SZ Sächsische Zeitung
Sächsische Zeitung
Samstag, 21. August 2004
Unverwechselbar gelb: Einbände für die neue Ausgabe des orthografischen Wörterbuchs aus dem Mannheimer Dudenverlag Foto: Markus Proßwitz
In sz-online
Länder überwiegend für Rechtschreibreform
Focus: Nur Niedersachsen, das Saarland und Sachsen-Anhalt gegen die weitere Umsetzung
Der Frisör altert sichtlich
Trotz erregter Debatten um die Rechtschreibreform: In der nächsten Woche wird ein neuer Duden herauskommen – Ein Besuch in der Mannheimer Wörterbuch-Redaktion
Von Karin Großmann
Nicht einen Augenblick lang, sagt Matthias Wermke, nicht eine Sekunde lang habe er daran gedacht, die neue Ausgabe des Dudens zu verschieben. Standhaft wie der Kanzler im hartzigen Montagswind steht der Verleger. Unbeirrbar. Dass vermeintliche und tatsächliche Oberhirten der deutschen Sprache seit Wochen zornig die Fäuste ballen, dass Bildungsminister klagend den Untergang des Abendlands prophezeien, dass der Kulturkampf ums Doppel-S die Bevölkerung erregt wie bisher nur das Dosenpfand – es ficht ihn nicht an. Denn erstens gibt es Streit um die Rechtschreibung, seit es Rechtschreibregeln gibt. Also seit der Zeit jenes weißhaarigen Herrn Konrad, der dem Verleger mild von der Wand auf den Schreibtisch blickt. Zweitens gehört es zur Tradition des Dudens, das zu veröffentlichen, was amtlich gewollt und in den Schulen gelehrt wird. Also jetzt das Regelwerk von 1996 samt den Änderungen vom letzten Juni. Drittens, sagt der Verleger, soll man die Kirche dort lassen, wo sie hingehört. Also im Dorf.
Sprache lebt, doch zurzeit lebt sie etwas heftig
Was er damit meint, beschreibt Matthias Wermke gern am Beispiel von Martin Walsers Novelle „Dorle und Wolf“. Der Literat ist Reformgegner. Das macht ihn als Beispiel geeignet. Beim Lesen zumindest des ersten Novellenkapitels hat Wermke die Wörter angestrichen, die jetzt anders geschrieben werden müssten: 33 von 1 614. Die meisten sind betroffen, wenn ss das ß ersetzt. Der Rest hat mit Getrennt- und Zusammenschreibung zu tun. Ach, und ein Stengel kommt noch drin vor, weil Walser dieses Wort lieber benutzt als Stiel.
Und so, sagt Matthias Wermke, sei es mit allen Texten: Es ändern sich kaum mehr als zwei Prozent der Wörter. Zwei Prozent? Am Schreibtisch kommt einem das ganz anders vor. Sprache lebt, ist schon richtig, doch zurzeit lebt sie ein bisschen heftig. Bei jedem dritten Satz muss man nachgucken. Weil man Steine umdreht, die man früher nicht umgedreht hätte, sagt Verlagssprecherin Angelika Böhm, weil man sensibilisiert ist. Mancher sieht sich wohl eher irritiert. Da tröstet es leider gar nicht, wenn der Dudenchef prophezeit, dass die Getrennt- und Zusammenschreibung vielleicht nie endgültig zu regeln sein wird.
Der weißhaarige Herr an der Wand muss so was geahnt haben. In weiser Voraussicht nahm Konrad Duden solche Regeln gar nicht erst in sein Wörterbuch auf. Er pfiff auch auf Interpunktion. Und deshalb kam von Jahr zu Jahr, von Auflage zu Auflage mal die eine Regel und mal die andere ins Buch. Da war es nur vernünftig, sagt Matthias Wermke, für Systematik zu sorgen. Gleich hört man den Aufschrei von der gegnerischen Tribüne. Systematik??? Anarchie! Chaos! Wirrwarr! „Spiegel“-Chef Aust spricht von „staatlich verordneter Legasthenie“. Protestwellenreiter wie er fordern nicht mehr nur die Rückkehr zur alten, sondern zur „klassischen“ Rechtschreibung.
