Brief an Kammerer
Prof. Dr. Theodor Ickler
Ringstr. 46
91080 Spardorf
29.10.1999
Herrn
Regierungsschuldirektor
Edmund Kammerer
Ministerium für Kultus usw.
Postfach 103442
70029 Stuttgart
Rechtschreibreform
Sehr geehrter Herr Kammerer,
Frau ... hat mir freundlicherweise Ihr Schreiben (45-6521-D/401) zugänglich gemacht, und ich möchte mir erlauben, dazu einige Anmerkungen zu machen.
Was die Einheitlichkeit angeht, so ist trifft es selbstverständlich zu, daß auch bisher schon nicht jeder nach dem Duden schrieb. Allerdings ist hier zu unterscheiden: Dem Duden war seit je vorzuwerfen, daß er sich im Wörterverzeichnis zu vielen Einzelwortfestlegungen hatte verleiten lassen, die zum Teil unrealistisch waren, ganz im Gegensatz zum recht liberal formulierten Regelwerk. Man hätte dem abhelfen können durch Entstaatlichung der Orthographie, d. h. den Übergang zu einer generellen Orientierung am allgemein Üblichen, wie es in freiem Wettbewerb der orthographischen Wörterbuchpraktiker zu ermitteln gewesen wäre. Ich habe dies oft dargelegt, auch in meinen Vorlagen für das Bundesverfassungsgericht (die Sie gewiß kennen), und mein in der Überarbeitung befindliches Wörterbuch zeigt exemplarisch, wie so etwas zu machen wäre. Ich würde gern einmal von seiten eines Kultusministeriums erfahren, was an diesem englischen Modell auszusetzen ist und warum es in Deutschland nicht praktikabel sein soll. Die triumphierende Feststellung so vieler Reformbetreiber, jetzt habe endlich der Staat wieder die volle Kompetenz über die deutsche Orthographie zurückgewonnen, ist sehr befremdlich.
Jedenfalls ist die jetzt verordnete Variantenfülle auf der einen Seite, zugleich aber noch sehr viel weiter gehende Einzelwortschreibung auf der anderen etwas ganz anderes als die gewachsene Bandbreite von Schreibmöglichkeiten, die sich einfach aus der Sache selbst ergeben. Von kaltstellen/kalt stellen, ineinanderschlingen/ineinander schlingen usw, jeweils nur eine Schreibweise für zulässig zu erklären, ist reine Willkür und macht das Lernen, da es sich um Tausende von Fällen handelt, schier unmöglich. Niemand kann denn auch behalten, ob es neuerdings zu Grunde, zu Gute, zu Liebe gibt oder nicht; man weiß nur, daß manchmal zwei und manchmal eine, manchmal die bisherige, manchmal nur die neue, manchmal beide Schreibweisen zulässig sind.
Ob die Umstellung an den Schulen so problemlos verlaufen ist, wie Sie sagen, ist bisher überhaupt nicht untersucht worden. An meinen beiden schulpflichtigen Kindern sehe ich, daß die Lehrer durchweg viel zu wenig anstreichen, weil sie verständlicherweise keine Lust haben, jedesmal an mehreren Stellen nachzuschlagen, und außerdem angewiesen sind, alle neuen Schreibweisen (auch einander widersprechende und auf falscher Regelauslegung beruhende wie wieder sehen usw.) als richtig und nur die bisherigen als "überholt zu kennzeichnen. Da vom relevanten Rechtschreibwortschatz der Grundschulen, die Sie ausdrücklich erwähnen, nur maximal drei Dutzend Wörter betroffen sind, alle wegen ss, geht Ihre Behauptung, hier gebe es nur Zustimmung, nahezu ins Leere. Daß gerade die ss-Schreibung eine neue Fehlerquelle ersten Ranges ist, zeigt jeder Blick in eine Tageszeitung oder eben in Schulhefte, ja sogar in Schreiben der Lehrer an die Eltern!
Übrigens ist von den Schulbüchern meiner elfjährigen Tochter nur ein einziges in neuer Rechtschreibung gehalten! Von problemloser Einführung zu sprechen, ist da doch etwas gewagt.
Bei den Revisionsarbeiten der Kommission ist zu unterscheiden:
Erstens wird die Kommission die Fehler der Reform korrigieren, deren Korrektur sie schon im Dezember 1997 als unumgänglich notwendig gekennzeichnet hat, und noch einige inzwischen ebenfalls als fehlerhaft erkannte Regeln. Dazu gehören Leid tun (so Leid es mir tut) usw., ferner vor allem wesentliche Teile der Getrennt- und Zusammenschreibung. (Der Reformer Augst behandelt die damals vorgeschlagenen Korrekturen in seinem Wortfamilienwörterbuch bereits als akzeptiert.) Übrigens ist ein Teil dieser Korrekturen bereits auf kaltem Wege, nämlich durch Instruktion ausgewählter Wörterbuchredaktionen in die Wege geleitet worden; Bertelsmann ist hier mit einer zweiten Auflage vorangegangen, Duden folgt demnächst.
Zweitens wird die Kommission zurücknehmen, was von der Sprachgemeinschaft nicht akzeptiert worden ist. Dies zu beobachten gehört ja zu ihrem Auftrag. Nachdem die Nachrichtenagenturen und Zeitungen ausdrücklich festgelegt haben, daß sie bei der bisherigen Kommasetzung bleiben werden, und auch die Reformer selbst (ebenso wie Sie) die Kommas weiterhin setzen wie bisher, steht definitiv fest, daß dieser nicht unwesentliche Teil der Regeln von Grund auf geändert, d. h. großenteils gestrichen werden muß. Ebenso scheint mir, daß die Kleinschreibung fester Begriffe (Erste Hilfe usw.) nicht haltbar ist, nachdem die Zeitungen, die ja seit je zu umfassender Großschreibung auf diesem Gebiet neigen, beschlossen haben, ihren Usus beizubehalten.
Ich will nicht weiter in die Einzelheiten gehen, obwohl ich selbstverständlich noch eine große Zahl weiterer, mit Sicherheit bevorstehender Änderungen nennen könnte. Ob man dies nun Reform der Reform nennt (wie der Berliner Schulsenat) oder Anpassung an die tatsächliche Entwicklung (was nur die zweite Hälfte der bevorstehenden Änderungen trifft), tut nichts zur Sache.
Am wichtigsten scheint mir freilich, daß der nun doch sehr deutlich gewordene Zwiespalt zwischen Schulorthographie und tatsächlich in der Sprachgemeinschaft üblicher Schreibweise behoben wird. Es ist nicht zu verantworten, daß die Kinder länger als notwendig zum Beispiel eine Kommasetzung lernen, die niemand sonst, auch die Reformer nicht, praktiziert. Des näheren verweise ich auf meine Vorläufige Bilanz.
Mit freundlichen Grüßen
__________________
Th. Ickler
|