Was ist denn so schlimm an Traditionen?
Zum Eintrag vom 22.04.2004, 15:07, Reformkritiker sind keine Traditionalisten
Sehr geehrter gestur,
wie können Sie die ''natürliche und selbsttätige Sprachentwicklung'' kennen?
Was heißt in diesem Zusammenhang ''natürlich'' und was heißt ''selbsttätig''?
Und was ist daran so beleidigend, wenn man sich auf eine Tradition beruft?
Strenggenommen müßte man jetzt noch definieren, was denn unter dem Begriff
''Tradition'' verstanden werden soll.
Traditionen, die ihre Träger benachteiligen, werden sich wohl kaum lange
halten; wenn sich etwas bewährt, wird es tradiert. In diesem Sinne sind
Traditionen inhärent positiv!
Traditionen sind auch als Maßstab für die Bewertung des Neuen notwendig.
Sollte sich dieses als besser erweisen, so wird es übernommen oder mit dem
Bisherigen in irgend einer Form in Einklang gebracht. Es bestünde sogar
die Möglichkeit, daß es parallel zum Bisherigen besteht. (Im Falle von
Rechtschreibung finde ich diese Möglichkeit aber für nicht wünschenswert und
auch nicht für praktikabel.)
Aber Menschen sind leicht zu beeinflussen, sie könnten auch etwas tradieren,
von dem sie nur glauben, daß es besser ist. Dies ist das Schlupfloch, durch das
die Reformer mit ihrer Reform huschen wollen, darum gehen sie auf sachliche
Argumente gar nicht erst ein.
Wie alles, so können natürlich auch Traditionen pervertiert werden!
Oft sieht das Neue am Anfang verlockend und besser aus, seine Nachteile stellen
sich erst später heraus. Dann ist es gut, auf Traditionen zurückgreifen zu
können. Wir leben in einer Welt, in der die Menschen immer weiter entwurzelt
werden. Diese Entwicklung ist gefährlich, da sie damit anfälliger für Ideologien
werden bzw. leichter politisch verführt werden können. Das Leben einer Tradition
bietet da einen gewissen Halt, eine gewisse Richtschnur. Ich meine, diese
Funktion von Tradition in der heutigen Zeit besonders wichtig.
Ohne Tradition gibt es nur aufeinanderfolgende Moden, modische Torheiten,
letztlich ist dann alles beliebig. Und genau das ist es, was wir Reformgegner
nicht wollen!
Heute haben die Medien einen so großen Einfluß, daß sie (zumindest theoretisch)
in der Lage sein müßten, der Entwicklung der Sprache eine andere Richtung zu
geben. Dies ist dann bestimmt nicht als ''natürlich'' zu werten. Da es viele
Leute, insbesondere jüngere Menschen, als ''hip'' oder ''cool'' empfinden, sich
in wichtigen Angelegenheiten, z. B. in der Rechtschreibung, von anderen Menschen
zu unterscheiden, ist es auch möglich, unter Kenntnis dieses Sachverhalts eine
Veränderung der Richtung der Sprachentwicklung zumindest zu provozieren zu
versuchen.
Aus einem meiner Texte für das Gästebuch des VRS
zur Diskussion über das Thema ''Mit dem Herz'' oder ''mit dem Herzen''
zum Beitrag von Herrn Riebe vom Dienstag, den 25.11.2003, 11:10:
Kinder lernen ihre Muttersprache in hohem Maße auch von ihren Großeltern.
Jede Sprachveränderung in der Elterngeneration wird dadurch relativiert.
Leider wird diese Bewertungsfunktion durch die Großeltern heute zunehmend
geringer, da auch hier das Fernsehen und das Internet immer mehr Einfluß
gewinnen. Langfristig gesehen heißt Sprachpflege betreiben also auch, diesen
Einfluß zurückzudrängen.
Ich habe den Eindruck, daß die Sprachwissenschaftler unter den Reformgegnern
noch immer nicht bemerkt haben, daß alle ihre Theorien über den ''Sprachwandel''
im Zeitalter der elektronischen Medien relativiert werden müssen. Durch diese
Medien ist es möglich, ''Sprachwandel'' zu provozieren oder es zumindest zu
versuchen. Dies wäre z.B. vor 100 Jahren noch kaum möglich gewesen. So besteht
die Gefahr, daß, wenn man den ''tatsächlichen Sprach- bzw. Schreibgebrauch''
zur Grundlage für ein Wörterbuch macht, wie Herr Ickler das befürwortet, man
die Sprachgemeinschaft nur noch einem höheren Manipulationsdruck durch die
Medien aussetzt, weil, wer Sprachmanipulation betreiben will, dann seine
Vorstellungen von Sprache über die Medien den Sprechern aufzwingen muß. Gelingt
ihm das, so wird diese von ihm gewünschte Änderung zur Regel, die Manipulation
hatte Erfolg. Gelingt es nicht, so gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder hatte
das Neue überhaupt keinen Einfluß oder der resultierende Effekt entsprach nicht
den Erwartungen. Auf jeden Fall wird man daraus lernen und so seine
Vorgehensweise verbessern.
Dabei ist der Begriff ''Sprachwandel'' selbst mißverständlich, impliziert
dieser doch einen Wandel der Sprache aus der Sprache selbst. Hier geht es
aber um die von außen provozierte Veränderung der Sprache durch Sprach- bzw.
Rechtschreibreformen und Medien, die man mit dem beschönigenden Begriff
''Sprachwandel'' zu kaschieren sucht. Ähnliches gilt auch für den Begriff
''Sprachentwicklung''!
Ich habe desweiteren den Eindruck, daß manche Reformgegner nur allzugerne
auf Moden in der Sprache einzugehen bereit sind, um ihre demokratische Gesinnung
-- im Gegensatz zu der undemokratischen Vorgehensweise der Reformer --
aufzuzeigen.
Sprache ist in dem Sinne demokratisch, daß jeder ihrer Sprecher an ihr
teilnimmt, sogar einen gewissen -- zumeist minimalen -- Einfluß auf sie hat;
Sprache ist in dem Sinne undemokratisch, daß sie ihren Sprechern notwendig
Regeln und Bedeutungsfestlegungen auferlegt, an die sie sich halten müssen,
wenn sie verstanden werden wollen oder wenn sie ältere Texte verstehen wollen.
Auch hier ist es natürlich immer möglich, andere Regeln und Festlegungen
einzuführen, was zu Bildung einer neuen Sprache führen kann. Da diese zumeist
nur auf wenige Sprecher beschränkt bleiben wird, sollte man da eher von einer
Geheimsprache spechen, denn wer macht sich schon die Mühe, etwas zu lernen,
was im normalen Leben keinen Nutzen bringt, es sei denn, er wird dazu gezwungen.
Erwachsene werden unter Zwang kaum etwas lernen, aber Kindern, denen der
Zwang nicht ersichtlich ist, schon. Darauf setzen die Reformer!
Wer etwas zu sagen hat und daher verstanden werden will, benutzt die klassische
Rechtschreibung, wer die Reformschreibung benutzt, hat nichts zu sagen!
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