PISA, 2. Hälfte 19. Jh.
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Diesmal las er den Brief, den sie schrieb, und sah, daß die Sätze allerdings kurz und mager waren, wie eben das Volk schreibt; allein er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Rechtschreibung und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn und Gebrauch der Sprache.
»Sie schreiben ja wie ein Aktuarius!« sagte er, indem ein Strahl von Freude seine Augen erhellten.
»O wir hatten einen guten Schulmeister!« erwiderte sie froh über sein Lob; »aber das ist nichts, ich habe eine Schwester, die schreibt im Umsehn ganze Briefe voll Torheiten ohne alle Fehler; wenn sie nur sonst recht täte!« schloß sie mit einem Seufzer. Wie sich später erwies, reiste nämlich die Schwester auf Liebschaften herum und stellte ihre Schönheit nicht unter den Scheffel. Auch war sie schon einmal mit einem kleinen Kinde heimgekommen.
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Gottfried Keller, Das Sinngedicht, 1881, [Orell Füssli (¿?¿)]
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Walter Lachenmann
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