Einen ausführlichen Kommentar zum MAZ-Interview mit Gerhard Augst kann ich mir nicht verkneifen:
Die Rechtschreibreform steht erneut in der Kritik ...
Augst: Sie ist wieder in die Kritik geraten, weil Einige den dritten Bericht
der Kommission in einem Sinne gelesen haben, in dem man ihn wirklich
nicht lesen kann. Behauptet wird, wir würden die Reform der Reform
empfehlen. Das steht mit keinem Wort in dem Bericht.
Es wird nicht offen ausgesprochen. Aber welchen Sinn sollen die Erwägungen des Berichts haben, wenn keine Reform der Reform angepeilt wird? Viele der erwogenen Vorschläge sind nicht mit der Neuregelung in Einklang zu bringen jedenfalls nicht ohne Toleranz-Metaregeln.
Es gab aber Änderungen?
Augst: Nur 1996 durch die Einführung der neuen Rechtschreibung.
Seither gibt es nur Auslegungen. Auch im Bericht haben wir nur
Probleme diskutiert, die immer wieder genannt werden. Wir haben
gefragt, was spricht für unsere Lösung, was für die alte, und was für die
Vorschläge der Kritiker.
Die Rechtschreibung besteht eigentlich aus den Schreibweisen. Wenn durch neue (ohnehin teilweise sehr abenteuerliche) Auslegungen Schreibweisen geändert werden, dann sind das selbstverständlich Änderungen der Rechtschreibnorm. Und diese hat es seit 1996 nachweislich in vielen Fällen gegeben.
Um was handelt es sich dabei?
Augst: Dazu gehören Fälle wie das „schwarze Brett“. Da haben die
Nachrichtenagenturen gesagt, so etwas wollen wir groß schreiben. Also
haben sie eine Liste mit 40 Ausdrücken vorgelegt, die groß zu
schreiben wären.
Also wie früher?
Augst: Zwar steht im alten Duden, man schreibe derartiges groß. Aber
im Wörterteil werden 60 Prozent dieser Fälle klein geschrieben. Da war
also schon etwas nicht in Ordnung. Damals wurden dann die schwarzen
Koffer populär und die Agenturen haben wieder bei uns angefragt. Na,
haben wir gesagt, nun seh’n Sie, wie schwer das zu entscheiden ist.
Es steht im Regelteil des alten Duden nicht nur, man schreibe derartiges groß, sondern auch, daß manches derartiges auch klein geschrieben wird. Insofern gab es da gar keinen Widerspruch zwischen Regelwerk und Wörterteil.
Was dagegen wirklich eigenartig ist: Erst kommen die Agenturen mit einer Liste von 40 Ausdrücken, die abweichend von der Reformschreibung groß geschrieben werden sollen, und bei einem neuen Fall wenden sie sich ratsuchend an ausgerechnet die Institution, deren Vorschläge zu genau diesem Thema sie zuvor mißachtet haben? Da stimmt doch etwas nicht.
Wie haben Sie entschieden?
Augst: Im Sinne einer einfachen Handhabung Kleinschreibung bleibt
die Norm. Wenn du aber etwas um es hervorzuheben groß schreiben
willst, dann tu’s.
Also wurde doch eine Entscheidung getroffen, die eine Abweichung vom Reformregelwerk bedeutet, denn diese Wahl wird dort so nicht gelassen. Oder soll die Freiheit nur den Nachrichtenagenturen gestattet sein, Schülern oder Beamten jedoch nicht?
Kleinschreibung war immer schon die Norm, Großschreibung das Besondere. Und natürlich geht es bei der besprochenen Sache ja nicht wirklich um Hervorhebung im eigentlichen Sinne, sondern um eine Markierung zur Unterscheidung zwischen Sein und Heißen. Natürlich kann jeder von Schwarzen Koffern schreiben, aber im Vergleich zu schwarzen Koffern wäre das dann ein Hinweis: hinter dem Ausdruck steckt eine Bedeutung, die nicht erfordert, daß die Koffer wirklich schwarz sind.
Es gibt aber auch rechtliche Begriffe, bei denen Großschreibung sinnvoll
ist. Beispiel: die „Erste Hilfe.“
Augst: Dabei handelt es sich um Fachsprache. Die liegt außerhalb der
amtlichen Norm.
