Schekker Jugendmagazin (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)
Schekker (Jugendmagazin der Bundesregierung)
Kampf der Walda-Meise
Wie aus einem Schuldiktat ein Gerichtsprozess wurde
Es ist kurz nach Schulschluss im Neuen Gymnasium in Oldenburg, in den Gängen riecht es ein wenig muffig. Hier geht das Mädchen zur Schule, das die Justiz gegen die Reform in Stellung gebracht hat, wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel letztes Jahr schrieb.
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Sicher ist sicher: Nach der Reform lohnt sich ein Blick ins Regelwerk
Es ist nicht das erste Interview, das Josephine Ahrens zum Thema Rechtschreibreform gibt. Von der Frankfurter Allgemeinen bis zur Bild-Zeitung, von der ARD bis zu RTL gibt es nur wenige Magazine, in denen die heute 17-jährige Gymnasiastin noch nicht zu Wort kam. Selbst im Monatsgewinnspiel einer Krankenkasse wurde ihre Geschichte schon behandelt. Der Grund für die Aufregung: Josephines Eltern wagten vor einem Jahrzehnt eine medienwirksame Ungehorsamkeit. Sie klagten vor dem Verwaltungsgericht Hannover gegen die Umsetzung der Rechtschreibreform in Niedersachsen.
Ein Strich bringt den Stein ins Rollen
Ich hatte 1996 in einem Diktat in der Grundschule ‚Zucker’ mit ‚kk’ getrennt, so wie es in der alten Rechtschreibung richtig war, erzählt Josephine routiniert. Das wurde mir rot angestrichen. Ich hatte zwar trotzdem eine Eins, aber da war eben dieser rote Strich am Rand.
Die Familie Ahrens informierte sich umgehend im Internet und später auch beim niedersächsischen Kultusministerium über die geplante Reform. Nahezu alle Bestandteile der Neuregelung erschienen der Familie unlogisch und irreführend. In der Diskussion mit Sprachwissenschaftlern, wie Josephine sagt, entstand dann die Idee, etwas Handfestes gegen die neuen Schreibregeln zu unternehmen. Ihre Eltern reichten eine Klage gegen das niedersächsische Kultusministerium ein. Schon Anfang August 1997 sah es nach einem Erfolg auf ganzer Linie aus: Die Ahrens' gewannen den Prozess in einem Eilentscheid, eine Beschwerde des damaligen niedersächsischen Kultusministers Rolf Wernstedt wurde kurz darauf abgewiesen. Die Rechtschreibreform schien im Keim erstickt, bevor sie richtig in Kraft treten konnte.
Verfassungsfrage Rechtschreibung
Die Medien begannen sich im zunehmenden Maße für die wehrhafte Familie aus dem Norden zu interessieren. Meine Freunde waren voll begeistert, weil die auch alle mal ins Fernsehen wollten. Meine damalige Klassenlehrerin hat gesagt, sie würde es okay finden, was ich mache, berichtet die Gymnasiastin heute.
Immerhin hatte der Widerstand der Familie auch für die Lehrerschaft spürbare Konsequenzen: Nach dem Urteil, das die Ahrens' erstritten hatten, musste Kultusminister Wernstedt die Reform vorerst landesweit stoppen. Gleichzeitig wurde das Bundesverfassungsgericht angerufen. Dort sollte geklärt werden, ob die Kultusministerien überhaupt das Recht hatten, die Rechtschreibung in den Schulen zu regeln. Die klare Antwort der Richter: Ja. Von diesem Urteil gestärkt, ging das niedersächsische Kultusministerium im konkreten Fall Josephine Ahrens vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg in Berufung und gewann im Jahre 2001 endgültig den Prozess.
Josephine lässt nicht locker
Josephine, inzwischen Schülerin des Neuen Gymnasiums in Oldenburg, sollte jetzt wieder so schreiben wie alle anderen auch. Doch das tat sie nicht. Den meisten Lehrerinnen und Lehrern war das inzwischen gleichgültig: Du hast zwar ‚dass’ mit ‚ß’ geschrieben, aber das ist mir völlig egal, zitiert sie ihren Geschichtslehrer bei der Klausurenrückgabe.
