Augsburger Allgemeine
Studie
20 Jahre Rechtschreibreform: Was hat's gebracht?
Von Anfang an hagelte es Kritik an der Rechtschreibreform. Viele sind der Meinung, sie habe verunsichert und nicht vereinfacht. Was den Schülern besonders Probleme bereitet. Von Rüdiger Heinze
[Symbolbild] Die neuen Rechtschreibregeln sind bis heute umstritten. Foto: Jens Büttner (dpa)
Die Internet-Zeitung Der Postillon ist eine hübsche Satire-Publikation. Regelmäßig widmet sie sich auch den Medien, der Kommunikation und der Schrift. Neulich postete sie: „Wissenschaftliche Sensation: Schimpanse kann Bild-Zeitung lesen“. Und: „online-Nachrichten immer hysterischer!“
Dass aber eine weitere mehr oder weniger sarkastische Nachricht zur Sprache derart hohe Wellen schlagen würde wie jene vom 31. Mai, konnte sie nicht ahnen. Damals verbreitete Der Postillon, dass das deutsche Bildungsministerium die Rechtschreibreform fortsetze und die Wörter „seid“ und „seit“ wegen ihrer Verwechslungsgefahr zu „seidt“ verschmelze. – Nett.
Indes wurde die hanebüchene Idee voller Ironie begierig – und natürlich in Verkennung der tatsächlichen Lage – vom Mitteldeutschen Rundfunk aufgegriffen und als offizielle Meldung hinausposaunt. Hinterher freilich, da herrschte Zerknirschung und Prüfungseifer darob, wie das hatte passieren können – ausgerechnet in einer Fachsendung zu „20 Jahre Rechtschreibreform“. Ein symptomatischer Fall?
Vielleicht. Doch wie auch immer: Tatsächlich ist die deutsche Rechtschreibreform bereits 20 Jahre alt – eingeführt im Sommer 1996 mit der Maßgabe einer vereinfachten Rechtschreibung, fortgeschrieben im Sommer 2006 in dritter überarbeiteter Fassung.
Über viele Jahre hinweg war sie begleitet von Widerspruch, Streit, Rebellion. Erinnert sei nur an die Frankfurter Protest-Erklärung mit hundertfachen Unterschriften von Schriftstellern (1996) und an den Volksentscheid Schleswig-Holsteins von 1998, der die dortige Wiedereinführung der alten Rechtschreibung beschloss, aber ein knappes Jahr später vom Landtag aufgehoben wurde.
Fehler in den Bereichen, die vereinfacht werden sollten
Und es sei daran erinnert, dass heute, gleichsam zum „Jubiläum“ der Rechtschreibreform, mehrere Rechtschreibungsregelwerke nebeneinander existieren: parallel zum Duden zahlreiche inoffizielle Verordnungen in Verlagshäusern. Das trägt weniger zur Vereinfachung bei – wie wünschenswert diese im Übrigen tatsächlich war/ist! – als zu Verunsicherung, Aufweichung, ja Auflösung des offiziellen Regelwerks, das mittlerweile sowieso vermehrt Alternativ-Formen zulässt (feuerspeiend, Feuer speiend).
Genau diese Aufweichung und Auflösung einer ehedem weit verbindlicheren Regelung war der Rechtschreibreform von Anfang an vorausgesagt worden – und sie scheint auch eingetreten zu sein im Zusammenspiel mit weiteren, kaum konstruktiven Kräften – wie verkürzte Einübungszeiten an den Schulen, Lese-Unlust, privates „Regelwerk“ im alltäglichen Mail-Schnellaustausch.
Jedenfalls gibt – unabhängig der Klagen von Universitäten und Lehrherren – eine neue Schüler-Studie zu denken, nach der ausgerechnet in jenen Bereichen der Rechtschreibreform verstärkt Fehler auftreten, die ursprünglich gerade durch die Reform vereinfacht werden sollten: ss- und ß-Schreibung, Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung. Erstellt hat die Studie („Orthographische Regelwerke im Praxistest. Schulische Rechtschreibleistungen vor und nach der Rechtschreibreform“) der ehemalige Deutschlehrer und Pädagogenausbilder Uwe Grund mit Unterstützung der „Forschungsgruppe Deutsche Sprache e.V.“.
Fehlerzahl von vier auf sieben Fehler gestiegen
Ein wesentlicher Befund daraus lautet: Bei Gymnasiasten der Klassen 5 bis 7 ist die durchschnittliche Fehlerzahl in Vergleichsdiktaten aus den 70er Jahren und aus den Jahren nach 2000 von vier Fehlern auf sieben Fehler gestiegen. Ein Anlass für Uwe Grund, die Rechtschreibreform als „Flop“ zu betrachten: „Sie hat in das historische, gewachsene orthographische Regelwerk eingegriffen, ohne den damit verknüpften Anspruch [der Vereinfachung] einzulösen.“ Und auch Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, befindet: „Ein gescheitertes Projekt – gehen wir zurück zur bewährten Schreibung, wie wir sie noch bis 1995/96 hatten.“ Nicht nur die Schreib- und Lesbarkeit von Texten habe gelitten, sondern auch das semantische Differenzierungsvermögen.
Und noch von dritter Seite hagelt es zum 20. Geburtstag der Rechtschreibreform Kritik – vom Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbands, Heinz-Peter Meidinger. Er geht in der Diskussion allerdings ins Grundsätzliche und bemängelt, dass der Rechtschreibunterricht seit den 90er Jahren von der Bildungspolitik deshalb systematisch vernachlässigt worden sei, weil er als „Bildungsbarriere“ galt. Wenn Meidinger recht (Recht) hat, wenn dem tatsächlich so ist, dann wäre mit dem Einreißen besagter „Bildungsbarriere“ eine neue Hürde für all jene Schüler aufgebaut worden, die nach Schulabschluss orthographisch unzulängliche Bewerbungsschreiben verschickten...
Was aber sagt der „Rat für deutsche Rechtschreibung“, dem noch bis 31. Dezember Hans Zehetmair vorsitzt, zu diesem Thema? Auch er sieht ganz klar die Notwendigkeit, die Leistungen der Schüler in der Rechtschreibung zu steigern. In einer aktuellen Stellungnahme zu „Rechtschreiben – eine Grundkompetenz in Schule und Gesellschaft“ fordert der Rat unter anderem: „genügend Lern- und Übungszeit für den Erwerb der Orthographie in der Schule“, dazu „die Formulierung von Mindeststandards für die Orthographie“ sowie „Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung (sic!), in der die deutsche Orthographie fachwissenschaftlich, fachdidaktisch und lerntheoretisch angemessen berücksichtigt ist“.
Es scheint etwas im Argen zu liegen in Deutschland. Bildungspolitiker aller Parteien: Übernehmen Sie!
augsburger-allgemeine.de 27.8.2016
Die Augsburger Allgemeine schreibt hier „th“ für das griechische ϑ und „ph“ für φ, während sonst die halbreformierte „Orthografie“ aufgedrängt wird – allein wegen der verbreiteten Bequemlichkeitsschreibung Fotograf und Telefon. Das war eine der Schwachstellen, an denen die Reformklempner (Reform Plumbers) wieder ihre Einbruchswerkzeuge angesetzt haben, um mit der Taktik der „gezielten Variantenführung“ bisher ungebräuchliche f-Schreibungen durchzudrücken. Nur bei der „Filosofie“ wagte man es nicht.
(Da hier viel Bekanntes wiederholt wird, sollte der Artikel gekürzt werden. Aus Zeitmangel habe ich es bisher unterlassen.)
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