Josef Kraus
Der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, fordert eine „Revolte für die bewährte Bildung“, die die „Errungenschaften“ der 68er-„Studierenden“-Revolte ganz erheblich zurückstutzen muß. Die JUNGE FREIHEIT druckt diesen Vortrag in der bewährten Rechtschreibung ab, die ohne den sinnlosen Bildersturm der Fortschritts-Taliban nie in Bedrängnis gekommen wäre. Hier ein Auszug aus seinen Gedanken:Niedergang des Schulsystems seit 1968
Revolte für bewährte Bildung
von Josef Kraus
Im kommenden Jahr 2018 wird es zu deren fünfzigstem „Geburtstag“ wieder so manche weihrauchschwangere Jubel-Arie über die Errungenschaften der Achtundsechziger geben. Daß deren größte Hinterlassenschaft aber ein weitreichender Bildungsabbau ist, wird übersehen werden.
Denn wohin man schaut, nur gähnende Leere: Die Zahl der Rechtschreibfehler, die Zehnjährige machen, hat sich binnen 40 Jahren um 77 Prozent erhöht. Deren Wortschatz wurde in dieser Zeit, schulamtlich vorgegeben, von 1.100 auf 700 Wörter reduziert. In Berlin dürfen sich Schüler der 10. Klasse mit Mathematikaufgaben herumschlagen, die früher Drittkläßler bewältigten: „Gegeben sind die Ziffern 2, 3 und 6. Bilde daraus die größtmögliche dreistellige Zahl!“
Unter Schulabsolventen hat sich ein zeitgeschichtlicher Analphabetismus breitgemacht: [...]
Die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse hat sich in wenigen Jahren vervielfacht. Weil ein Abiturzeugnis oft nur noch eine Studierberechtigung, aber keine Studierbefähigung mehr attestiert, gibt es in universitären Fachbereichen 30 und mehr Prozent Abbrecher; und immer mehr Hochschulen richten für Studienanfänger „Liftkurse“ ein, um aufzuholen, was die jungen Leute aus der Schule nicht mehr mitbringen. In Baden-Württemberg hat es eine grün-rote Regierung geschafft, aus einem Bildungs-Musterländle einen Bildungsabsteiger zu machen. Die Defizitliste ließe sich wahrlich endlos fortsetzen.
Anstatt aber etwas gegen diese Defizite zu tun, schwärmt eine ewigmorgige, progressive Schulpolitik und -pädagogik schon wieder von neuen Visionen: „Gymnasium für alle!“ „Lebensraum Schule!“ „Offene Schule!“ „Bildung darf nichts kosten, außer ein wenig (sic!) Anstrengung!“ „Keine Kränkungen mehr durch Noten und Zeugnisse!“ „Kein Streß mehr mit Hausaufgaben und Auswendiglernen!“ „Neue Unterrichtskultur durch selbstgesteuertes, hirnbasiertes Lernen!“ „Schluß mit Frontalunterricht!“
Das ist Verschleierungs- und Ablenkungstaktik. Denn hinter all den Visionen verbirgt sich das krachende Scheitern pädagogischer Irrlehren. Diese gilt es aufzudecken und zu entzaubern.
Eine erste Irrlehre ist der Egalitarismus. Das ist der Irrglaube, daß alle Menschen, Strukturen, Werte, Inhalte gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, daß es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen sowie keine bestimmten Werte geben dürfe. Schule ist aber keine Institution zur Herstellung von Gleichheit, sondern zur Förderung von Verschiedenheit und Individualität.[...]
Eine zweite Irrlehre ist die Hybris des Machbarkeitswahns. Das ist der aus dem Marxismus („Der neue Mensch wird gemacht“) und dem Behaviorismus („Der neue Mensch ist konditionierbar“) abgeleitete Wahn, jeder könne zu allem „begabt“ werden. Aber: Es gibt Unterschiede in der Begabung von Menschen.[...]
Was den Faktor Begabung betrifft, so mag es heute politisch nicht korrekt sein, davon zu sprechen. In manchen Diskussionen ist aus Begabung eine „vermeintliche Begabung“ geworden. Wissenschaftlich haltbar ist eine solche Diktion nicht. [...]
Eine dritte Irrlehre ist die Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik. Diese tut so, als ob Schule immer nur „cool“ sein könne und ja alles tun müsse, daß sich Kinder bitte nicht langweilten. In der Folge wurden Leistung und Anstrengung schier zu Mißgunst-Vokabeln erklärt. [...]
Eine vierte Irrlehre ist die Quotengläubigkeit. Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müßten möglichst alle das Abiturzeugnis bekommen, und es dürften möglichst wenig oder gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müßte doch eigentlich klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur! Und: Die Wachstumsbremse der Zukunft wird die Pseudoakademisierung sein – weil diese einhergeht mit einem gigantischen Fachkräftemangel. [...]
Die fünfte Irrlehre heißt Utilitarismus. Das ist ein Trend, der vor langer Zeit eingeschlagen wurde. Vor mehr als einem halben Jahrhundert, 1961, hat die OECD, die ja auch für die Pisa-Testerei verantwortlich zeichnet, in einem Grundsatzpapier festgehalten: „Heute versteht es sich von selbst, daß auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, daß es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.“ [...]
Die sechste Irrlehre heißt Empirismus (Testeritis, Evaluationitis). Sie hat viel mit Pisa und Co. zu tun. Dahinter steckt die Vorstellung, alle Bildung müsse sich messen und in Rankingtabellen abbilden lassen. Wer aber so tut, als sei Bildung das, was Pisa mißt, der hat ein armes, ja ein erbärmliches Bildungsverständnis. Denn Pisa und die sogenannte empirische Bildungsforschung haben nur noch das an schulischem Lernen im Blick, was sich messen läßt.[...]
Nicht erfaßt von Pisa werden folgende Bildungsbereiche: sprachliches Ausdrucksvermögen, Fremdsprachenkenntnisse, Wissen in den Bereichen Literatur, Geschichte, Geographie, Politik, Wirtschaft, Religion/Ethik, ästhetische Bildung in den Fächern Kunst und Musik usw.
Und schließlich die Irrlehre eines seichten Psychologismus: Das ist der Irrglaube, Pädagogik von einer vagen Traumapsychologie her aufziehen zu können. Alle Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren Bedürfnissen her gedacht werden. Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert werden. [...]
Wer trägt die Schuld an all dem? Wahrscheinlich hat der destruktive Erfolg der Achtundsechziger zu tun mit dem Nationalcharakter der Deutschen, nämlich deren Selbstvergessenheit. Dagegen brauchen wir eine Revolte. Denn nach all den skizzierten Irrlehren drohen Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität unterzugehen.
Viel zu lange wurde Bildung – je nach Bundesland unterschiedlich intensiv – kopf- und konzeptionslos re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben. Dabei hat jeder junge Mensch nur eine einzige „Fertigungs“-Biographie! Vor allem brauchen wir endlich eine Schulpolitik und eine Pädagogik, die Probleme löst und keine neuen Probleme schafft.
Josef Kraus war von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Dem vorliegenden Text liegt Kraus‘ Vortrag in der Bibliothek des Konservatismus in Berlin vom 8. November zugrunde.
jungefreiheit.de 18.11.2017 Den letzten heute entscheidenden Punkt deutet Josef Kraus nur ganz zart an als „deutsche Selbstvergessenheit“ – verständlich, denn anders darf man von jedem dummdreisten Fraktionsvorsitzenden im Bundestag als Anhänger einer Massenmordideologie bezeichnet werden.
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