Wieso gibt es dann einen Eintrag die erste Hilfe* in der Wörterliste der amtlichen Neuregelung?
Das Gesetz, eine Fachsprache?
Augst: Ja, Termini des Gesetzes sind Rechts-Sprache. Darin liegt ja
deren „Gemeinheit“: Man meint den Sinn zu verstehen, aber das Wort
bedeutet etwas anderes denken Sie nur an den Unterschied von
„Besitz“ und „Eigentum“.
Die Grenze zwischen Fach- und Umgangssprache ist aber schwer
auszumachen...
Augst: Sie ist fließend. Die Fachsprache greift auf die
Allgemeinsprache zurück und neue Fachbegriffe wachsen in den
Sprachgebrauch hinein.
Dann ist es aber doch überflüssig problematisch, wenn Begriffe wie Erste Hilfe (oder schwerbehindert usw.) in der Allgemeinsprache plötzlich anders geschrieben werden sollen als in der Fachsprache. Vollkommen albern.
Bei diesen Fällen schimmert noch das alte Ziel durch, die
Kleinschreibung einzuführen. Im Ganzen haben wir aber mehr
Großschreibung. Wieso?
Augst: Der Internationale Arbeitskreis hatte den deutschsprachigen
Staaten empfohlen, die gemäßigte Kleinschreibung einzuführen. Das
wurde jedoch abgelehnt. Um schwierige Randphänomene abschaffen zu
können, musste man also eine neue Lösung finden.
Natürlich sind in Wirklichkeit die gleichen Randphänomene immer noch vorhanden, nur daß der Randverlauf etwas geändert wurde, allerdings sprachhistorisch nachweislich rückschrittlich. Systematisch vereinfacht wurde dabei überhaupt nichts.
Warum fiel die so gegensätzlich zum ersten Plan aus?
Augst: Schon vor der Reform haben viele nicht etwa nur Kinder und
Halbalphabeten Begriffe wie „im Voraus“ groß geschrieben, weil sie
den Ausdruck als Substantiv verstanden haben. „Im“ gilt als
Zusammenschluss von „in“ und „dem“. Da haben wir gesagt, okay, soll
man’s doch einfach groß schreiben.
Mit dieser Logik müßte man dann aber auch am Höchsten usw. schreiben (Superlative).
Und sich damit von der Grammatik entfernen?
Augst: In dem Fall ist das eindeutig so, anderswo weniger: Ich habe
Linguisten erlebt, die sich stritten, ob bei „heute Abend“ ein Adverb oder
ein Substantiv vorliegt. Wenn die sich schon nicht einigen, kann man
das doch auch dem Normalschreiber nicht zumuten.
Es wird dem Normalschreiber immer noch zugemutet, nur unter umgekehrtem Vorzeichen. Denn laut Reform ist nur heute Abend richtig, dafür heute abend falsch. Wenn man schon zu dem Schluß kommt, daß sich die Wortart nicht genau klären lasse bzw. daß sie Ansichtssache sei, dann müßte man doch die Schreibung freigeben. Augsts Begründung ergibt da also keinen rechten Sinn.
Die Reform sollte das Schreiben vereinfachen. Warum hält sich der
gegenteilige Eindruck?
Augst: Das Alte, wenn’s auch schwierig war, wird für besser gehalten,
als das Neue. Aber viele haben sich schon an die neue Schreibung
gewöhnt. Auch, weil die Zeitungen umgestellt haben.
Gerade bei denen belegen Untersuchungen aber höhere Fehlerquoten...
Augst: Das ist doch klar: Aus der Sicherheit gestoßen, beginnt man zu
überlegen. So, wie der Tausendfüßler, der nachdenkt, wie er das 556.
Bein bewegt. Am Ende kann er dann gar nicht mehr laufen. Außerdem
kommt es darauf an, wer die Studien erstellt und ob er alle Fehler zählt,
oder nur die von der Neuschreibung verursachten. Unser Bericht enthält
eine Untersuchung von 18 Tageszeitungen...
Interessant, Augst gibt zu, daß die Umstellung große Schwierigkeiten bereiten kann. Mehr noch, er geht sogar davon aus, daß vor der Reform eine Sicherheit vorherrschte (Aus der Sicherheit gestoßen...)! Warum hat man es denn bei diesem wunderbaren Zustand nicht einfach belassen?
