Hessisches Kultusministerium vom 28. November 1995
Hessisches Kultusministerium
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Wiesbaden
Aktenzeichen VII A – 601/83 – 106
28. November 1995
Reichl Verlag
Herrn Mattias Dräger
56329 St. Goar
Betr.: Neuregelung der deutschen Rechtschreibung;
Hier: Vorschläge
Bezug: Ihr Schreiben vom 26. Oktober 1995
Sehr geehrter Herr Dräger,
für Ihr Schreiben an Herrn Staatsminister Holzapfel danke ich Ihnen. Es ist mir zur Bearbeitung übergeben worden. Aus Ihrem Brief entnehme ich, daß Sie die herausgebildeten Konturen einer Neuregelung der deutschen Rechtschreibung engagiert beobachten und kritisieren. So wissen Sie freilich auch, daß es voraussichtlich zu Verzögerungen und Korrekturen bei der Verabschiedung kommen wird. Ich bitte Sie um Verständnis dafür, daß ich nicht auf alle Einwände, die sie vorbringen, eingehen kann, aber ich will Ihnen meine grundsätzlich zustimmende Haltung begründen:
Das eigentliche Argument für meine grundsätzliche Zustimmung liegt selbstverständlich beim Inhalt der Neuregelung insgesamt. Die Vorschläge für die Neuregelung beziehen sich auf
- Änderungen von Wortschreibungen zur Erhöhung der Stammkonstanz behände zu Hand, Bändel zu Band, schäuzen zu Schnauze usw.
- Fremdwortschreibungen – Eindeutschungsangebote
Die inhaltlichen Änderungen betreffen die Vereinheitlichung der Variantenschreibungen im gesamten deutschen Sprachraum: Für die Fallgruppen, in denen bereits eine oder mehrere Varianten vorliegen, wird die Variantenschreibung empfohlen. Im übrigen wurde sie noch in den letzten Wochen in ca. 50 Fällen zurückgezogen (Paket bleibt wie Zigarette und Zigarillo: ph/f: Es bleiben Alphabet, Asphalt und Katastrophe u.a.; rh/r: ebenso bleiben Rhabarber, Rheuma, Rhythmus usw.; th/t: alternativlos bleiben auch Asthma, Athlet, Biathlon, Theke usw.)
- Zeichensetzung
Die Veränderungen betreffen insbesondere die Kommasetzung, die vor allem in drei Teilbereichen Schwierigkeiten bereitet: 1. Komma vor und, oder und verwandten Konjunktionen, 2. Komma bei Infinitiv- und Partizipialgruppen, 3. Komma bei wörtlicher Rede.
- Worttrennung am Zeilenende
Die Neureglung betrifft zwei Problemfelder: zum einen bisherige Ausnahmen, zum anderen die Trennung von Fremdwörtern.
- Getrennt- und Zusammenschreibung
Im amtlichen Regelwerk von 1901/02 war der Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung nicht generell geregelt. Die im Rechtschreib-Duden seit 1915 entwickelte und heute mit einer Vielzahl von Sonderregelungen belastete Darstellung soll vor allem dadurch überschaubarer gemacht werden, daß von der Getrenntschreibung als dem Normalfall ausgegangen wird.
- Groß- und Kleinschreibung
Besonders in diesem Bereich möchte die Neuregelung (allerdings mit der Folge vermehrter Großschreibung) zu mehr Klarheit führen. Die ansonsten zur Identifizierung eines substantivischen Gebrauchs maßgeblichen Kriterien (vorhandener Artikel und Flexionsmerkmale) gelten nunmehr auch für weitere Fallgruppen. Beispiel: Substantive werden auch in festen Fügungen künftig großgeschrieben, also z.B. außer Acht lassen, in Acht nehmen, mit Bezug (auf), Rad fahren, Recht sprechen, Recht haben u.a.
Zusammengefaßt und auf die Vorzüge insgesamt formuliert, leistet die Neuregelung folgendes:
Für alle Bereiche der Rechtschreibung werden die Regeln neu gefaßt einschließlich der 1901 noch nicht geregelten Getrennt- und Zusammenschreibung und der Zeichensetzung, die erst im Laufe der Jahre aus dem Buchdrucker-Duden in den allgemeinen Duden übernommen wurden.
