An Beispielen von Thomas Mann, Michael Ende, neulich auch Adorno und vielen anderen wurde schon gezeigt, welche Möglichkeiten der differenzierenden Ausdrucksweisen, auch individueller Gestaltungsweisen von Sprache, die traditionelle Rechtschreibung bietet, die bei einer Umwandlung solcher Texte in die reformierte Rechtschreibung nicht allein verfälscht oder zu Plumpheit und Häßlichkeit entstellt sondern sogar auch gänzlich zerstört werden können.
Man stelle sich folgenden Satz in neuer Rechtschreibung vor.
Im Alter zwischen zehn und zwanzig Jahren lebte ich in beständigem Rausch, in einer Fernheit oft, die den Mitmirgehenden und -seienden bisweilen nur eine empfindungslose Hülle ließ.
(Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, 1921 erschienen, dtv 11867)
Hieße es reformiert etwa: ... den mit mir Gehenden und Seienden ?
Sicherlich mag der eine oder der andere meinen, das wäre doch im Grunde ein und dieselbe Aussage. Sie ist es aber nicht, und nur mit den orthographischen Mitteln, die unsere Jugend heute nicht mehr lernen darf, ist eine ganz wesentliche Charakteristik dieser Aussage schriftlich darstellbar. Das bedeutet nichts anderes, als daß die deutsche Literatur, sowohl die bereits bestehende, sofern sie durch die Reformmühle gedreht wird, aber ganz besonders natürlich die zukünftige, sofern sie die traditionelle Orthographie nicht mehr kennt, einiger ganz bedeutender und in unserer Sprache bisher reichlich genutzter differenzierender Ausdrucksmittel beraubt wird.
Ich höre schon den Widerspruch auch wohlwollender, gewissenhafter Sprachexperten. Daß dies Auslegungssache, Konvention, Gewöhnung sei, die Aussage aber bei diesem Beispiel keine substantielle Beeinträchtigung erfahren würde. Angenommen, den Trend zur Zusammenschreibung hätte es nie gegeben, hätte dieser Satz nie anders geschrieben werden können, als so, wie die neuen Regeln es fordern. Und die zusammengeschrieben vermutete Bedeutung (Mitmirgehende als übertragene Bedeutung, mit mir Gehende als konkrete Bedeutung, deshalb in diesem Fall plump und pedantisch wirkend, ein völlig verfehltes Übergewicht den Begriffen Gehenden und Seienden zuordnend, wo das Gewicht der Aussage auf Mitmir- liegt), diese Vermutung sei eben nicht zwingend. Vielmehr seien dies ungeschriebene Konventionen, die durchaus auch viele Mißverständnisse und Fehler mit sich bringen können, zwar beheimatet in den Vorstellungen einiger Sprach- und Stilästheten, die überdies zu ganz unterschiedlichen Anwendungen und Interpretationen solcher schriftlicher Darstellungsweisen kommen können, aber bei gründlicher Betrachtung als gültige Normen sei solches nicht wirklich haltbar.
Die Fachdiskussionen GZS, GKS und was sonst noch so die Reformkritiker umtreibt, ist ja leider einigermaßen eingetrocknet. uwe hält alle Experten in Atem und nähert sich dem fünften Tausend der Seitenaufrufe. Teilweise war diese Diskussion auch dem wohlwollenden Laien nicht unbedingt einleuchtend, sofern überhaupt verständlich. Es ging um Rechtschreibmündigkeit, -liberalität, Bögchen usw. und darum, an der Reform nicht Dinge zu kritisieren, die eigentlich zumindest so nicht zu kritisieren sind.
Dann meinetwegen anders. Diese Konventionen, Gewöhnungen usw. sind ja nicht umsonst entstanden, und wenn es auch wissenschaftlich unseriös sein mag, diese nun als Argumente zu bemühen, weil sich keine durchgängig haltbare Linie feststellen läßt in ihrer Anwendung, so könnte es doch auch wissenschaftlich seriös sein, zu erkennen, daß die Sprache Bereiche hat, wo Gesetzmäßigkeiten nicht einwandfrei gegeben sind, wo es widersprüchlich, individuell, ja auch chaotisch zugeht und daß gerade dies ihren Reichtum und ihren Zauber ausmacht.
Jedenfalls scheint es mir auch wissenschaftlich problematisch, Phänomene schlichtweg zu leugnen, deren Eindeutigkeit nicht gänzlich nachzuweisen ist. Etwa die Behauptung, es gebe in manchen Sprachen Aussagen, dort also auch Sachverhalte, die man in einer anderen Sprache überhaupt nicht wirklich darstellen und in diesem anderen Kulturkreis folglich auch nicht vorfinden könne. Was in der weiteren Betrachtung ja dazu führt, daß man durch das Lernen einer anderen Sprache und das Leben in ihr und ihrem Kulturkreis, in Erlebensbereiche geraten kann, die die eigene Sprache, die eigene Kultur, gar nicht ermöglichen könnte. Daß etwa amour nicht gleich Liebe ist, humour nicht gleich Humor, und esprit nicht gleich Geist.. Und es geht nicht allein um lokale Nuancen, sondern um Wirklichkeiten. Jeder, der in zwei Sprachen (bei den Dialekten ein und derselben Sprache geht das übrigens schon los) zuhause ist, bestätigt dies als absolute Binsenweisheit. Irren sich alle, die sich in der Substanz auskennen und sich um die Theorie nicht sorgen?
Das sind doch Phänomene, mit denen sich zu befassen von besonderem Interesse sein könnte. Das muß noch lange nichts mit Esoterik zu tun haben, sondern vielleicht eher mit einem erweiterten Verständnis von Wirklichkeitsbetrachtung. Wem an der Erkenntnis von Wirklichkeit ernstlich gelegen ist, hat in der Regel einen sicheren Instinkt dafür, wann er ihren Boden verläßt Irrtum immer vorbehalten, aber wenn, dann nicht für lang.
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Walter Lachenmann
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