ieder und jeder
Zur Entwicklung des neueren Buchstabens J und des kleinen j kann man sich recht gut
informieren im Oxford English Dictionary, OED, offiziell erschienen 1930. Ein Vorabdruck wurde 1928 von einer Delegation in die Vereinigten Staaten gebracht und unter feierlichen Umständen dem amerikanischen Präsidenten überreicht.
Ursprünglich geht J wohl auf die Phönizier zurück, auf das Jod im hebräischen Alephbeth, wandert dann zu den Griechen, die um 1100 vor Christus das Alephbeth übernahmen.
Konsonantisches J sei in der griechischen Sprache und Schrift nirgends erhalten, sagt ein Wörterbuch, (Menge, 26. Auflage 1987, erste Auflage wohl 1913), die Griechen hätten „das semitische Jot in das griechische Alphabet aufgenommen, aber nur für den Vokal i verwandt. Daß aber j im Urgriechischen vorhanden gewesen ist, geht aus seinen lautlichen Wirkungen deutlich hervor.“
Das von den Griechen entlehnte lateinische Alphabet hatte am Ende der Republik 21 Buchstaben. In augusteischer Zeit kamen Y und Z hinzu, 23 Buchstaben.
Irgendwann im frühen Mittelalter kam das W hinzu. Jetzt waren es 24 Buchstaben, das sogenannte Buchdrucker-ABC mit I = J und mit U = V.
Das Porstsche Gesangbuch, Berlin 1890, hat ein ABC mit 25 Buchstaben, mit u, v, w getrennt im Register, während die Liedanfänge mit I und J noch ungetrennt in einer Spalte stehen.
Nach dem OED sei zuerst von spanischen Druckern I und J getrennt worden: Ein spanisches Wörterbuch von 1599, „where I and J are strictly distinguished, though the I and J words are put in one series.“ Louis Elzevir druckte in Leyden 1595 bis 1616; ihm wird die Trennung des u vom v und des j vom i allgemein zugeschrieben. Einige englische Wörterbücher setzen bis 1820 zuerst die Wörter mit V, dann erst U. Man verrate das keinem Kultusminister.
Wenn das römische V der Vater war, kommt logischerweise das Kind U später an die Reihe.
Indes steht heute in der Reihe das U vor dem Vater V, während nach der Entwicklung des J aus dem I es heute genau umgekehrt ist.
Gottfried Keller hat bei seinen wundervollen Züricher Novellen eine Rahmenhandlung, die von Herrn Jacques erzählt, der ein Original werden will. Angespielt ist auf den neuen Buchstaben J, der noch nicht als Original gilt, solange er nicht eine eigene Abteilung im Wörterbuch besitzt und solange die Buchdrucker weiterhin mit 24 Buchstaben zählen.
Das OED gibt an, wann zum ersten Mal dem J ein eigener Zahlwert „amtlich“ zugewiesen wird: In der Royal Artillery ab 1884. So meldet 1900 der Dundee Advertiser am 12. Januar, Seite 5: „The transport Ujina sailed for Durban with J Battery Royal Horse Artillery and spare horses.”
Die Schwangerschaft des in unserer heutigen 26er ABC-Reihe stehenden J mit dem Wert 10 dauerte also von ca. 1599 bis mindestens 1900.
Ioannes Kepplerus, der kaiserliche Hofmathematiker, dürfte manchmal dem J auch schon den Wert 10 beigelegt haben. Bisweilen schreibt er seinen Namen Johannes mit J, bisweilen mit I.
Johann Wolfgang Goethe dürfte ebenfalls mit J = 10 gerechnet haben.
Dorothy Fields, vermutlich die größte Lyrikerin dieser Welt, schrieb 1928 ein Lied über den Buchstaben J, nämlich I Can’t Give You Anything But Love, Baby. Im Verse heißt es:
Gee, but it’s tough to be broke, kid,
It’s not a joke, kid, it’s a curse.
My luck is changing, it’s gotten,
From simply rotten to something worse.
Einfach “zerissen” ist das kleine i in Strich und Punkt, dem jetzt eine verworrene, durch eine Drehung im Schreibzug zustandekommende Unterschleife angeheftet wird.
Curse ist sowohl das Verbrechen, der Bruch in der althergebrachten Buchstabenreihe H, I, K zu H, I, J, K, als auch der Kurswert. Denn nicht nur ist neuerdings das alte K von Platz 10 auf Platz 11 aufgestiegen, sondern auch alle weiteren Buchstaben müssen weiterrücken, um dem J = 10 Platz zu machen.
„Gee“ gibt die Aussprache des englischen j wieder, ein klein wenig härter als Kellers Herr Jacques. Im Englischen gibt es mit weichem j noch ein paar wenige Wörter, wie sold-ier.
Die deutsche Fassung des Liedes: Ist dein kleines Herz für mich noch frei, Baby.
Dorothy hat ersatzweise noch eine zweite Version bei den beiden entscheidenden Zeilen:
Think that you ought to be knowing
My luck is going from bad to worse.
Das Wort “bad” wird im OED hergeleitet von baddel, einem Zwitter. Das ist das J denn auch, halb vokalisch, halb konsonantisch.
Das lautmalende „Gee“ spielt zugleich an auf ein G, und konstatiert damit einen älteren Bruch bei den Römern, um 250 vor Christus. Ein Freigelassener mit dem bezeichnenden Namen Spurius Carvilius hat der Legende nach aus einem C durch Hinzufügung einer Spur, eines Strichleins, ein G geschaffen, dieses auf den siebenten Platz gesetzt, wo es das Zeta (Z) ganz aus der Reihe verdrängte, bis es wieder neu eingeführt wurde von Kaiser Augustus, zusammen mit dem Y. An C. Julius Caesar und an Cn. Pompeius erkennt man noch die alte Stellung und Aussprache, Gaius, Gnaeus; wie die alte griechische und davor semitische Reihenfolge Alpha, Beta, Gamma bzw. Aleph, Beth, Gimel.
Das J scheint allgemein als jüngstes Baby zu gelten. Gemeinsam haben die Babies g, j, y Schleifchen, Unterschleifen.
Johann Wolfgang Goethe besitzt mit JWG drei relativ junge Buchstaben. Man verrate das aber auch nicht den Kultusministern und den Reformern, den Zurückformern.
Wie es mir erscheint, haben Johannes Kepler, Johann Wolfgang Goethe, Gottfried Keller, Dorothy Fields und nicht zuletzt die Royal Horse Artillery das neue Baby J mit aus der Taufe gehoben.
Ein Zurück des J zum I dürfte sogar deutschen Kultusministern schwerfallen. Die ganze Welt ist es sicher lange schon leid, deren erbärmlichen Müll auch noch nachdrucken zu sollen.
__________________
Rolf Genzmann
|