Rechtschreibung und Tradition
Sehr geehrter gestur,
wie kann Rechtschreibung falsch sein?
Rechtschreibung = die rechte Schreibung = die richtige Schreibung
Die Reformschreibung ist keine Rechtschreibung, sondern eine
Hörigkeitsschreibung! Und eine solche kann der Grammatik widersprechen oder
ihre Regeln Widersprüche enthalten. Das wissen alle ihre Anhänger. (Schüler
kann man nicht als Anhänger der Reform bezeichnen, sie sind ihre Opfer!)
Es ist eben ''cool'' oder ''hip'', sich dem Richtigen zu widersetzen. Und bei
der Rechtschreibung kann man das tun, ohne dafür bestraft zu werden. Man ist
sozusagen gleichzeitig systemkonform und aufmüpfig! Billiger kann man
Widerstand nicht bekommen! (Man beachte, wirklicher politischer Widerstand
trägt auch das Risiko der Verhaftung oder gar des eigenen Todes in sich!) Die
Rechtschreibreform wurde psychologisch sehr geschickt eingeführt, wir sollten
die Reformer nicht unterschätzen!
Offenbar kann die Rechtschreibung (hier besser die gültige Schreibnorm) von
Einzelpersonen, die sich zudem nicht der wissenschaftlichen Diskussion stellen
und Fehler nicht eingestehen wollen, in diktatorischer Weise geändert werden.
Ein Volk entscheidet überhaupt nicht mehrheitlich, wie es ''seine'' Sprache
schreiben will! Das ist eine Illusion! Eine Sprache gehört auch nicht nur
einem Volk, sondern eventuell mehreren Völkern, z. B. Deutschen, Österreichern,
aber auch Menschen, die sprachlich einem anderen Volk zugehörig sind, aber
Deutsch als Fremdsprache gelernt haben. (Die Aussage des Bundestages, wonach
''Sprache dem Volk gehört'', ist etwas zu kurz gegriffen. Auch der Bundestag ist
nicht das Volk!)
Eine Sprache ist kein Ding, sie kann deshalb auch niemandem gehören, auch nicht
einem Volk!
Würde ein Volk mehrheitlich darüber entscheiden können, wie es seine Sprache
schreiben will, so wäre es u. U. möglich, daß es in einer Volksabstimmung eine
Veränderung der Schreibweisen bestimmt -- ganz demokratisch -- und das Ergebnis
ist ein Kompromiß: widersprüchlich, ungrammatisch, willkürlich, mehrdeutig,
usw., der sich letztlich nicht oder nur teilweise durchsetzten wird.
Auch in der Demokratie gibt es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis!
Ich habe auf diese Probleme schon in anderen Beiträgen hingewiesen, aber
offenbar werden die nicht gelesen oder nicht verstanden.
Sie definieren ''natürlich'' über die Praktiken der Mehrheit? Ist Ihnen noch
nicht aufgefallen, daß auch eine Mehrheit zu ''unnatürlichen'' Praktiken
gezwungen werden kann. Dies geschah im letzten Jahrhundert in Deutschland
auf politischem Gebiete mehrfach, mit den bekannten Folgen!
Beitrag vom 23.04.2004, 23:43, Alles nur Sitten und Gebräuche?
Die Reformer können immer etwas als altmodisch hinstellen, das darf uns aber
nicht dazu verleiten, daraus abzuleiten, daß die Prämisse (Rechtschreibung und
Grammatik sind Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuche) falsch ist.
(Natürlich sind Rechtschreibung und Grammatik nicht nur -- aber auch --
Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuche, sondern weit mehr, schließlich steht ja
eine Entwicklung, eine Art Evolution dahinter.) Aber das konnte nur stattfinden,
weil es eben tradiert wurde.
Man kann auch bestimmte Menschen schlechtmachen, auch wenn diese gar
nichts getan haben. Sowas ist ein krimineller Akt. Genauso sind die Reformer
Verbrecher, eben weil sie die Rechtschreibung (d. h. die klassische
Rechtschreibung, natürlich nicht die Deformschreibung) schlechtmachen.
Sie lassen sich zu sehr von der Argumentation der Reformer beeinflussen!
Warum soll Tradition altmodisch sein? Tradition kann aber verhindern, daß
man unausgegorenen Ideologien nachläuft. Dem steht nicht entgegen, daß sich
auch Traditionen einmal überlebt haben können.
Die Reformer nutzen -- psychologisch geschickt -- aus, daß Menschen
nicht gerne ''altmodisch'' sein wollen, um sie in ihre Richtung zu manipulieren.
Das ist eben gerade nicht ''natürlich'', es ist die Absicht der Reformer!
Es geht bei der Rechtschreibung nicht darum, was die Reformer oder andere
sagen oder denken, sondern darum, was sich über Jahrhunderte als zweckmäßig und
damit richtig herausgestellt hat.
Wenn Sie erwarten, daß etwas ''absolut'' richtig oder falsch ist, dann gibt es
''richtig'' oder ''falsch'' nicht. Diese Begriffe sind, wie alles, relativ, sie
beziehen sich auf ein Regelwerk oder auf Sachverhalte. Diese können von anderen
Menschen auch anders gesehen oder interpretiert werden. Die Tradition sagt mir,
was andere vor mir schon als richtig erachtet haben, was sich seit Jahrhunderten
als zweckmäßig herausgestellt hat. Wenn ich Kontinuität will, wenn ich will,
daß auch andere von diesen im System verankerten Erkenntnissen profitieren, dann
führe ich die Tradition fort. Das Wichtige ist aber die Kontinuität, alles
andere ist nebensächlich, ist oberflächlich, ist unwesentlich!
Tradition auf dem Gebiet der Rechtschreibung gibt uns die Möglichkeit,
das, was andere viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte vor uns geschrieben
haben, lesen und verstehen zu können und daß das, was wir heute schreiben,
auch in Zukunft gelesen und verstanden wird. Das ist wichtiger als alles
demokratische Gehabe bei der Festlegung von Schreibungen. In englischsprachigen
Ländern hat man das begriffen. Solange das Englische so geschrieben wird, wie
es derzeit geschrieben wird und wie es seit ungefähr 500 Jahren geschrieben
wird, wird Englisch -- meines Erachtens -- eine Weltsprache sein. Sobald man
es reformieren wird, wird es diese Stellung verlieren!
Tradition ist der Schlüsselbegriff für die Erkenntnis des Sinnes von
Rechtschreibung.
Tradition ist der Ausweg aus Ihrem Dilemma, wonach für den Fall, daß
Rechtschreibung und Grammatik keine Teilgebiete der Wissenschaft, sondern nur
Untersuchungsobjekte sind, für die es die Begriffe ''richtig'' und ''falsch''
nicht gibt, alles nur Meinung, nur Ansichtssache, ist, über die am Ende die
Politiker entscheiden dürfen und müssen.
Werter gestur, Ihrem Beitrag vom 26.04.2004, 12:18, Schule, Verwaltung und das
richtige Leben, stimme ich zu!
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