Josephine ist es nicht egal. Sie kämpfte weiter, inzwischen auch im eigenen Namen. Sie führte Prozesse, in deren Verlauf sich eine unüberschaubare Fülle aus Schnellbriefen, einstweiligen Anordnungen, Erlassen und Stellungnahmen ansammelte. Inzwischen ging es ihr dabei nicht mehr nur um die Reform. Josephine zog gegen die Verunstaltung der deutschen Sprache zu Gericht. Herbe Worte für ein Reformprojekt, an dem eine international besetzte Expertengruppe im Auftrag der deutschen Kultusministerkonferenz jahrelang gearbeitet hatte.
Mangelnde Klarheit?
Besonders die Schreibvarianten, die die Neuregelung bei vielen Wörtern zuließ, empfand die Schülerin als störend. Man muss sich doch einmal in die Lage eines Ausländers versetzen. Wie soll man eine Rechtschreibung lernen, bei der man nicht weiß, welche Variante man nehmen soll?
Josephine hofft, die Rechtschreibreform letztendlich doch noch kippen zu können. Die neuen Regeln sind für sie nach wie vor unlogisch und unnötig kompliziert. Das Hauptziel der Reform, die Vereinfachung der Schriftsprache, sei komplett verfehlt worden.
Im Juli 2005 stellt Josephine Ahrens deshalb vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg einen Eilantrag, die Rechtschreibreform nicht wie geplant zum 1. August 2005 verbindlich in Niedersachsen einzuführen. Die Antwort, die sie knapp zwei Monate später erhält, ist mehr als eine Überraschung: Auf sage und schreibe 21 Seiten setzen sich die Richterinnen und Richter unter Aktenzeichen 13 MC 214/05 mit der Reform auseinander. Das Fazit: Herkömmliche Schreibweisen dürfen im Schulunterricht so lange nicht als ‚falsch’ bezeichnet werden, wie sich reformierte Schreibweisen nicht allgemein durchgesetzt haben. Josephine habe Anspruch darauf, in der von ihr bevorzugten Orthografie unterrichtet zu werden.
Ausnahmeregelung
Die Verwirrung scheint komplett. Was gilt denn nun? Die alte Schreibung? Die Neuregelung? Eine Extrawurst für Josephine? Auch wenn die Schülerin gehofft hatte, dass alle Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen wieder wie früher schreiben dürften, gilt die Ausnahme tatsächlich nur für die Antragstellerin. Für eine allgemeine Entscheidung müsse sie auf ein reguläres Urteil warten, so das Gericht.
Und so wartet Josephine noch heute. Inzwischen glaubt sie nicht mehr, dass das Oberverwaltungsgericht ihr doch noch Recht geben wird. Wenn sie im nächsten Jahr ihr Abitur macht, wird sie in neuer Rechtschreibung schreiben müssen.
Theo Müller, 15 Jahre alt, Schüler aus Oldenburg
Schekker-Info:
Seit den Achtzigerjahren arbeiteten Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und der DDR an einer Reform der deutschen Rechtschreibung. 1995 beschlossen die deutschen Kultusministerinnen und Kultusminister, die vom Arbeitskreis erarbeiteten Vorschläge mit einer Übergangsphase bis zum 31. Juli 2005 verbindlich einzuführen.
Mit der Einführung der Neuregelung in einigen Bundesländern ab 1996 kam es vermehrt zu öffentlichen Protesten. Bürgerinitiativen und Einzelpersonen klagten vor Verwaltungsgerichten gegen die Reform. Das Bundesverfassungsgericht erklärte jedoch 1998 die Einführung der neuen Rechtschreibung per Kultusministererlass für rechtmäßig. Seit 1997 begleiteten zuerst eine Zwischenstaatliche Kommission und später der Rat für deutsche Rechtschreibung die Umsetzung und Verbesserung des Regelwerks. Anfang 2006 übergab dieser Rat der Kultusministerkonferenz (KMK) eine Liste mit Änderungsvorschlägen.
Die Korrekturen sind von der KMK akzeptiert worden und gelten seit August 2006 verbindlich. Betroffen sind vor allem die reformierte Groß- und Klein- sowie Getrennt- und Zusammenschreibung. Danach ist die sinnentstellende, aber vorher zulässige Abtrennung einzelner Vokale wie bei Urin-Stinkt oder wie in unserer Überschrift Walda-Meise nicht mehr korrekt.
– geändert durch Norbert Lindenthal am 13.02.2007, 15.13 –
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