Plädoyer für das „Mittelwort“
In der Didaktik der „allgemein bildenden“ Schulen hat sich der Begriff „Mittelwort“ etabliert. Er gilt als Übersetzung des Begriffs „Partizip“.
Der Begriff bezeichnet eine Wortart, die irgendwo in der Mitte steht zwischen Verb und Adjektiv.
Dabei zielt der Lernprozeß auf die Erkenntnis ab, daß das Mittelwort abstammt von einem Tunwort (Verb), daß es andererseits gebeugt wird wie ein Wiewort (Adjektiv).
Die Wortbildung bereitet dem Schüler keine nennenswerte Schwierigkeit, weiß er doch, daß Zusammensetzungen beliebiger Natur, die das Ziel haben, ein Mittelwort zu erzeugen, keineswegs groß geschrieben werden dürfen, da doch im Prinzip lediglich die Namenwörter (Nomen, Substantive) der Großschreibung unterliegen.
Also führen Wortkombinationen wie Laub+tragen(d), Dienst+haben(d), Rat+suchen(d), Rad+fahren(d), fertig+gestellt, fehl+geschlagen ... zu einem zusammenzuschreibenden Mittelwort; und Mittelwörter schreibt man klein.
Unterstellt wird bei den Wortbildungen die übliche Fertigungsmethode der meisten Zusammensetzungen. Diese verlangt ein Grund- und ein Bestimmungswort.
Unterstellt wird auch, daß es Ausnahmen von dieser Regel gibt, z.B. wenn eine bestimmte Kategorie gemeint ist (Fleisch fressend ...) oder wenn ein Unterschied deutlich herausgestellt werden soll (Rad- und nicht etwa Auto fahrend). Jene Abweichungen kommen dann zum Tragen, wenn Nuancen durch das normale oder auch genormte Schriftbild nicht getroffen werden.
Die Satzlehre unterstreicht im übrigen obige These, die auf der regulären Wortbildungslehre basiert. Partizipien haben nämlich die Funktion, etwas genauer zu bezeichnen. Dabei verlängern die sog. Beifügungen (Appositionen) das jeweilige Satzglied um eine unbestimmte Anzahl von Wörtern und erhöhen damit die Aussagekraft des Ausgesagten.
Dabei läuft es lediglich auf eine Stilfrage hinaus, ob man die Beifügung einem Begriff voranstellt, oder ob man sie in einem Nebensatz mit paarigen Kommata nachordnet. Häufig wird diese Frage der Voranstellung oder Nachordnung durch die Wortlänge oder aber durch die Menge der zuzuordnenden Informationen entschieden.
Bsp:
Der Beamte ...
Der diensthabende Beamte ...
Der Beamte, der an Silvester Dienst hatte, ...
... dem Bürger ...
... dem ratsuchenden Bürger ...
... dem Bürger, der in Sachen Müllentsorgung Rat suchte, ...
Vorangestellte Beifügungen ermittelt man im Regelfall mit dem Fragewort „welcher ...?“.
Auf die Frage: „welcher Beamte?“ erhält man die präzise Antwort: „der diensthabende“.
Auf die Frage: „welchem Bürger?“ folgt das Einwortgebilde: „(dem) ratsuchenden“.
Würde man statt dessen die Neuschreibung anwenden („Der Dienst habende Beamte“), dann wäre man gezwungen, eine Doppelfrage zu stellen: „welcher, was?“
Dies ist schlechterdings nicht ökonomisch, zudem sprachwidrig und unterläuft die gängige Möglichkeit der Partizipialkonstruktion, die fest im Sprachgefühl verankert ist.
Gerade weil es die Alternative der Nachstellung gibt, welche zuläßt, daß durch das Eröffnen eines Nebensatzes, beliebige Satzglieder endlos aneinandergereiht werden können, (Bsp.: „Der Beamte, der an Silvester als einziger Spätdienst hatte, ...“), ist die Zertrümmerung des Mittelwortes eine sprachwissenschaftliche Schandtat ohnegleichen.
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