Wahrig
Hier ist noch einmal eine ergänzte Fassung meiner Anmerkungen zu dem unten besprochenen Buch, leider ohne Kursive (ich bitte um Nachsicht); ich habe noch etliche Fehler entdeckt.
Wahrig: Fehlerfreies und gutes Deutsch. Gütersloh: Bertelsmann 2003. 949 S.
Die Rechtschreibung ist von Jürgen Dittmann bearbeitet, die Grammatik von Rolf Thieroff , Zeichensetzung und Stilistik von dem FAZ-Redakteur Ulrich Adolphs.
Orthographische Beratung: Klaus Heller
Grammatische Beratung: Lutz Götze
Das Werk soll über 6000 Fragen beantworten, man erkennt aber nicht, welche es sein könnten.
Die Rechtschreibung umfaßt 202 Seiten, davon gut 56 Seiten für die Kommasetzung.
Anders als der Dudenband „Richtiges und gutes Deutsch“, an dessen Titel sich das Bertelsmann-Werk offenbar anlehnt, ist dieses nicht alphabetisch geordnet, sondern auf die Rechtschreibung folgt eine nach Wortarten gegliederte Grammatik, dann eine „Stilistik“. Innerhalb der Teile herrscht allerdings ein buntes Durcheinander. Dadurch wird das Nachschlagen in einem umfangreichen Register (rund 240 Seiten!) erforderlich. Trotz des enormen Umfangs enthält aber das Register bei weitem nicht alle Stichwörter des Hauptteils. Unter Ding/Dinger zum Beispiel wird zwar auf den Abschnitt der Stilistik verwiesen, in dem es fälschlicherweise heißt, die jungen Dinger beziehe sich auf „Heranwachsende“, aber daß in der Grammatik S. 305 der richtige Hinweis steht, wonach das junge Ding sich nur auf Mädchen beziehen kann, ist an keiner anderen Stelle vermerkt. Das Register enthält auch keinen Eintrag Korpuskel, so daß man nach S. 305f. erwarten müßte, dieses Wort sei nur als Neutrum in Gebrauch; die Wörterbücher verzeichnen mit Recht auch das Femininum, das wohl eher häufiger ist. Leider findet man im Register keinen Eintrag zu der vieldiskutierten Frage selbständig/selbstständig. Das Werk selbst gebraucht durchweg nur selbständig, worin sich der allmähliche Rückbau gegenüber der ersten Generation reformierter Bücher des Bertelsmannverlags zeigt. (Im Parallelwerk von Duden wird umgekehrt nur selbstständig verwendet.) Unter selbst gebacken findet man übrigens die Angabe, daß selbst hier ein Adverb sei. Im dtv-Wahrig und im Wahrig Universalwörterbuch (beide in Bertelsmann-Lizenz) ist es Demonstrativpronomen, im großen einbändigen Wahrig-Wörterbuch (Bertelsmann) dagegen Pronominaladjektiv. Der Verlag sollte sich bemühen, wenigstens in solchen Elementarfragen einheitliche Auskunft zu geben.
Während das „Universalwörterbuch Rechtschreibung“ noch orthografisch, Orthografie schrieb, ist das voriegende Werk hier wie auch sonst zur „Hauptvariante“ mit ph zurückgekehrt. Demgemäß heißt es auch geographisch, aber grafisch.
Der orthographische Teil stützt sich offenbar nicht nur auf die amtliche Regelung, sondern auch auf unveröffentlichte, aber den Wörterbuchredaktionen von Duden und Bertelsmann exklusiv mitgeteilte Meinungsänderungen der Rechtschreibkommission. Entgegen der amtlichen Neuregelung lehrt Dittmann:
„Einige Verbindungen aus Substantiv und Partizip kann man steigern oder um ein Adverb erweitern. Treten diese Verbindungen gesteigert oder erweitert auf, werden sie als zusammengesetzte Adjektive behandelt und deshalb immer zusammengeschrieben.
Aufsehen erregend, aber: (die Premiere war) aufsehenerregender (als...)
