Nachgefragt (An Herrn Schneider)
In Ihrer zusammenfassenden Beurteilung der Rechtschreibreform ordnen Sie die geänderte ss/ß-Schreibung unter sinnvoll ein. Dies möchte ich hinterfragen; mir scheint, daß es dabei auf die Auswahl der für die Beurteilung zugrundegelegten Kriterien ankommt.
Eine sinnvolle Beurteilung kann nur bei der Berücksichtigung aller relevanten Aspekte zustandekommen. Natürlich haben persönliche Vorlieben bzw. Abneigungen bei der Beurteilung immer einen gewissen Einfluß, wenn nicht unmittelbar, dann indirekt bei der Gewichtung der einzelnen Aspekte. Insofern ist bereits die Auswahl der Untersuchungspunkte problematisch, weil zirkulär: Wer soll anhand welcher Kriterien entscheiden, was die relevanten Aspekte sind? Darüber möchte ich nun nicht weiter nachdenken, sondern konkret die Aspekte bezüglich der ss/ß-Schreibung durchgehen. Ich werde Ihnen hier vermutlich nicht viel neues erzählen (und vor allem möchte ich Ihnen keinesfalls irgend eine Ignoranz gegenüber einem der angesprochenen Punkte unterstellen), ich möchte aber gern alle Aspekte gebündelt ansprechen und würde mich freuen, wenn Sie jeweils darauf eingehen.
Bemerkenswerterweise geben Sie die geänderte ss/ß-Regel als Ersetzung von 'ß' durch 'ss' nach Kurzvokal an. Dies weist bereits auf ein Problem hin, welches meiner Meinung nach mit dieser Regel verbunden ist: Für jemanden, der anhand der herkömmlichen Schreibweisen weiß, wo ein 'ß' steht, sollte diese Änderung vergleichsweise einfach nachzuvollziehen sein (seltsamerweise werden aber trotzdem viele Fehler gemacht), für Neulerner halte ich sie jedoch aus vielerlei Gründen für problematisch. Der wichtigste Aspekt dabei ist, daß man diese Regel nicht auf die bekannte Faustformel mit dem kurzen und dem langen Vokal verkürzen darf, denn dies gibt Anlaß zu neuen Fehlern.
An dieser Stelle fällt mir auf, daß Sie nur auf die 'ss'-Fälle eingehen, und dabei i. w. auch nur auf § 2. Dies greift aber m. E. zu kurz, um die Änderung der ss/ß-Schreibung richtig bewerten zu können:
1.) Paragraph 4 verzeichnet mehr Ausnahmen, als Sie in Ihrem Kommentar betrachten: § 4: In acht Fallgruppen verdoppelt man den Buchstaben für den einzelnen Konsonanten nicht, obwohl dieser einem betonten kurzen Vokal folgt.
Dies betrifft
1. eine Reihe einsilbiger Wörter (besonders aus dem Englischen), zum Beispiel: Bus, (...)
(...)
6. eine Reihe einsilbiger Wörter mit grammatischer Funktion, zum Beispiel: (...) bis, das (Artikel, Pronomen), des (aber dessen), (...) plus, (...) was, wes (aber wessen)
(...) Das As -- und nur dieses -- wurde als Ausnahme abgeschafft. Ob es ich dabei wirklich um eine Ausnahme handelt/gehandelt hat, ist fraglich: Bei einsilbigen Wörtern gibt es keinen per se betonten oder unbetonten Vokal, im Satzgefüge kann das Wort mal betont, mal unbetont sein. Daher ist die Betontheit des Vokals bei einsilbigen Wörtern kein wohldefinierter Begriff (und insofern § 4 in sich inkonsistent).
Inwiefern es für Neulerner ein Problem ist, zu beachten, daß sich die Regel § 2 nur auf betonte Kurzvokale bezieht, vermag ich nicht zu beurteilen, da sich hier der systematische Aspekt der Heyseschen s-Schreibung zeigt, das 's' bezüglich der Verdopplung anderen Konsonantenbuchstaben gleichzustellen -- was auch bedeutet, daß es [dieses Wort fällt auch unter § 4 (6)] wie andere Konsonanten als Endbuchstabe nicht verdoppelt wird, wenn der Vokal davor kurz und unbetont ist. Jedoch vermute ich, daß es in diesem Bereich zu Verunsicherungen kommen kann, denn es gilt ja, die Verwendung von 'ss' gegenüber einer Schreibung mit 'ß' abzugrenzen, und in der einfachsten Formulierung kann diese Abgrenzung zu Fehlern insbesondere bei Schlußbuchstaben Anlaß geben.
2.) In ihrem Kommentar gehen Sie auf § 25 gar nicht ein; den halte ich aber für nicht einfach: § 25: Für das scharfe (stimmlose) [s] nach langem Vokal oder Diphthong schreibt man ß, wenn im Wortstamm kein weiterer Konsonant folgt.