Alle Grundregeln, einschließlich die der Großschreibung der Substantive, werden beibehalten, der Schwerpunkt der Neuregelung liegt in einer stärkeren Systematisierung des Regelwerks. Die Zahl der Regeln wird auf fast die Hälfte reduziert.
Ich habe Ihnen den Inhalt so systematisch und in seinen Vorzügen dargestellt, weil ich damit zum Ausdruck bringen will, daß es bei einer so umfangreichen Arbeit im Einzelfall zu Fehleinschätzungen kommen kann. Solche Fehleinschätzungen gibt es aber auch bei den Kritikern. So ist es z.B. nicht wahr, daß alle Bücher, die vor der Reform gedruckt wurden, wertlos werden bzw. neu aufgelegt werden müssen. So ist es beispielsweise auch nicht wahr, daß für den Staat Kosten in Milliardenhöhe entstehen. Die Schulbuchverlage arbeiten bereits fleißig daran, die Neuregelung fristgerecht umzusetzen; es ist also mit Genugtuung festzustellen, daß der für einige Kritiker zu geringe Umfang der Neuregelung auch seine Vorzüge hat.
Ich bin nicht in der Lage, auf alle Ihre Vorschläge und Einfälle einzugehen. Meine Erwiderung bezieht sich vor allem auf die Seiten 3 und 4 Ihres Schreibens. Dabei bediene ich mich der Formulierungs- und Argumentationshilfen eines Professors, der an der Ausarbeitung des Neuregelungsvorschlages federführend beteiligt war.
Zunächst zu Seite 3:
Silbentrennung
Das Verbot, am Anfang einen Vokal abzutrennen, stammt aus der Tradition der Drucker. Es ist nicht einzusehen, eine Ausnahmeregel anzusetzen (und damit auch üben zu lassen), nur um eine subjektiv empfundene „unschöne Typographie“ zu vermeiden. Was das Lesen angeht, so ist jede (!) Trennung mehr oder minder ein Lesehemmnis. Ihre „Hemmung des Leseflusses“ gibt es genauso bei Au-to, Au-ge, Au-la (Trennungen, die herkömmlich erlaubt sind), ebenso aber auch bei ver-lieren, ver-stehen usw. Im übrigen ist die Trennung der einzige Bereich, den der Schreiber umgehen kann. Wem also – am Alten hängend – A-bend nicht gefällt, der kann die Trennung unterlassen!
Das – daß
Bei der Unterscheidungsschreibung von das und daß geht es bei das nicht um den Artikel, sondern um das Demonstrativ- und Relativpronomen, z.B. Demonstrativpron.: Das zu wissen ist gut; Relativpron.: Jenes Haus, das da steht, ... Wie begründet sich nun die Neuschreibung dass? Nach kurzem Vokal steht im Wort- oder Silbenauslaut für stimmloses /s/ der Buchstabe ß, inlautend der Doppelbuchstabe ss, z.B. Faß – Fässer; fassen – du faßt, faß! An sich haben kleine grammatische Wörter statt des ß nur ein s, z.B. was, wes, des, bis und eben auch das. Die Unterscheidungsschreibung führte dann im 16. Jh. zu daß (Konj.). Da nun aber ß nach kurzem Vokal durch die Reform in ss verwandelt und somit der Wechsel von Faß – Fässer als prinzipienwidrig abgeschafft wird, trifft dies auch für die Konj. daß zu dass zu, sonst müßte in Zukunft daß mit langem /a/ gesprochen werden wie: er fraß.
