Eine Stadt liest ein Buch
Wo wir wegen der Veranstaltung in Bayern gerade so beschwingt sind, erzähle ich jetzt mal endlich von der Aktion, die ich hauptsächlich mit Unterstützung von Herrn Reimers und Frau Ludwig vor etwa einem Monat in Hamburg durchgeführt habe (Dank auch an Frau Lohse, eines der wenigen Hamburger VRS-Mitglieder). Anlaß war wiederum eine Aktion der städtischen Kulturbehörde. Zu der erwähnten Zeit hieß es hier nämlich Eine Stadt liest ein Buch. Die Kultursenatorin, noch nicht allzu lange im Amt, hat damit ihren ersten großen Wurf gelandet. Die Idee stammt ursprünglich aus Seattle, wo vor ein paar Jahren erstmals alle Bürger der Stadt aufgerufen waren, sich eine Woche lang gleichzeitig mit demselben Buch zu beschäftigen. Während dieser Zeit widmen sich dann zahlreiche Veranstaltungen den verschiedenen Aspekten des auser- bzw. gelesenen Buchs. In Hamburg fiel die Wahl der Kulturbehörde auf einen Roman, der zudem in Hamburg spielt, Der Mann im Strom von Siegfried Lenz, und letzterer ist darüber hinaus nicht nur Hamburger Ehrenbürger, sondern auch Mitglied im VRS also eine gute Gelegenheit, ein bißchen reformkritisches Aufklärungsmaterial in den Rummel zu streuen. Das geschah in Form eines kleinen Flugblatts, das ebenfalls als PDF-Datei vorliegt (vorzufinden unter http://www.vrs-ev.de/esleb.pdf). Es lag aus oder wurde verteilt, wo eben Lesungen, Diskussionen, Filmvorführungen zum Buch auf dem Programm standen.
Lesungen gab es sogar in der U-Bahn, jener Linie nämlich, die auf einem Viadukt direkt am Hamburger Hafen vorbeiführt, Schauplatz des Romangeschehens. Im hinteren Wagen sprach ein Schauspielschüler über eine tragbare Verstärkeranlage zu den Fahrgästen, die ich währenddessen mit dem Flugblatt versorgte. Zufälligerweise stieg bei dieser Fahrt auch ein Mitarbeiter der ZEIT zu (die Redaktion liegt in der Nähe des Hafens), der sich als solcher mir gegenüber zu erkennen gab, nachdem er gesehen hatte, worum es in dem Flugblatt geht. Er hat sich dann gleich erkundigt, wie die Leute denn so im allgemeinen auf das Thema reagieren. Ich habe ihm also erzählt, daß die Reaktionen eigentlich, wenn es welche gibt, immer recht positiv sind; die Leute scheinen oft erfreut zu sein, daß noch etwas gegen die Sache unternommen wird. Natürlich war in der gegebenen Situation kein ausführliches Gespräch mit dem Mann möglich, denn er stieg schon nach wenigen Stationen wieder aus, schade eigentlich. Aber mit wem ich während dieser Woche beim Verteilen der Flugblätter über deren Thema auch immer ins Gespräch gekommen bin, immer bekam ich zu hören, für wie unsinnig und überflüssig, geradezu lästig die Leute die Reform halten.
Ich kann mich nur an einen Fall erinnern, bei dem das etwas anders verlief, der liegt allerdings schon über ein Jahr zurück, da war ich auf einem (eher linken) Kongreß zum Thema Demokratie, wo und wie? an der Hochschule für Politik und Wirtschaft mit den Sehstörungen-Faltblättern im Gepäck unterwegs. Eine Dame, der ich ein Faltblatt gegeben hatte, kam kurz darauf auf mich zu und meinte, damit sei sie ja eigentlich gar nicht einverstanden, mit dieser Position. Sie sei nämlich Lehrerin und finde manches an der Reform gar nicht so schlecht, wenn auch einiges zugegebenermaßen ziemlich lächerlich sei. Also fragte ich sie, was genau sie denn begrüße und warum. Witzigerweise führte sie dann ausgerechnet die Worttrennung am Zeilenende an, die sei doch jetzt so schön liberalisiert. Die Einwände, mit denen ich sie dann überhäufte, schienen ihr ziemlich neu zu sein (im wesentlichen die Frage, warum man die Trennung nicht gleich komplett von Regeln befreit habe, wenn man die durch die Reform entstehenden Absurditäten schon hinzunehmen bereit ist), und tatsächlich gab sie kurz darauf zu, na ja, ganz so toll sei das vielleicht doch nicht alles, aber irgendwie schien sie trotzdem an der Reform zu hängen, auch ohne stichhaltige Begründung. Da es sich um einen Demokratiekongreß handelte, habe ich dann noch auf diesen Aspekt hingewiesen: Mag es auch Leute geben, die die Reform befürworten, sie sind nun einmal in der überdeutlichen Minderheit, demokratiegemäß wäre es also, auf die Mehrheit zu hören, die die Reform lieber heute als morgen beseitigt sähe. Tja, da geriet sie wirklich in Argumentationsschwierigkeiten: Über manche Dinge sollte das Volk vielleicht nicht entscheiden dürfen, dann könnte man die ja nie durchsetzen... Das war natürlich das genaue Gegenteil vom Tenor des gesamten Kongresses, und das blieb ihr auch nicht ganz verborgen. Immerhin, ich konnte die richtigen Denkanstöße an sie weitergeben, und sie schien bereit, sich das alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.
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