(...) Ausnahme: aus
Zur Schreibung von [s] in Wörtern mit Auslautverhärtung wie Haus, graziös, Maus, Preis siehe § 23. Auf § 23 gehen Sie zwar in Ihrem Kommentar ein, nicht aber bezüglich der s-Schreibung: § 23: Die in großen Teilen des deutschen Sprachgebiets auftretende Verhärtung der Konsonanten [b], [d], [g], [v] und [z] am Silbenende sowie vor anderen Konsonanten innerhalb der Silbe wird in der Schreibung nicht berücksichtigt.
E1: Bei vielen Wörtern kann die Schreibung aus der Aussprache erweiterter Formen oder verwandter Wörter abgeleitet werden, in denen der betreffende Konsonant am Silbenanfang steht, zum Beispiel:
(...)
Preis, preislich, preiswert; Preise (aber Fleiß fleißig)
Haus, häuslich, behaust; Häuser (aber Strauß Sträuße)
E2: Bei einer kleinen Gruppe von Wörtern ist es nicht oder nur schwer möglich, eine solche Erweiterung durchzuführen oder eine Beziehung zu verwandten Wörtern herzustellen. Man schreibt sie trotzdem mit b, d, g bzw. s, zum Beispiel:
Eisbein (Eis Eises), (...) Kies (Kiesel), (...) preisgeben, Reis (Reisig), Reis (= Korn; Reise fachsprachlich = Reissorten; aber Grieß), weissagen (weise) Diese vielen Beispiele in § 23 sind zwar auch bei der Verwendung der herkömmlichen Rechtschreibung nützlich, weil sie einem zu erkennen helfen, wo nur 's' steht; bei der neuen Regel aber, die sich an der Aussprache orientiert, sind alle diese Angaben notwendig, und das ist ein wichtiger Unterschied! Ohne diese Einschränkungen müßte man nach der Grundregel (§ 25) viel häufiger 'ß' schreiben.
3.) Nach der herkömmlichen Rechtschreibung gibt es kein 'ss' am Schluß eines Wortes (Pseudo-Ausnahme: ein Apostroph zeigt ein weggefallenes 'e' an, aber dann steht der Apostroph am Schluß und nicht das 'ss'), sondern nur die Fälle 's' oder 'ß' -- weil das 'ß' ja als Ligaturzeichen für Doppel-s am Ende eines Wortes steht.
Wer sich bei der Aussprache unsicher ist oder nicht weiß, was die Ausnahmen sind und also die Schreibung erraten muß, hat nach der reformierten Regel eine Trefferquote von 33% bzw. muß sich Geiste drei verschiedene Fälle vorstellen. Bei der herkömmlichen Schreibung sind es 50% bzw. nur zwei Fälle, und die haben zudem den Vorteil, daß sie sich optisch wesentlich deutlicher unterscheiden. -- Auf das Problem der falschen Schreibung aufgrund einer regional abweichenden Aussprache weisen Sie zwar in Ihrem Kommentar hin, nicht aber auf das 33%-Problem.
4.) Nach der herkömmlichen Rechtschreibung taucht 'ss' nur an einer Silbenfuge auf und zeigt also einen ambisyllabischen s-Laut an. Umgekehrt bedeutet dies, daß man bei einer Zerlegung in Sprechsilben ein zu schreibendes 'ss' immer sicher identifizieren kann. Diese Eindeutigkeit der Zuordnung -- ich nenne es einfach mal das "'ss'-Laut-Prinzip -- geht bei der reformierten Schreibung verloren. Bei der herkömmlichen Rechtschreibung besteht ein echtes Problem bezüglich der ss/ß-Schreibung m. E. nur in der Abgrenzung zwischen 's' und 'ß'.
5.) Auf die Probleme, daß -- als Folge davon, daß von der Ligaturfunktion des 'ß' kein Gebrauch mehr gemacht wird -- einige Neuschreibungen (wie Messergebnis) (...) missverständlich, andere (wie Missstand) schwer lesbar sind, weisen Sie zwar hin, gehen aber nicht weiter darauf ein. Ich sehe hierbei ein systematisches Problem: In Verbindung mit anderen Buchstaben kann ein 's' eine spezifische Signalfunktion bekommen, und zwar bei 'sp', 'st' und 'sch'. Insbesondere letztere Kombination, da echter Trigraph, wirkt bei zufälligem Entstehen irritierend: bisschen, Fresstempel, Schlossparkett.
6.) Bei der Schreibung mit Großbuchstaben wird 'ß' üblicherweise durch 'SS' ausgedrückt (vgl. § 25 E3). Dabei geht die Vokallängenmarkierung verloren, mit der möglichen Folge einer falsche Vokalverkürzung.
Wenn ich Ihre Darstellung der geänderten ss/ß-Schreibung zusammenfasse, weisen Sie auf zwei Aspekte als Vorzüge der neuen Regelung hin: "'ß' [weist] immer auf die Länge des Vokals hin, Vereinheitlichung zusammengehöriger Flexionsformen. Ich habe den Eindruck, daß dabei im wesentlichen nur das als positives Fazit herauskommt, was quasi an Voraussetzungen hineingesteckt wurde: Im Unterschied zur herkömmlichen Schreibung wird dem 'ß' ja die Vokallängenmarkierung zwangsweise verordnet, und es wird ihm seine Ligaturfunktion genommen bzw. abgesprochen (man kann auch sagen, die Entsprechung von 'ß' und 'ss' wird ignoriert). Damit ist es auch nicht überraschend, wenn man beim Vergleich der herkömmlichen und der reformierten Schreibweise, der allein diese beiden Aspekte berücksichtigt (vgl. http://staff-www.uni-marburg.de/~schneid9/s-schrei.pdf), zu dem Fazit kommt, daß die Neuregelung positiv zu beurteilen ist.