Die Übergangsphase wird noch Jahre dauern
Das ist die Stelle, an der Matthias Wermke in ein höhnisches Lachen ausbricht. Was denn damit gemeint sei, fragt er, ob womöglich an Goethe gedacht sei, der in Sachen Rechtschreibung weiß Gott nicht als kompetent gelten könne, und wie bitte das geregelt werden solle, was in der angeblich klassischen Rechtschreibung nicht geregelt war. Ob man zurück bis 1902 wolle? Alles bloß Trara.
Kritiker der Kritiker reden von Medienmacht-Demonstration und von bewusster Ablenkung. Oder welchen Grund sollte es sonst geben für das neue Aufflammen der Debatte? „Da kann ich nur spekulieren“, sagt der Dudenchef. Er spekuliert dann aber doch nicht. Der sonst so beredte Mensch schweigt. Nach einigem Nachdenken wagt er sich vor bis zur Feststellung: „Ich denke, wir haben auf dem Bildungssektor weit wichtigere Probleme, als ob man Känguru mit oder ohne h schreibt.“
Auch die neue Duden-Ausgabe wird das Tier in beiden Schreibweisen springen lassen – und all die lieben Wörter kennen wie sogenannt und hierzulande, ebensogut und übriglassen, die 1996 schnöde auseinander gerissen worden waren. Auseinandergerissen. Eben. Den Neuschrieb macht der neue Duden wie bisher kenntlich mit roter Schrift. Die Übergangsphase, meint Wermke, werde noch Jahre dauern. So lange herrscht Variantenvielfalt. Mit der Zeit soll sich die Vielfalt von selbst reduzieren. Auf diese Weise setzte sich das Telefon gegen das Telephon durch. Der Frisör altert sichtlich. „Sprache funktioniert nach dem Ökonomieprinzip“, sagt Matthias Wermke. „Nichts wird mitgeschleppt, was umständlich ist. Varianten sind umständlich.“
Das dürfte auch jene freuen, die bei Zweifelsfällen in der Duden-Redaktion anrufen. Sie sind nicht am hohen Gut der Wahlfreiheit interessiert, sondern wollen bloß wissen, ob es des Autors oder des Autoren heißt. Rund 200 Anfragen registrieren die Damen und Herren Sprachberater in ihren Glaskastenbüros im Mannheimer Stadtteil Käfertal täglich. Wörterbücher tapezieren den Beratungsraum in der Mitte zwischen den Büros. Die Bücher versammeln Redewendungen und Zitate, Synonyme und Fremdwörter, Schülerwissen und Korrekturhilfen, überhaupt alles, was mit Sprache zu tun hat. Dort am runden Tisch streiten zwölf Mitarbeiter der Redaktion bei viel schwarzem Kaffee und Zigaretten erbittert über kleine und große Buchstaben. So denkt man sich das. Irrtum. Die Buchstaben sind verteilt, jeder verantwortet ein Stück vom Alphabet. Lebenslänglich die L-M-N-Frau sein. Das ist mal eine feine Spezialisierung.
Anders geht es wohl nicht. „Rechtschreibung ist ein Thema, bei dem alle mitreden, aber nicht jeder Recht hat“, sagt Matthias Wermke. Eine Volksbefragung dürfte kaum dazu führen, für alle Details der Rechtschreibreform einen gemeinsamen Nenner zu finden. Zumal jene draußen blieben, die sie direkt betrifft, die Schüler. Bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bleiben sie sowieso draußen. Deren Seite „Jugend schreibt“ wird von Schülern in neuer Orthografie verfasst und von der Redaktion auf alt getrimmt.