Wie fiel die aus?
Augst: Wir haben festgestellt, dass die neue Orthografie zu 94 Prozent
richtig angewendet wird. Fehler treten gerade bei Wörtern auf, die im
Kopf gespeichert sind etwa „muß“ mit „ß“.
Das Beispiel ist schlecht gewählt, denn ein Fehler wie muß" gehört gerade zu jenen, die der genannten Untersuchung zufolge am seltensten auftreten. Auf ganze Prozente gerundet sind für die verschiedenen Bereiche der Reform folgende Fehlerquotienten festgestellt worden:
Laut-Buchstaben-Zuordnung: 1 %
Getrennt-/Zusammenschreibung: 17 %
Schreibung mit Bindestrich: 6 %
Groß-/Kleinschreibung. 13 %
Worttrennung: 19 %
Der in der Tabelle des Berichts angegebene Gesamtfehlerquotient beträgt 4,4 %. Man muß noch die Zeichensetzungsfälle unter fakultativ alt rausrechnen, weil die sich auf gesetzte Kommas beziehen, die bereits vor der Reform üblich waren und nicht dadurch reformspezifisch werden, daß man sie gemäß Reform auch weglassen könnte. Das sind übrigens fast alle Fälle; daran sieht man, wie wenig Gebrauch von den neuen Komma-Freiräumen gemacht wird. Berücksichtigt man diesen Umstand, kommt man auf den Gesamtfehlerquotienten 6 %, also die 94 % richtiger Anwendung, von der Augst spricht.
Der Quotient bezieht sich also natürlich nur auf solche Wörter, die von der Reform überhaupt betroffen sind. Die ss/ß-Regelung wurde in den untersuchten Texten offenbar sehr sicher umgesetzt. Da diese reformspezifische Laut-Buchstaben-Zuordnung bei weitem am häufigsten vorkommt, fallen auch andere Fehler in diesem Bereich prozentual nur minimal ins Gewicht. Die ss/ß-Regelung ist zudem die einzige reformspezifische Regel, die streng systematisch eindeutig anwendbar und gegenüber der bisherigen tatsächlich geringfügig systematisch vereinfacht ist (was die resultierenden Schreibweisen aber erwiesenermaßen für Schulkinder nicht einfacher lernbar macht, denn beseitigt wurden ausgerechnet die einfachsten, augenfälligsten Elemente des Systems). Für die bisherige ss/ß-Regelung sprechen ja auch weniger rein logisch-systematisch bessere Lernbarkeit als das stochastisch bedingt geringere Fehlerrisiko und die Vorzüge, die sie fürs Lesen bietet (Oberlängen-Silbenfugenmarkierung usw.).
Allerdings sind im Bereich der Laut-Buchstabenzuordnung etwa im gleichen Umfang Fehler nach Neuschrieb gemacht worden wie zugelassene Varianten jeweils progressiv und konservativ vorkamen. Die wirklich enorm schwierigen Bereiche der Reformschreibung liegen aber nicht in der Laut-Buchstaben-Zuordnung, wo man sich als Schreiber mit der Zeit schlicht die entsprechenden Neuschrieb-Wortbilder angewöhnen kann (so wie man das als Schreibenlernender mit der bisherigen Rechtschreibung vor der Reform jedoch noch besser machen konnte, weil es keine Verwirrung durch alternative Rechtschreibungen gab), sondern dort, wo tatsächlich eine situationsspezifische grammatische Analyse erforderlich ist, um die richtige Schreibung zu ermitteln, also hauptsächlich bei der Getrennt-/Zusammenschreibung und bei der Groß-/Kleinschreibung.
Nur auf diese beiden Bereiche bezogen, die in den untersuchten Texten 16 % der Abweichungen von der alten Rechtschreibung ausmachten, beträgt der Fehlerquotient aber bereits 15 % (mit anderen Worten, in diesen 16 % der reformspezifischen Änderungen waren 85 % nach Ansicht der Kommission richtig umgesetzt).
Die Kommission untersuchte 18 Tageszeitungen vom 15. Januar 2001. Man müßte einmal die Ausgaben derselben Zeitungen aus dem Januar 1996 zum Vergleich heranziehen, um sagen zu können, ob Fehlerzahlen zugenommen haben oder nicht.
