Klaus Deterding
Mithilfe Ihrer Mithilfe, Herr Minister!
von KlausDeterding @ 2011-02-24 – 16:47:06
Der zweite Preußenschlag in Deutschland: die Durchsetzung der Rechtschreibreform 1994-96 . Ein historischer Rückblick
Was macht die Gegnerschaft zur Rechtschreibreform, aller Propaganda von interessierter Seite zum Trotz, nach wie vor so brandaktuell? ... Ein Artikel in der Süddeutsche Zeitung vom 17. Dezember 2010 gibt darüber Auskunft, indirekt, aber deutlich und höchst aufschlußreich. Unter dem Titel Hier können Sie praktisch nur verlieren werden die drei Großprojekte Stuttgart 21, der neue Großflughafen Berlin-Brandenburg und der Bau der Autobahn A 94 durch das Isental bei München referiert, miteinander verglichen, die Bürgerproteste charakterisiert und gesellschaftspolitische Schlußfolgerungen gezogen. Dabei ergibt sich eine Parallele zum Protest gegen die Rechtschreibreform, der 1996-98 eskalierte. Diese Parallele ist für die Aktiven von damals wie heute nicht überraschend; das Ganze ist signifikant in bezug auf einen bestimmten Zustand gerade unserer deutschen Gesellschaft. Das Stichwort heißt Obrigkeitsstaat. Der Autor des kritischen Beitrags in der Süddeutschen konstatiert im Zusammenhang der genannten Bürgerproteste eine Konfliktlage, die immer wieder provoziert wird durch ein ganz bestimmtes Verhalten der Politik, oberster Behörden und auch der Justiz, das als charakteristisch für Deutschland bezeichnet und als nicht mehr zeitgemäß eingestuft wird – nämlich dann, wenn man, in meinen Worten, eine funktionierende Zivilgesellschaft als Nahziel eines weiteren demokratischen Fortschritts hierzulande betrachtet.
Es gehe, schreibt der Autor, in erster Linie um die Durchsetzung von Macht. Bürger – Bürger ganz allgemein – „werden von Politik und Verwaltung vor allem als potentielle Störer eingestuft“, protestierende Bürger grundsätzlich als „Nörgler“, die „unter dem Generalverdacht der Miesmacherei“ stehen, also des Defätismus. Auf der juristischen Ebene ergebe sich, daß in keinem anderen EU-Staat „die Betroffenen ihre Einwände so früh und umfassend darlegen“ müssen wie bei uns. Ein geplantes Projekt werde daher in Deutschland „in der Regel auch gebaut“, zur Not „mit einem Durchlaß mehr für gefährdete Otter“ ... Dabei erfolge die politische Festlegung weit im voraus, vorzugsweise intern in kleiner (Herren-)Runde. Das habe sich beispielhaft gezeigt in dem Dreier-Gespräch Diepgen-Stolpe-Wissmann 1996 in bezug auf den prekären Standort Schönefeld (80.000 betroffene Bürger!) für den neuen Großflughafen Berlin-Brandenburg. Die folgenden Planfeststellungsverfahren seien dann nur noch Veranstaltungen pro forma gewesen, bei denen nichts mehr in Frage gestellt und substantiell nicht mehr diskutiert wurde. Dies ebenso auf der juristischen Ebene, wenn es zu einer Klage komme: auch da gehe es weiterhin um Formales wie die rechtliche Zulässigkeit – nicht um Inhalte, nicht um den Sinn des Projekts. „Die späteren Verfahren zur Planfeststellung dienten nur noch dazu, die Entscheidung der Herrenrunde zu bestätigen.“
Ein Vorgang nach Gutsherren-Art, ein preußischer Vorgang, ein Ablauf, wie er Bismarck zur Ehre gereicht hätte – und mit dem die drei Herren nach ihrem internen Austausch rechnen konnten. Der geräuschlose weitere Verlauf gab ihnen recht: mit preußischer Disziplin und urdeutschem Gehorsam wurde das Ganze zunächst schweigend entgegengenommen.
Derselbe Ablauf zwei Jahre vorher, im April 1994: Vertreter der Bahn und der Politik überrumpeln die Öffentlichkeit mit einem intern abgesprochenen, fertigen Konzept für den Tunnelbahnhof in Stuttgart, nachmals zu „Stuttgart 21“ erklärt. Und noch einmal der prinzipiell gleiche Ablauf bei der Planung der A 94 durch das Isental, Ende der siebziger Jahre. Auch hier kritiklose Entgegennahme durch die Mehrheit, Proteste nur, aber immerhin, von einer aktiven Gruppe. Und nun haben wir die Parallele zur Durchsetzung der Rechtschreibreform 1994 ff. – : Genauso, Punkt für Punkt, ist das abgelaufen:
1. Die gesamte sogenannte Reform wurde vorbereitet hinter verschlossenen Türen, intern, hermetisch, in einem relativ kleinen Kreis von Fachleuten des Duden und von Kultusbeamten – ohne jede Diskussion nach außen.
2. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde die Öffentlichkeit nach dieser Vorbereitung im November 1994 überrumpelt mit einer kleinen Broschüre des Duden: „Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung“. Diese zeigte bereits den Charakter des gesamten Vorhabens als Eingriff von oben her, und zwar im doppelten Sinn: einmal als einsame Entscheidung einer selbsternannten Obrigkeit, zum andern als relativ raschen Eingriff in die Sprache durch eine Kommission, die keineswegs langfristig und sorgsam eine Entwicklung beobachtet hatte und abwägend darauf reagierte, sondern die willkürlich selber einen Entwicklungssprung diktierte. Entlarvend für diese Haltung ist die Überschrift eines Abschnitts dieser Schrift: „Das Unbehagen an der deutschen Rechtschreibung“ (S. 17) – eine Behauptung, die nicht überzeugend belegt wird und die schon jene Grenzüberschreitung zur Ideologie vorbereitete, die sich dann später offenbarte. Die 55 Seiten unter Heftformat zeigten nur den Ansatz, bei weitem noch nicht das Ausmaß und vor allem nicht die Tiefe des Eingriffs in den Körper der deutschen Sprache, nämlich auch in die Grammatik, der hier anmaßend vorbereitet wurde. So entstand auch jetzt noch kein deutlicher Eindruck.
3. Als Parallele zum Planfeststellungsverfahren der drei genannten großen Außen-Projekte ist bei diesem Innen-Projekt „Rechtschreibreform“ ein Schachzug anzusehen, den man objektiv als genial ansehen kann: Nachdem aufgrund jener schmalen Vorab-Information, wie vorherzusehen und wie vorausberechnet, keine breite öffentliche Diskussion entstand, konnte diese mit dem entscheidenden zweiten Schritt, der sehr bald folgte, zwar nicht mehr verhindert werden, aber es gelang ein großer Coup, nämlich mit der Herausgabe der „Amtlichen Regelung“ der neuen Rechtschreibung vom September 1996 – Concept-Verlag, Düsseldorf –, wenige Wochen vor Erscheinen des neuen Duden (1996). Im ersten Satz des Vorworts dieser „Amtlichen Regelung“ ist lapidar festgehalten, und das zog auf Anhieb: „Das folgende amtliche Regelwerk [...] regelt die Rechtschreibung innerhalb derjenigen Institutionen (Schule, Verwaltung), für die der Staat Regelungskompetenz hinsichtlich der Rechtschreibung hat.“ (S. 7)
Damit hatten die selbsternannten Reformer den Fuß in der Tür: Auf dem kalten Wege über die Schule – „Du lieber Himmel, das muß mein Kind dann ja lernen! Guck ich mir auch schon mal an!“ – und die Bürokratie – „Müssen wir uns in Zukunft dran halten“ – war sichergestellt, daß sich der Neuschrieb durchsetzen werde: er hatte mit dem usurpierten Status urplötzlich die offizielle Ebene erreicht. Von diesem Moment an stand fest, daß langfristig die allgemeine formale Anerkennung folgen werde, und zwar völlig unabhängig von Zustimmung, Kritik oder Gleichgültigkeit.
Vielleicht hätten die Franzosen, wäre ihnen so etwas offeriert worden, anders auf eine derartige Anmaßung reagiert. Bei uns jedoch ist daraus etwas geworden, was ich den zweiten Preußenschlag in der deutschen Geschichte nenne: den zweiten nach dem ersten vom Juni 1932, als der neue Reichskanzler Franz von Papen ebenfalls in einer Nacht- und Nebelaktion die preußische Staatsregierung kassierte und das große Land Preußen der Reichsregierung und sich selber als Reichskanzler „kommissarisch“ und direkt unterstellte. Vergeblich wehrte sich der preußische Innenminister Severing, vergeblich auch der hochangesehene, energische Polizei-Vizepräsident von Berlin, Bernhard Weiß (der einzige Jude, der einen Beleidigungsprozeß gegen Goebbels gewann!) ... Papen hatte vollendete Tatsachen geschaffen, autoritär, und das Ende Preußens war besiegelt.