In Analogie zur Zusammenschreibung in diesen Fällen kann man auch die entsprechenden Grundformen zusammenschreiben. Dies liegt vor allem dann nahe, wenn die entsprechenden Wörter prädikativ verwendet werden:
Aufsehen erregend oder aufsehenerregend (weil: aufsehenerregender)
ihr Auftritt war wieder einmal aufsehenerregend (auch: Aufsehen erregend)“ (S. 40, gekürzt)
Hier ist also auf recht skurrilen Umwegen („in Analogie“) der frühere Zustand wiederhergestellt. Allerdings fehlt immer noch ein Hinweis auf die stilistische Ungeschicklichkeit, bei prädikativem Gebrauch getrennt zu schreiben. Auch wird versäumt, die Einschränkung beim prädikativen Gebrauch auf solche Verbindungen auszudehnen, die nicht oder kaum steigerbar sind (denn der prädikative Gebrauch hat ja an sich mit der Steigerbarkeit nichts zu tun). Vielmehr heißt es im Kapitel über die Zeichensetzung ausdrücklich: neben den bisherigen Techniken, die nicht Energie sparend sind (S. 145)
Für Zusammensetzungen wie angsterfüllt spricht Dittmann die Auffassung der Reformer nach, hier stehe der erste Bestandteil „für eine Wortgruppe“. In Wirklichkeit bietet sich oft nur eine Paraphrase mit einer solchen Wortgruppe an. Die Paraphrasen und vermeintlichen Erklärungen sind zum Teil recht linkisch, etwas so:
lustbetont = die Lust betonend
stressgewohnt = an Stress gewöhnt (S. 42)
Im letzteren Fall hätte man eigentlich eine Rückführung auf das Adjektiv gewohnt mit dem Akkusativ erwartet, das ja nach wie vor auch frei konstruierbar ist.
„Werden Verbindungen aus Substantiv und Partizip substantiviert, die im Infinitiv getrennt geschrieben werden, schreibt man vorzugsweise auch die substantivierte Form getrennt. Erlaubt ist aber auch Zusammenschreibung, die Schreibenden haben hier einen Ermessensspielraum:
Wer hilft den Not Leidenden/Notleidenden?“ (S. 43)
Diese Regel hat keine Grundlage im amtlichen Regelwerk. Sonderbar ist auch, daß nicht einmal „in Analogie“ zu Notleidende auch das partizipiale Kompositum notleidend gebildet werden darf.
Auch für die substantivierte Verbindung von Adjektiv und Partizip, die im amtlichen Regeltest nicht geregelt sei, sieht Dittmann beiderlei Schreibung vor: die schwer Verletzte oder Schwerverletzte. „Kriterium für die Entscheidung sollte sein, ob man die Substantivierung als selbständiges Wort empfindet oder nicht.“ (S. 54) Daß man auch die nichtsubstantivierte Fügung schwerverletzt als selbständiges Wort empfinden könnte, wird nicht erwogen, denn da schiebt die amtliche Regelung einen Riegel vor den Sachverstand.
Eigenartig ist auch, daß bei Verbindungen mit nichts (nichts ahnend, nichts sagend) nur Getrenntschreibung, bei deren Substantivierung aber nur Zusammenschreibung (die Nichtsahnende) zugelassen wird (S. 47f.). Wie sich das mit den grammatischen Regeln der Substantivierung verträgt, sagt Dittmann leider nicht. Anders als nichts sagend wird übrigens vielsagend nur zusammengeschrieben (S. 52). Im Wahrig-Universalwörterbuch von 2002 ist auch die Getrenntschreibung zugelassen.
Falsch ist die Angabe, daß der erste Teil trennbarer Verben (Verbzusatzkonstruktionen sind gemeint, aber dieser Begriff ist zugunsten der fragwürdigen Lehre von den „trennbaren Verben“ vermieden) „in den finiten Formen“ nachgestellt wird. (S. 37) Das ist vielmehr bei Verbzweitstellung der Fall, nicht aber im Nebensatz mit Verbletztstellung.
Die Verben mit dem Zusatz wieder-, ein Gegenstand fortlaufender Änderungen in den reformierten und immer wieder revidierten Wörterbüchern, sind bis auf ein harmloses Beispiel (S. 43) überhaupt nicht abgehandelt, so daß man auch aus diesem Buch keine Klarheit gewinnt.
Unter dem Titel „Substantiv plus Verb in unfester Verbindung“ lehrt Dittmann Not tun und Pleite gehen, ohne sich einen kritischen Kommentar zu diesen absurden Reformschreibungen zu erlauben. Ebenso gibt er vor, in irrewerden, irreleiten und irregehen sowie wettmachen ein verblaßtes Substantiv (!) zu erkennen. (S. 39)
„Wenn die Partikel Verbbestandteil ist, muss sie im Infinitiv, in den Partizipformen und auch in Endstellung im Nebensatz unmittelbar vor dem Verb stehen.“ (S. 46) Dies hält Dittman für das einzige „sichere“ Kriterium. Dabei übersieht er die Erweiterbarkeit der Partikel in Fällen wie den folgenden: Sie haben mich mit zum Skilaufen genommen (Bertelsmann-Grammatik 1999, S. 262). Hier handelt es sich zweifellos um das komplexe Verbgefüge mitnehmen.