Warum aber müssen wir auch nur diese vorübergehende Verwirrung
hinnehmen?
Augst: Eine Rechtschreibreform macht man nicht für drei, vier Jahre. Die
letzte, von 1901, trat 1902 in Kraft. Da gab es übrigens dieselben
Phänomene, die Sie beklagen.
Mit ein paar entscheidenden Unterschieden: Es gab damals nicht bereits zuvor eine überregional einheitliche deutsche Orthographie, die allen lebenden Menschen in der Schule beigebracht wurde und im weit überwiegenden Bestand schriftlicher Medien vorliegt. Außerdem wurden damals keine Schreibweisen eingeführt, die zu der Zeit überhaupt nicht üblich waren, sondern es wurden lediglich per Abstimmung der Konferenzteilnehmer Varianten gestrichen. Und es herrschte damals das wilhelminische Kaiserreich. Unser heutiger deutscher Staat jedoch hat eine demokratische Verfassung aus keinem anderen Grund als dem, politisches Handeln gegen den Willen des Volkes auszuschließen.
Erklärt das schon die harsche Kritik? Hat die Kommission keine Fehler
gemacht?
Augst: Möglich, dass wir die Öffentlichkeit mehr auf die neuen Regeln
hätten hinweisen müssen. Und ein Versäumnis war, das Regelwerk
nicht vor Inkrafttreten mit den Wörterbuchredaktionen durchzuarbeiten:
Die Nachschlagewerke erschienen 1996 wegen des Marktvorteils ja
mitunter schon vor dem Erlass.
Das ist ein ganz erhebliches Versäumnis; wie Theodor Ickler bereits kommentiert hat, haben die Reformer, Schulbehörden usw. das ja nicht einfach nur tatenlos mitangesehen, sondern an der vorgezogenen Schaffung von Tatsachen eifrig mitgewirkt.
Und: Nun inzwischen ist die Öffentlichkeit mehr auf die neuen Regeln hingewiesen; deren Folgen lassen sich schließlich tagtäglich beobachten. Doch immer noch werden sie nur von 10 % der Betroffenen befürwortet.
Wird Rechtschreibung durch den Streit nicht überbewertet? Wozu
überhaupt Orthografie?
Augst: Aus der Erfindung des Buchdrucks, mit der sich auch das
Lektüretempo verzehnfacht hat, ergibt sich das Bedürfnis, eine
Schreibung stets in der gleichen Form geboten zu bekommen...
Sonderbar, wie man daraus den Schluß ziehen kann, man müßte also am besten einfach mal die Form der Schreibung verändern.
Trotzdem lässt Ihre Reform so viele Varianten zu?
Augst: Sie können versuchen, eine Rechtschreibung einzubetonieren.
Aber es wird nie gelingen: Orthografie unterliegt dem historischen
Wandel. Es ist möglich, den ein bisschen zu bremsen. Mehr aber nicht.
Den Willen der Schreiber können weder die beste Reform noch
diktatorische Maßnahmen je unterdrücken.
Da kann er natürlich aus Erfahrung sprechen. Wobei die gegenwärtige Reform nicht nur ein bißchen bremsen, sondern die Rechtschreibung eben doch einbetonieren sollte, allerdings auf einem entsetzlich rückschrittlichen Stand.
Kraft kultusministeriellem Erlaß gegen den Volkswillen darf den Schülern gegenwärtig nur eine Rechtschreibung beigebracht werden, an dessen Erfolg nicht einmal mehr der Oberreformer und Vorsitzende der Rechtschreibkommission glaubt.
Witzigerweise zieht Augst in seinem Schlußwort nicht in Erwägung, man könnte auch den Versuch unterlassen, eine Rechtschreibung einzubetonieren oder die Sprachentwicklung zu bremsen. Weder scheint ihm das enorm Anmaßende so eines Versuches aufzufallen, noch spricht er über die Möglichkeit, die Rechtschreibung einfach so zu nehmen und zu beschreiben, wie sie ist und alle sie kennen. Dabei liegt doch auf der Hand, daß mit so einem Ansatz garantiert weniger Probleme aufkommen, als wenn man mit erzwungenen Umstellungen für unnötige Reibungsverluste sorgt.
– geändert durch Christian Melsa am 11.05.2002, 20.11 –
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