Gräuel hier zu Lande
Da die derzeit im Gange befindlichen Bemühungen unserer Maschinisten, unsere „Willkommensseite“ zu reformieren, zu Vertüttelungen geführt haben, und es jetzt nicht möglich ist, neue Einträge auf der Nachrichtenseite einzugeben, gebe ich den nachfolgenden NZZ-Artikel hier wieder.
Zugabe
Manfred Papst
Man gewöhnt sich an allem, sogar am Dativ, sagt eine Redensart. Sie fällt mir ein, wenn ich an die Rechtschreibreform denke, die vor fünf Jahren unsere Gemüter erhitzt hat. Wie doch die Zeit vergeht! Inzwischen ist sie – nicht überall in gleichem Ausmass, davon später – durchgesetzt worden, und wir sind, wie ihre Befürworter in dumpf brummendem Behagen feststellen, nicht daran gestorben.
Das ist, wenn ich Sie und mich so ansehe, halbwegs erfreulich. Dennoch möchte ich aus der Jubiläumsdistanz ganz ohne Eifer und Zorn festhalten: Gebracht hat die Reform rein gar nichts – es sei denn, man hielte die Rechtsunsicherheit, die seither besteht, für einen Fortschritt. Die neue Rechtschreibung ist weder einfacher zu handhaben noch logisch stringender als die alte, und das faktische Interregnum während ihrer Einführung hat zu einer Verunsicherung geführt, die noch lange nachwirken wird. Regeln, die Varianten zulassen, sind nun einmal schwieriger zu merken als klare Anweisungen, so anfechtbar diese im Einzelnen auch sein mögen.
Gescheitert ist die Reform in einem grundsätzlichen Sinn: Sie hat keine Systematik gebracht, sondern lediglich einen vertrauten Flickenteppich durch einen unvertrauten ersetzt. Das lag einerseits an der Unfähigkeit der Reformer, die sich über ihre Prämissen und Kriterien zu wenig Rechenschaft gaben und deshalb bald sprachgeschichtlich argumentierten, bald einfach Analogien suchten. Es liegt andererseits aber auch am Wesen der Sprache selbst. Sie lebt. Sie wandelt sich. Sie trägt eine lange Geschichte in sich. Man kann sie gar nicht konsequent vereinheitlichen. Jede Regelung bleibt inkonsequent und führt zu Widersprüchen. Nur ein Beispiel: Wenn ich statt «Stengel» nun «Stängel» schreibe, bin ich zwar näher beim Stammwort «Stange»; verloren geht jedoch ein seit sieben Jahrhunderten vertrautes, auf «Engel» gereimtes Wortbild.
Die Publikationen der NZZ haben die Reform bekanntlich nur teilweise mitvollzogen. Wo der Sprache nach unserer Überzeugung Gewalt angetan wird oder wichtige Differenzierungen verloren gehen, verweigern wir uns den neuen Regeln – und haben damit einen ganz ähnlichen Erfolg wie jenes gallische Dorf, das sich nicht vom Römischen Reich hat einnehmen lassen. Ein detaillierter Artikel, der am 15. Mai 2000 in der NZZ erschienen ist und auch als Sonderdruck verbreitet worden ist, hält fest, dass wir auch weiterhin nicht als Leid Tragende in die Schänke gehen, um für einen gräulichen Roten oder ein heiss begehrtes Bier tief ins Portmonee zu langen.
Wir sitzen jedoch gern auf dem Zaun, schlenkern mit den Beinen und schauen, was die Konkurrenz so macht. Dass wir seit Alinghi hier zu Lande ein Seefahrervolk sind, hat seine eigene Schönheit, und dass es Selbsthilfegruppen gibt, in denen sich allein Stehende zusammen setzen, erinnert schon fast an Laurel & Hardy.
© NZZ am Sonntag, 19. Oktober 2003
(Der Autor ist Leiter der Kulturredaktion der „NZZ am Sonntag“, vorher leitete er den NZZ-Buchverlag.)
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Walter Lachenmann
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