Unter der Regel zu -ig/-isch/-lich werden nach dem Vorbild des Reformers Klaus Heller wieder völlig verschieden konstruierte Gefüge wie lästig fallen und neckisch lächeln, heilig sprechen und freundlich grüßen zusammengestellt. (S. 50) Außerdem führt die törichte neue Regel bei Dittmann zu einem schlagenden Widerspruch. Unter 60.2 (und fast wortgleich noch einmal unter 75.2) heißt es nämlich:
„Gehen gleichrangige Adjektive eine Verbindung ein und der erste Bestandteil ist eine Ableitung auf -ig, -isch oder -lich, so sollte man zur Verdeutlichung den Bindestrich setzen:
biologisch-dynamisch
wissenschaftlich-technisch
medizinisch-naturwissenschaftlich.“
Zu einer solchen Verbindung kann es aber nie kommen, denn die allgemeinere Regel (§ 36 E1 (2) des amtlichen Regelwerks) besagt, daß Ableitungen mit den genannten drei Suffixen überhaupt nicht (und nicht bloß im Fall „nicht gleichrangiger Adjektive“, wie 61.1 behauptet) als Erstglieder in Zusammensetzungen eingehen. Folglich entfällt die „Verdeutlichung“ durch einen Bindestrich. Das amtliche Regelwerk krankt ja bereits daran, daß Bindestrichkomposita wie römisch-katholisch, die ja gleichwohl immer noch Komposita sind, überhaupt nicht gerechtfertigt werden;
Wörtlicher und übertragener Gebrauch werden teilweise durch verschiedene Schreibweise unterschieden ganz wie im alten Duden: Stahl gerade biegen, eine Angelegenheit geradebiegen, Wein kalt stellen, jemanden kaltstellen, ein Seil locker lassen, nicht lockerlassen können, den Gurt stramm ziehen, jemandem die Hosen strammziehen. Ebenso: schwer beschädigte Autos, schwerbeschädigte Kriegsveteranen. Aus dem amtlichen Regelwerk sind solche subtilen Unterscheidungen nicht ohne weiteres abzuleiten, die „schwer behinderten“ Menschen (nur noch getrennt) beherrschten längere Zeit die Reformdiskussion. Wörter wie schwerwiegend sollen wegen der doppelten Steigerungsmöglichkeit jetzt wahlweise getrennt oder zusammengeschrieben werden können; „im Fall von prädikativer Verwendung wird Zusammenschreibung bevorzugt“ (S. 53). Die amtliche Regelung weiß davon nichts, die Rechtschreibkommission hat es sich erst von der Kritik sagen lassen müssen.
feilbieten wird wie im amtlichen Regelwerk deshalb zusammengeschrieben, weil feil nicht selbständig vorkomme. Diese Voraussetzung trifft aber gar nicht zu.
„Wenn in einer Verbindung aus Substantiv und Adjektiv das Substantiv (z. B. durch ein Zahlwort) erweitert ist, schreibt man getrennt: ein zwei Arme dicker Mast, viele Jahre lang, zwei Meter dick, eine Hand voll Goldstaub“ (S. 59)
Das letzte Beispiel, das die Auseinanderreißung des Substantivs Handvoll begründen soll, ist fehl am Platze, da es sich gerade nicht um eine Erweiterung des ersten Bestandteils handelt. Auch später wird die Beseitigung von Handvoll noch einmal falsch begründet:
„(...) dass Substantive auch in festen Gefügen großgeschrieben werden, wenn sie ihren substantivischen Charakter behalten haben:
ein Hand voll, unter der Hand“ (S. 87)
Es geht ja nicht darum, daß Hand in solchen Fällen eventuell klein geschrieben werden könnte, sondern um die Existenz des Wortes Handvoll, das seit Jahrhunderten belegt und in Mundarten längst vollkommen univerbiert ist (Hampfel, Hämpfele usw.).
„Adjektive können mit Adjektiven Verbindungen eingehen. Diese Verbindungen sind entweder Zusammensetzungen oder Wortgruppen. Entsprechend wird zusammen- oder getrennt geschrieben:
Zusammensetzungen:
blaugrau, hochinteressant, tiefernst, zartbitter
Wortgruppen:
allgemein gültig, eng verwandt, schwer löslich, riesig groß
Die Kriterien für Zusammen- bzw. Getrenntschreibung sind eindeutig und von den Schreibenden leicht zu handhaben (® 59.4ff.)“
So eindeutig sind die Kriterien dann aber doch nicht. Zum Beispiel führt Dittmann schlecht leserlich an, das getrennt geschrieben werde, weil der erste Teil steigerbar sei. Aber sagt man wirklich schlechter leserlich, am schlechtesten leserlich? Und wie ist es mit wild dramatisch? (S. 61) noch wilder dramatisch?
Natürlich leuchtet auch nicht ein, aufgrund welcher Logik die auf –ig usw. endenden Adjektive bei sonst gleicher Funktion nicht mit anderen zusammengeschrieben werden dürfen: tiefernst, aber riesig groß, rotbraun, aber rötlich braun.