Vollendete Tatsachen schaffen, rasch und geschickt ... Um es nun ganz deutlich zu sagen, unmißverständlich und endgültig aufklärend: Das war der eigentliche Skandal des gesamten Vorgangs der Rechtschreibreform am Ende des vorigen Jahrhunderts, noch vor oder auch über diesem fachlichen Flop des Jahrhunderts: die eingefädelte, genau berechnete, überfallartige Information der Öffentlichkeit über das längst fertige Produkt – und die raffinierte Spekulation damit, daß die Signalworte „amtlich“ und „Institution“ und „Staat“ der Amtlichen Regelung erstens sozialpsychologisch in Deutschland ihre Wirkung tun werden und daß man diese zweitens pragmatisch und langfristig einfach nur auszusitzen brauche.
Die Rechnung ging auf, jedenfalls insgesamt. Ich habe noch heute vor Augen, 2011, fünfzehn Jahre danach, wie ein Kollege von mir im Lehrerzimmer unserer Berliner Gesamtschule auf meine Frage, ob wir als Deutschlehrer uns die fachwissenschaftliche Fehlleistung der Rechtschreibreform (die gab er mir zu) denn gefallen lassen dürften, regelrecht den Kopf einzog (ich übertreibe nicht!), die Schultern leicht nach vorne brachte – und sich dann wortlos abwandte ... In diesem Moment hatte ich eine Vision: Ich sah jene Filmszene aus dem „Untertan“: der Kaiser hoch zu Roß die Straße der Kleinstadt hinab, und Diederich Heßling, gespielt von dem unvergessenen Werner Peters, daneben und darunter, katzbuckelnd und mit dem Hut in der Hand ... Mich fröstelte, und ich wandte mich ebenfalls ab.
Eigenartig: Die Jahre 1994 bis 96 waren offenbar ein Tief der Demokratie im wiedervereinigten Deutschland – ein Tiefpunkt mit den drei Triumphen altpreußischer Obrigkeit bei uns: den Absprachen nach Gutsherren-Art hinter den Kulissen zu Stuttgart 21, zum Großflughafen Berlin-Brandenburg und zur Rechtschreibreform ... Davor jedoch gab es den Höhepunkt an Zivilcourage, Freiheitsdrang und Demokratie in der friedlichen Revolution von 1989/90. Und auch heute ist wieder Hoffnung: mit den Protesten in Stuttgart, denen in Berlin und seinem Umland gegen den Großflughafen sowie mit dem wiedererwachten Protest gegen unsichere Atom-Endlager, -Transporte und Verlängerung der Laufzeiten der Meiler. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das hat auch uns Gegner der Rechtschreibreform damals so lange durchhalten lassen. Möge nie mehr ein derartiges demokratisches Tief wie beim zweiten Preußenschlag der Jahre 1994 bis 96 uns treffen und die Hoffnung trügen.
Was für eine neunmalkluge Dummheit die Rechtschreibreform war und immer noch ist, dazu ein aktuelles Beispiel ganz am Schluß. Wenn jemand „der Alte“ bleibt, dann etwa als Schauspieler für immer dieselbe Rolle, eben im Rollenfach der Alte. Wenn jemand aber immer derselbe bleibt, nämlich sich selber treu, wie wir Gegner der Rechtschreibreform, oder immer gleich jugendlich wirkend, dann ist er kein Alter und schon gar kein Tattergreis, sondern der alte („wie immer“). Dies ist die Auswirkung einer der Grundeigenschaften und -fähigkeiten unserer deutschen Sprache, nämlich der Differenzierung, und die reicht nun einmal bis in die Rechtschreibung hinein – bzw. ist diese, die Rechtschreibung, ein präziser Spiegel der (semantischen) Differenzierung. Beide stehen in Wechselwirkung miteinander.
Dies klargestellt, haben wir das zutreffende Urteil über die folgende Notiz in der HÖRZU Nr. 4/2011 (S. 50). Der entscheidende Satz der Inhaltsangabe des Fernsehkrimis „Schimanski: Schuld und Sühne“, bezogen auf die Rolle des Hauptdarstellers, lautet: „Dass er körperlich nicht mehr der Alte ist, nimmt Götz George (72) herrlich selbstironisch.“ Und wir, wir merken ironisch an, daß dies beinahe das Gegenteil dessen ist, was ausgesagt werden soll. Hiernach wird Götz George am gedanklichen Bild eines Alten gemessen, also an dem eines Greises. Ausgesagt werden soll aber, daß er lediglich nicht mehr so fit ist, wie er ehemals war ... Götz George würde sich schön bedanken ... Heureka!
klausdeterding.blog.de 24.2.2011
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