Nicht jeder Anglizismus muss für immer bleiben
Leicht haben es die Kids nicht. Das lässt Wermke gelten. Unter soziologischen Gesichtspunkten, sagt er, sind Kids eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen. Es müsse aber nicht jeder Anglizismus dauerhaft im Deutschen verankert bleiben. „Solange mir meine Marktfrau sonnabends nicht mit englischen Halbsätzen kommt, ist mir um die deutsche Sprache nicht bange.“
Saugfähig war sie schon immer, die Sprache. Austausch gehört zur menschlichen Natur und schließt den Austausch von Wörtern ein. Die meisten lieh sich das Deutsche aus dem Lateinischen. Manches bleibt, anderes verschwindet wieder. Der Parapluie, den die Urgroßmütter ganz selbstverständlich bei Regen benutzten, gehört zu den aussterbenden Arten. Hinter solchen Parapluies steht im Duden: veraltet. Nicht mehr lange, und sie verschwinden, eingesargt im Historischen Wörterbuch.
Das ist das Schwerste, sagt Wermke, Wörter zu streichen. Aber wer neue aufnehmen will, muss Platz schaffen. Sonst schlägt die Herstellung Krach. Mehr als 1 156 Seiten sind nicht zu kriegen. Und die Neuen drängeln. Rund 5 000 Wörter. Sie zeigen, wie es dieses Land so herrlich weit gebracht hat mit Billigflieger, Minijob und Genmais, mit Ich-AG, Sars und Passivhaus. Auch ein paar Anglizismen sind wieder mit vorn. Hilft Nordic Walking bei hohem Body-Mass-Index oder doch lieber Slowfood? Ein Mitspracherecht haben aber die Engländer in Mannheim noch nicht.
Germanisten jagen neuen Wörtern nach
Die Schweiz darf Vorschläge machen. Österreich auch. Die Fisolen, Paradeiser und Eierschwammerln haben es längst in die Wörterbücher geschafft. Neu ist der Blitzgneißer. Herzlich willkommen. Dieser österreichische Schnellmerker bucht den Urlaub zwischen Feiertag und Wochenende und nennt, was dazwischen liegt, Zwickeltag. Österreichische Pensionen nehmen den Gast vermutlich am Brückentag auch.
Es dauert eine Weile, bis ein Blitzgneißer auf die Kandidatenliste gerät. Ein einmaliger Auftritt in der Werbung genügt nicht. Das neue Wort, erklärt Dudenchef Wermke, muss Teil der Allgemeinsprache und eine gewisse Zeit nachweisbar sein. Im besten Fall gehört es einmal zum „Leitprofil einer Zeit“ – so wie der Mauerspecht zum Beispiel. Die Germanisten des Hauses und freie Sprachforscher jagen den Neulingen nach. Sie durchkämmen Romane und Kochrezepte, Fachbücher und Packungsbeilagen, Gebrauchsanleitungen und Regierungspapiere. Sie beobachten grammatische Phänomene oder veränderte Bedeutungen. Die Fundstücke kommen in die Sprachkartei: über drei Millionen Belege. Den Rest besorgt der Computer. Er wird übrigens immer häufiger Rechner genannt. Auch solche Veränderungen registrieren die Duden-Leute.
Fast ein Jahr lang haben sie an der neuen, der 23. Auflage getüftelt. Sie kommt am 28. August in den Handel. Der Chef des Hauses rühmt die logistische Leistung. Alle Buchhandlungen werden bis zum Verkaufsstart beliefert. Die Höhe der Auflage will Matthias Wermke nicht nennen. Hoch. Das muss genügen. Die Buchhändler hätten erfreulich vorbestellt. Auch da keine Verunsicherung, kein Abwarten? Nein, sagt Matthias Wermke. Und ja, er hält es für unwahrscheinlich, dass die Ministerpräsidenten die Reform kippen. Aber weiß man bei Regierungschefs, womit man zu rechnen hat?
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