Mein Fazit ist ein anderes; dies möchte ich anhand folgender drei Punkte darstellen:
(i) Ist durch die neue Regel ein Problemfall entschärft worden? Was war eigentlich das Problem, das die neue "ß"-Regel nötig oder wünschenswert gemacht hat?
Außer bei das/daß" fällt mir erstmal kein verbreitetes Problem bezüglich der Verwendung von "ß" ein. Dieses Problem hat aber in erster Linie etwas mit der Grammatik und nicht mit der Rechtschreibung zu tun. Die neue Regel hat dieses Problem nicht beseitigt, sondern eher verschärft (s.u.).
(ii) Ist die neue Regel wirklich eine Vereinfachung bzw. eine Erleichterung (allgemeine Leitsätze der Rechtschreibreform) -- unter prinzipiellen Gesichtspunkten?
Wenn ich die alten Regeln kenne, wird es für mich aufwendiger, weil ich bei jedem bisher gewohnten "ß" darauf achten muß, es ggfs. als 'ss' zu schreiben. Wenn ich die Regeln neu lerne und mir bezüglich der hochdeutschen Aussprache unsicher bin, habe ich beim Raten der Schreibweise nach der alten Regel eine Trefferquote von 50%, nach der neuen Regel nur 33%. Die alte Regel beruhte nicht auf der hochdeutschen Aussprache, sondern auf der Trennbarkeit bzw. der Stellung von ss oder "ß" innerhalb des Wortes; ich halte sie daher für wesentlich weniger fehleranfällig als die neue Regel.
(iii) Ist es jetzt wirklich besser als vorher -- aus prinzipiellen Gesichtspunkten?
Für die Schreibenden: Bisher bestand die Schwierigkeit darin, daß man sich die Fälle einprägen mußte, wo ein 'ß' hingehört und kein 's' ('ss' war leicht zu identifizieren). Weil das 'ß' aber -- in der Schreibschrift -- neben dem 'f' der einzige Kleinbuchstabe ist, der sich über die volle Schreibhöhe (volle Ober- und Unterlänge) erstreckt, ist er sehr auffällig, und diese Signalwirkung erleichtert das Lernen von Wörten, die ein 'ß' enthalten. Diese leichtere Lernbarkeit ist jetzt bei einem Teil der Wörter entfallen.
Für die Lesenden: Die Verwendung von 'ss' als Zeichen der Kürze eines Vokals (bzw. 'ß' für die Länge) kann für einen Nutzen beim Lesen gehalten werden -- aber für wen? Es hilft wenig, ein Wort aussprechen zu können, wenn man nicht weiß, was es bedeutet. Wenn man aber ein Wort kennt, dann weiß man auch, wie es auszusprechen ist. Für Erstkläßler, die einen Text vorlesen müssen, und für Ausländer mit geringen Deutschkenntnissen kann diese Kürzen-/Längenkennzeichnung nützlich sein. Aber die Erstkläßler sind spätestens bei bisschen damit überfordert, nicht bis schen zu lesen (oder ggfs. so zu trennen). Und beim Korrekturlesen kann ein falsches das oder dass viel leichter unbemerkt bleiben als ein falsches daß".
Fazit: Es gibt keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung durch die geänderte ss/ß-Regel. Diese Regel...
...ist völlig unnötigerweise eingeführt worden;
...führt zu weniger gut lesbaren Texten im Vergleich zur herkömmlichen Schreibung, denn sie ignoriert die grundlegende Markierungsfunktion des "ß", die sowohl für Schreibende wie Lesende hilfreich ist, und daher verschärft sie tendenziell das das/daß"-Problem;
...macht eine zusätzliche Fallunterscheidung nötig bzw. reduziert die Trefferquote;
...ist wegen der Orientierung an der Länge/Kürze des vorausgehenden Lautes fehleranfälliger bzw. verleitet mehr zu Fehlern;
...ist in der korrekten Formulierung sehr aufwendig und nicht allgemeinverständlich.
Was Sie in Ihrer Antwort an Herrn Melsa (Re: Fehler strotzend) zur Ausrichtung Ihres Seminars geschrieben haben, habe ich zur Kenntnis genommen und läßt mich die Anmerkungen zu den Problemen in Ihrem Kommentar mit anderen Augen lesen; mir scheint, da Sie fast zu jedem angesprochenen Paragraphen auf Probleme hinweisen, daß, rein oberflächlich betrachtet, der Änderungs- bzw. Nachbesserungsbedarf recht hoch ist...
(PS: Ihre ausführliche Zeittafel finde ich hervorragend!!)
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Jan-Martin Wagner
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