Zwecklüge
Die These von der willkürlichen Setzung sprachlicher Normen, einschließlich der orthographischen, ist eine Zwecklüge, auf die Rechtschreibreformer nicht verzichten können. Es mag schwerfallen, die Schriftnorm einerseits als Ergebnis kollektiver Sprachreflexion, andererseits als Resultat ungesteuerten Zusammenwirkens von Lexikographen, Grammatikern, Druckern und Schreibern zu begreifen, und doch ist es nur so plausibel. Wenn die Behauptung von der (erfolgreichen) willkürlichen Normierung stimmen sollte, müßten die Regelungsbemühungen dem Schreibgebrauch vorausgeeilt oder zumindest parallel verlaufen sein. Das Gegenteil ist der Fall.
Grundsätzlich haben weder einzelne Grammatiker und Wörterbuchschreiber die Sprachnormen präskriptiv gesetzt noch haben Sprachideologen ihre Vorbilder und Prinzipien willkürlich erfunden. Es handelt sich vielmehr um eine vom Späthumanismus international angeregte evolutionäre Entwicklung [...].
Die Kodifizierung der Schreibnormen erfolgte nachträglich, sie hinkte der Sprachentwicklung teilweise erheblich, manchmal mehrere Jahrzehnte hinterher.
Heide Kuhlmann: Orthographie und Politik (Einleitung, 2.Teil)
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