Egal ist Geschmackssache
Daß beim Empfänger nur das ankommt, was er auch zu deuten weiß, ist natürlich eine Binsenwahrheit der Kommunikation. Was den Kontext angeht: Ohne ihn könnten die verschiedenen Menschen überhaupt zu gar keiner gemeinsame Sprache gelangen. Geht die Sprache ursprünglich vom konkreten Kontext (einer Situation, einer dinglichen Umgebung) aus, so baut sie daraufhin aber immer weiter auf sich selbst auf und ist in der Lage, immer komplexere und abstraktere Sachverhalte darzulegen. Ein hochentwickeltes Sprachsystem zeichnet sich also auch dadurch aus, daß es mit seinen Elementen ökonomisch, präzise und punktgenau umgeht, das heißt, daß eine einzelne Informationseinheit immer weniger auf Kontext angewiesen ist.
Gerade die Schriftsprache, deren Zeichen zwar ihre Wurzeln in Piktogrammen haben, heute aber vollkommen abstrakt sind für sich sinnleere Bausteine, die erst in ihrer Zusammenfügung Sinn ergeben gerade also die Schrift hat als jüngste Sprachentwicklung den Vorteil, immer unabhängiger von einem äußeren Kontext zu sein, immer mehr für sich zu stehen und aus sich heraus zu jeder Zeit an jedem Ort die Botschaft zu übermitteln, die der Sender in sie hineingelegt hat, ohne daß er selber anwesend sein oder etwa überhaupt noch lebendig sein müßte. Die Schrift erst hat den individuellen menschlichen Geist unsterblich gemacht. Sie ist zudem damit, um es mal ganz gestelzt auszudrücken, der Katalysator weltgeistlicher Synthese, die entscheidende Veredelung der menschlichen Intelligenz.
Gibt es keinen äußeren Kontext, der einen lokal undeutlichen Sinngehalt eines Satzes klarmacht, dann ist der Leser darauf angewiesen, den restlichen Text des Schriftstückes als Kontext heranzuziehen, und das meinen natürlich Mentrup und Co. Wird durch eine Änderung des orthographischen Systems die Kodifizierungsmethode des semantischen Gehalts verändert bzw. funktional reduziert, wie es durch die Rechtschreibreform geschehen ist, so verringert sich die Deutlichkeit nicht nur eines Satzes, sondern ganzer Kommunikationstechniken, die die ganze Schriftsprache durchziehen. Von der neuen Zeichensetzung oder GKS ist nicht nur ein einziger Satz betroffen (so wie einzelne Beispielsätze, die man üblicherweise zur Demonstration anführt), sondern es können davon weiterhin verschiedene Sätze der Umgebung betroffen sein was sie ja auch meist sind. Somit verflacht sich auch der Kontext, auf den verwiesen wird. Der Kontext besteht aus dem gleichen Material wie das, das von ihm gestützt werden soll. Deshalb sind Ungenauigkeiten nicht einfach dadurch zu entschuldigen, daß man hofft, der Kontext würde es schon richten. Zwar werden Texte durch die aktuelle Rechtschreibreform nicht ernsthaft vollkommen unverständlich, aber sie geht bereits einen Schritt ausgerechnet in diese, also die grundsätzlich falsche Richtung.
Eine vernünftige Rechtschreibreform hätte, wenn es denn schon präskriptiv sein muß, an der sprachlich nützlichen modernen Entwicklung der deutschen Schriftsprache anknüpfen müssen, indem es etwa den uneinheitlichen, eigentlich gegenwärtig mehr gefühlsmäßigen Gebrauch von Resultativzusätzen griffig und praktisch reguliert. Das wäre in etwa auf der Ebene der Abschaffung des th aus deutschen Wörtern 1901/1902 gewesen, insofern als auch dort eine bereits vorhandene Tendenz gewissermaßen radikalisiert wurde. Der Umgang mit der Angelegenheit im Ickler-Wörterbuch ist vor allem deswegen so gut, weil er im Gegensatz zur reformierten Rechtschreibung den bereits stattgefundenen Sprachfortschritt nicht abwürgt (wobei die Reform übers Abwürgen ja sogar noch hinausgeht). Zwar wird die vorhandene Entwicklung nicht extrapoliert, sie wird aber wenigstens am Leben gelassen.
Den Unterschied zwischen bewußt machen und bewußtmachen oder anscheinend und scheinbar mag nicht jeder Empfänger kennen, aber doch sehr viele. Wieso soll die Unterscheidung also kleinkariert sein? Wie so soll die unter Scheidung also klein kariert sein? Es wäre sicherlich kein sprachlicher Fortschritt, wenn man es generell zuließe, daß der Satz auch so wie beim zweitenmal geschrieben wird, auch wenn ihn sehr wahrscheinlich jeder des Deutschen Mächtige so oder so irgendwie verstehen kann, selbst ohne Kontext. Manchem mag auch gar nicht klar sein, warum die zweite Schreibweise schlechter sein soll oder nicht einmal, daß sie nicht normal ist. Wenn man so liest, wie in manchen Internetforen geschrieben wird, das ist oft der totale Wildwuchs, und trotzdem scheinen die Leute dort einander zu verstehen. Allerdings ist für einen Vielleser das von der Norm Abweichende sehr viel mühsamer zu lesen. Und je weniger Normierung es gibt, desto mehr weicht ab, desto uneinheitlicher ist die Kodifizierung und desto anstrengender die Dekodierung.
Sprache funktioniert am besten, wenn sie einheitlich ist. Es geht nicht nur um Vermeidung von richtigen Mißverständnissen, sondern auch um Ökonomie. Wieviel Zeit muß ich aufwenden vom Sinnesreiz hintereinanderstehender Buchstaben auf dem Papier bis zum vollendeten Verständnis ihrer Bedeutung, immer und immer wieder? Unser Leben besteht, auf unser Bewußtsein bezogen (und darauf kommt es jedem einzelnen ja an), aus nichts anderem als Zeit, daher ist diese Ökonomie fundamental, wenn man möglichst viel Wissen aufnehmen möchte; effizient und ohne verdrießliche Mühe. Die moderne Gesellschaft im ganzen wie jedes einzelne Mitglied für sich persönlich profitiert gerade in Hinblick auf Bildung und Aufklärung von einer hochqualitativen Orthographie also sehr. Auch so betrachtet kann sie zu einer guten Demokratie viel beitragen, denn wenn das Volk schon mitreden soll, dann muß es auch ausreichend Kompetenz für die zu entscheidenden Dinge haben (können). Es ist ja kein Zufall, daß Bücherverbrennungen ein so auffälliges Kennzeichen von Gewaltdiktaturen sind.
Wie immer komme ich mit meinem langschweifigen Gelaber also zu dem Schluß, daß das vermeintlich so Nebensächliche eigentlich doch ziemlich wichtig ist, wenn es historisch positiv weiter vorangehen soll. (Ob dieser Text nun die Zeit wert ist, die ich zu seinem Schreiben und andere zum Lesen brauchen?)
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