Rede vor dem Bundestag
Die diesjährige Rede zum Holocaust-Gedenktag hielt Prof. Dr. Ruth Klüger. Sie ist emeritierte Professorin der Germanistik und deutschen Literaturwissenschaft der Universitäten Princeton und Irvin/California und außerdem Gastprofessorin in Göttingen. 1931 in Österreich geboren, mußte sie als junges Mädchen von 1942-45 verschiedene nazistische Konzentrationslager durchleiden und emigrierte 1947 in die USA. Ihre Rede ist auf der Seite des deutschen Bundestages veröffentlicht.
Dieser Text erhellt (sofern nicht noch andere daran manipuliert haben) für einige Momente ungewollt auch, welche Schwierigkeiten selbst Fachleuten die „erleichternde“ Reformschreibung bereitet. Die Abweichungen von der politisch gewollten Orthographie wurden bislang nicht „verbessert“, anders als bei Navid Kermanis fehlerfrei traditionell geschriebener Rede, die nur kurze Zeit unreformiert stehen bleiben durfte:
[Französische Gefangene] Wenn sie grinsend zu den Frauen geschlendert kamen mit den Worten: Plus de travail, les filles, so konnte man sich darauf verlassen, dass sie eine Maschine stillgelegt hatten, indem sie die richtigen Schrauben lockerten oder sonstwas Unauffälliges anstellten, das die Deutschen erst finden und richten muβten. Sklaven- oder Zwangsarbeit hat ihre Tücken, und für die Nazis ist wohl oft weniger dabei herausgesprungen als sie ursprünglich am Reiβbrett errechneten. Leider immer noch zuviel. Genau gesehen ist Zwangsarbeit insofern schlimmer als Sklavenarbeit, weil der leibeigene Sklave einen Geldwert für seinen Besitzer hat, den dieser verliert, wenn er den Sklaven verhungern oder erfrieren läβt...
Fast niemand im Lager menstruierte, dazu braucht's ein gesünderes Leben. Sie waren vor allem Hausfrauen gewesen. Das war die Generation, die nur selten Berufe ausserhalb des Haushalts ausübte. Sie waren Menschen der Mittelklasse, die Generation meiner Mutter, um die Jahrhundertwende geboren, die erzogen wurden und damit gerechnet hatten, dass die Männer in der Familie sie zeit ihres Lebens ernähren und beschützen würden...
In manchen Konzentrationslagern für Männer, darunter Mauthausen, das einzige KZ in meinem Geburtsland Österreich, gab es sogenannte Sonderbaracken, wo Frauen, hauptsächlich im Frauenlager Ravensbrück rekrutiert, gewissen KZ Insassen zur Verfügung standen... Die Frauen waren in ständiger Gefahr geschlechtskrank oder schwanger zu werden, durch einen serienmäβigen Geschlechtsverkehr, der je höchstens 20 Minuten dauern durfte, während draussen vor der Baracke schon eine Schlange wartender Männer stand. Das ist nicht eine Arbeit, die man sich freiwillig aussucht, wie den miβbrauchten Frauen nach dem Krieg manchmal zynisch vorgeworfen wurde...
Ich weiss nicht mehr, wie ich mich entschied, nur dass er mir das Schmalzbrot nicht gegeben hat... Er fraβ mit Genuβ, während er mir vom hungernden Deutschland berichtete... Es gab jetzt so wenig zu essen, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als an Nahrung. Wenn ich meine Tagesration bekam, schlug ich die Zähne ins Brot, als müβte ich mir das ganze Stück auf einmal in den Mund stopfen. Ganz selten sah ich mich wie von auβen und schämte mich...
Die wohlmeinenden Erzähler wussten nicht, oder wollten nichts wissen, von der wachen Zurückhaltung, dem Miβtrauen, der Verachtung oder dem Neid, der Über- oder Unterschätzung des Feindes, die in diesen unbezahlten Haushaltshilfen gesteckt haben muss... Wenn die damaligen deutschen Kinder, inzwischen Erwachsene, die für mich diese Erinnerungen auskramten, diesen Konflikt nicht wahrhatten, so kommt das daher, dass keiner sich so ohne weiteres als Feind sieht...
bundestag.de 27.1.2016
Eine andere Veröffentlichung gibt auch den Schluß reformwidrig wieder:
Aber eine neue Generation, nein, zwei oder sogar drei Generationen sind seither hier aufgewachsen, und dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Grossherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Aussenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit grosser Freude Ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen, in Ihrer Hauptstadt, über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutendem und dabei heroischem Wahlwort: Wir schaffen das.
hpd.de 28.1.2016
Junge Juden, wie Michael Hasin, sehen das aber durchaus anders:
„Über den Weg, den Merkel eingeschlagen hat, bin ich entsetzt, genauso wie – nach meinem Empfinden – die große Mehrheit aller Juden hier ...“
Siehe auch Henryk M. Broder in welt.de 29.1.2016
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