für ein vielsprachiges Europa
Die Tageszeitung 14.6.2008
Zwei Drittel bangen um unser Deutsch
Der gefühlte Sprachverfall
Zu viel Englisch, zu viel Fernsehen, zu wenig Lesefreude: Laut einer Umfrage fürchten Alt und Jung, dass ihre Muttersprache verkommt. Mit der Realität hat das wenig zu tun. VON JULIA WALKER
[Bild (2 Schulkinder, jüner als 16 Jahre, lesen zwei Duden)]
Die deutsche Sprache verkommt nicht, es fühlt sich nur so an. Foto: dpa
BERLIN taz Die deutsche Sprache droht immer mehr zu verkommen so sehen das 65 Prozent der Deutschen. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die das Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführt hat. 1.820 Personen ab 16 Jahren wurden gefragt, wie sie über ihre Muttersprache und über Fremdsprachen denken.
Herausgekommen sind gefühlte Wahrnehmungen, die von Tatsachen weit entfernt seien, sagte Rudolf Hoberg, Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache. Diese hatte zusammen mit dem Deutschen Sprachrat die Umfrage in Auftrag gegeben. Schon seit den alten Ägyptern klagt die Generation der Erwachsenen darüber, dass alles schlechter geworden ist, relativierte Hoberg die jüngsten Umfrageergebnisse. Vor allem Ältere sorgen sich über einen Verfall der deutschen Sprache, so der Projektleiter im Allensbach-Institut, Rüdiger Schulz: Interessant dabei ist, dass auch die Jungen dasselbe Gefühl haben.
Zweifel an diesen Pauschalurteilen kommen auf, wenn man die Rechtschreibkenntnisse der Bevölkerung anschaut: Die Rechtschreibdefizite der Jüngeren sind heute nicht größer als auch schon vor zwanzig Jahren, und das trotz der Explosion der höheren Bildungsabschlüsse. Wörter wie Rhythmus oder Satellit schreibt damals wie heute nur jeder Zweite korrekt, wie ein kleiner Rechtschreibtest während der Umfrage beweist. Gleichzeitig gibt die Mehrheit an, von der Rechtschreibreform verunsichert zu sein.
Für den wahrgenommenen Sprachverfall geben die Befragten vielfältige Ursachen an: dass heute weniger gelesen und mehr ferngesehen wird; dass der Einfluss anderer Sprachen auf die deutsche Sprache stark zunimmt und dass schon im Elternhaus, in der Schule oder in den Medien weniger Wert auf eine gute Ausdrucksweise gelegt wird. Mit Blick auf Anglizismen klaffen die Aussagen älterer Menschen und die der jüngeren stark auseinander. An den englischen Ausdrücken wie Kids, Event, Meeting oder E-Mail stören sich überwiegend die Älteren. Gleichzeitig empfehlen fast alle Befragten, Englisch als Fremdsprache an der Schule zu lernen.
Was soll die Umfrage bringen? Zunächst wollen wir genau wissen, was wir schon erahnt hatten, sagte der Auftraggeber der Umfrage, Hoberg. Mit den repräsentativen Ergebnissen könne man, ohne nationalistisch zu sein, darauf dringen, die deutsche Sprache in Europa zu kräftigen. Sie werde zwar von den meisten Menschen in der Europäischen Union gesprochen, spiele aber bei weitem nicht die gleiche Rolle in Brüssel wie Englisch oder Französisch. Laut Umfrage fordert die große Mehrheit eine stärkere Verwendung der deutschen Sprache in der EU. Auch junge Deutsche sind davon überzeugt, dass die Vielfalt der Sprachen zur kulturellen Vielfalt Europas gehört, betonte Rüdiger Schulz. Irgendwann wollen wir so etwas werden wie eine ,académie allemande'", sagte Hoberg. Die Deutschen sollten sich ebenso wie Franzosen darüber klar werden, dass sie etwas für ihre Sprache und überhaupt für ein vielsprachiges Europa tun müssen. JULIA WALKER
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