Tip – Tipp
Bei der Schreibung mit Doppelkonsonant gilt im Deutschen wegen des Stammprinzips: einmal Doppelkonsonant – immer Doppelkonsonant, z.B. Kamm – Kämme – kämmen; Galopp – galoppieren (Ausnahme des – dessen u.a.). Anders ist das im Englischen, z.B. job – jobbing; daraus analog im Deutschen der Job – aber: jobben; Pep – peppig. Im Deutschen haben wir also bei diesen Lehnwörtern auch die dem Deutschen nicht gemäße Orthographie übernommen. Nun gibt es unter den Entlehnungen einige, die im Deutschen nicht als Entlehnungen erkannt werden, z.B. Mop – moppen. Hier schlagen die Reformer Mopp vor. Ein ähnlicher Fall liegt vor, wenn das engl. Wort auf ein gleichlautendes deutsches Wort derselben Wurzel trifft, z.B. engl. tip Ratschlag. Wettprognose zu deutsch tippen berühren, auf der Schreibmaschine schreiben. Da beides auch semantisch aufeinander beziehbar ist, schlagen die Reformer konsequenterweise vor, Tipp zu schreiben.
verbleuen – verbläuen
Zu den beiden letzten Abschnitten möchte ich zunächst feststellen, daß Sie sich wohl ziemlich in der Tonlage vergriffen haben.
Nun zur Sache: Mittelhochdeutsch blinwen, nhd. bleuen ist ein untergegangenes Wort. Die Wörterbücher, z.B. DUW, geben „veraltet“ an. Daher sind die Ableitungen, wie einbleuen, verbleuen und Pleuelstange mehr oder weniger isoliert. Genau in solchen Fällen setzen nun oft Neumotivationen ein: So hat z.B. Hängematte etymologisch weder etwas mit hängen, noch mit Matte zu tun; gleiches gilt z.B. für Maulwurf, Murmeltier und eben auch für verbleuen durch die Redensart grün und blau schlagen. Da einbleuen eine metaphorische Verwendung zu verbleuen ist, gilt der Zusammenhang in derselben Weise. Daß die Wortfamilie bleuen zerfallen ist, mögen Sie auch daraus ersehen, daß ab der 10. Auflage des Dudens Pleuelstange mit p geschrieben wird; dadurch ist der Bezug zu bleuen abgerissen.
Fass – Faß
Die Ausführungen zu Fass – Fassette sind idionsynkratisch. Mit demselben Recht könnten Sie auch Silber auf Silbe, Klavier auf vier beziehen. In der Tat: Ihre Verknüpfung fußt auf „völlig abwegige(n) Assoziationen“. Ihre Sorge, das Fassette auf Fass bezogen werden könnte, ist unbegründet.
Jakob Grimm
Ihre Berufung auf J. Grimm ist zwar zum Schluß rhetorisch gekonnt, nur was die Rechtschreibung angeht, kontraproduktiv. J. Grimm schrieb „gemäßigt klein“, und er forderte energisch die Einführung dieser Reform. Er wandte sich gegen das Dehnungs-h und schlug vor, die neuhochdeutsche Rundung der Vokale orthographisch aufzugeben, z.B. leffel statt Löffel. Die von Ihnen Grimm attestierte „tiefe Ehrfurcht vor der natürlichen Gestalt der Sprache und ihrem inneren Weistum“ muß er wohl doch mehr im Sinne der heutigen Reformer verstanden haben. Derselbe Grimm hat auch einen höchst lesenswerten Aufsatz „Über das Pedantische in der Sprache“ geschrieben, der vielleicht Ihr Bild von Grimm, aber auch von der Sprache ein wenig verändern kann.
Ich kann mir eine Neuregelung der Rechtschreibung, die keine Zweifel bei den künftigen Benutzern auslöst, nicht vorstellen, bin mir aber sicher, daß gegen diese Neuregelung kein Grund zu übergroßer Besorgnis besteht.
Der vorgelegte Neuregelungsvorschlag hat noch zwei Vorzüge, er ist abgestimmt mit fachlichen und staatlichen Vertretern aus anderen deutschsprachigen Ländern, und er ist gekoppelt mit einem Vorschlag, wie künftig mit dem z.Z. aktuellen Problem umgegangen werden soll: Die Einrichtung einer „Zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung“ halte ich für einen wichtigen und richtigen Schritt. Sie kann dann den Dialog mit den Kritikern führen und selbst Vorschläge ausarbeiten, wie künftig Teile des Regelwerks an den allgemeinen Sprachwandel angepaßt werden.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Habedank
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