Streitkräfte im Inneren
politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Im Einklang damit steht die
Systematik, die das Grundgesetz mit der Implementierung der
„Notstandsverfassung“ erfahren hat. Die strikte Trennung der Regelung
des Katastrophennotstandes einerseits von der des inneren Notstandes
andererseits belegt, dass diese beiden Fälle des Streitkräfteeinsatzes
im Inneren völlig unterschiedliche, sich nicht überschneidende
Anwendungsbereiche haben und deshalb nicht durch die Zulassung
spezifisch militärischer Bewaffnung auch in Fällen des
Katastrophennotstandes vermengt werden dürfen. Zudem lässt auch der
Umstand, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der
Bundesregierung einem Kollegialorgan die Zuständigkeit für die
Einsatzentscheidung zuweist, nur den Schluss zu, dass er von vornherein
den Einsatz spezifisch militärischer Waffen im Katastrophennotstand
nicht für erforderlich hielt und damit auch nicht legitimieren wollte.
Denn Gefährdungslagen, denen effektiv nur mit dem Einsatz solcher Waffen
mit Vernichtungskraft begegnet werden kann, sind dadurch gekennzeichnet,
dass ihrer Beseitigung jede zeitliche Verzögerung abträglich ist. Daher
wäre die Betrauung eines in der Entscheidungsfindung vergleichsweise
schwerfälligen Kollegialorgans mit der Initiativbefugnis zum
Einschreiten gerade auch mit Blick auf die vom verfassungsändernden
Gesetzgeber angestrebte „wirksame Bekämpfung“ dysfunktional.
3. Der Plenarbeschluss kann mit den von ihm entwickelten Kriterien eine
Umgehung der engen Voraussetzungen des inneren Notstandes nach Art. 87a
Abs. 4 GG durch die weniger strengen Voraussetzungen des
Katastrophennotstandes nicht verhindern. Der Versuch der weiteren
Eingrenzung des bewaffneten Streitkräfteeinsatzes durch das Erfordernis
eines „unmittelbar bevorstehenden“ Schadenseintritts „von
katastrophischen Dimensionen“ wird der nötigen Klarheit und
Berechenbarkeit nicht gerecht. Es handelt sich um gänzlich unbestimmte,
gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der
täglichen Anwendungspraxis etwa bei regierungskritischen
Großdemonstrationen viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, wenn
nicht gar voreilige Prognosen lassen. Das ist jedenfalls bei
Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte nicht hinnehmbar.
Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie
Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.
4. Im Übrigen bietet der durch den Plenarbeschluss nun erweiterte
Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Inneren für den Schutz der
Bevölkerung namentlich vor terroristischen Angriffen keine messbaren
Vorteile. Zwar mag es danach nunmehr zulässig sein, dass Kampfflugzeuge
unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 LuftSiG „Luftfahrzeuge
abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen
oder Warnschüsse abgeben“. Die erfolgreiche Gefahrenabwehr durch solche
Maßnahmen wird allerdings insbesondere in „Renegade“-Fällen deshalb
wenig wahrscheinlich sein, weil der Abschuss von Flugzeugen, in denen
sich Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden, mit dem Grundrecht
auf Leben in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde unvereinbar
ist und unzulässig bleibt. Es kommt hinzu, dass auch nach der
Auffassung des Plenums ohne Verfassungsänderung allein die
Bundesregierung nach Maßgabe des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG über den
Einsatz militärischer Waffen gegen Luftfahrzeuge befinden kann, was
angesichts des vergleichsweise kleinen deutschen Luftraums kaum jemals
zu einer rechtzeitigen Maßnahme führen wird. Soll danach der Rahmen, den
das materielle Verfassungsrecht für eine effektive Abwehr von Gefahren
aus dem Luftraum lässt, genutzt werden, so ist trotz der nun erweiterten
Zulässigkeit von Kampfeinsätzen eine Verfassungsänderung gleichwohl
unvermeidlich.
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Norbert Lindenthal
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