Wieder und wieder wird als Kriterium der Getrennt- und Zusammenschreibung angeführt, ob man die Wortart, Wortform oder Bedeutung der Bestandteile noch deutlich erkennen kann. Seltsamerweise kommt Dittmann mit der Neuregelung zu dem Ergebnis, daß jedesmal in jedes Mal aufzulösen sei, einmal, zweimal und diesmal jedoch erhalten bleiben. Das ist nicht nachzuvollziehen. Warum sollen bei den weiterhin zusammengeschriebenen Konjunktionen sooft, soviel, soweit usw. die Bestandteile nicht mehr deutlich erkennbar sein? Bei den neuerdings zu trennenden Demonstrativen so oft, so viel usw. sind sie es ja offenbar auch. Beinahe komisch wird es an jenen Stellen, wo Dittmann sogar die Undeutlichkeit noch undeutlich findet:
„Bei einer Reihe von mehrteiligen Adverbien ist schwer zu entscheiden, ob die Wortart, die Wortform oder die Bedeutung der einzelnen Bestandteile noch deutlich erkennbar ist oder nicht. In diesen Fällen bleibt es den Schreibenden überlassen, ob sie zusammenschreiben oder getrennt schreiben wollen.“ (S. 65)
Wenn man nicht weiß, ob man etwas deutlich sieht, sieht man es doch wohl eher undeutlich.
Zusammengesetzte Farbadjektive soll man nach der Neuregelung ohne Bedeutungsunterschied mit oder ohne Bindestrich schreiben können: blaugrün oder blau-grün, schwarzweiß oder schwarz-weiß (laut amtlicher Regelung § 45,2 ist der Bindestrich nur bei Unübersichtlichkeit des Kompositums zulässig, was hier wohl kaum in Betracht kommt). Gleichwohl empfiehlt Dittmann, den Bedeutungsunterschied in der traditionellen Weise sichtbar zu machen: Farbmischung vs. Farbkombination. Wie kann das aber dem Leser helfen, wenn er ausdrücklich gelernt hat, daß die unterschiedliche Schreibweise nichts bedeutet?
Dittmann empfiehlt den Bindestrich, „wenn eine Zusammensetzung mehrdeutig oder nicht auf Anhieb richtig zu entschlüsseln ist: ab-erkennen, be-inhalten, de-installieren, Re-Inkarnation“ (S. 78) Das sind allerdings ganz ungewöhnliche Schreibweisen.
Das neuerdings sehr häufige Zusammentreffen dreier gleicher Buchstaben soll man durch den Bindestrich entschärfen können (Bett-Tuch), bei längeren Zusammensetzungen aber nur an der Hauptfugenstelle, also nicht: *Spannbett-Tuch (S. 78). Das scheint zwar sinnvoll, steht aber nicht in den amtlichen Regeln.
Für die Groß- und Kleinschreibung kommt es darauf an, woran man ein Substantiv erkennnt. Dittmann nennt die Kriterien Artikelfähigkeit und mögliche Attribuierung durch Adjektive bzw. Zahlwörter. Entscheidend ist die Artikelprobe. (S. 86) Damit ist nicht etwa gemeint, daß das mutmaßliche Substantiv überhaupt einen Artikel verträgt, sondern die Probe gilt dem jeweiligen konkreten Zusammenhang. Nur darum kann Dittmann als Ausnahmen die Fälle anführen, in denen die Artikelprobe versagt: *zu (dem) Recht (S. 87), *in (die) Acht nehmen (S. 89). Demnach wären allerdings Schreibweisen wie heute Morgen nicht zulässig.
„In festen Gefügen aus Substantiv und Verb wird das Substantiv großgeschrieben, wenn es seine Bedeutung und Funktion behalten hat:
(...) Feind sein, Leid tun, Recht haben (...)“ ( S. 89)
Dittmann dürfte wissen, daß es sich hier nachweisbar nicht um Substantive handelt. Auch in der Grammatik (S. 425) und Stilistik (S. 660) wird als Beispiel angeführt das Kind tat ihm sehr Leid, es tut mir sehr Leid – obwohl inzwischen auch die hartgesottensten Reformer eingesehen haben, daß dies nicht möglich ist.
„Werden Substantive aus anderen Sprachen als Zitatwörter gebraucht, gilt die Regelung der betreffenden Sprache und sie werden kleingeschrieben:
Das englische Wort ‚drink‘ bedeutet bedeutet auch ‚Getränk‘.
Der lateinische Begriff ‚terra incognita‘ bedeutet ‚unbekanntes Land‘.“ (S. 91)
Hier hat Dittmann etwas mißverstanden. Die Regel betrifft ja nicht die (metasprachliche) Anführung, sondern Fälle wie: Wir nahmen einen drink und begaben uns auf diese terra incognita.
Die ursprünglich nicht vorgesehene, von den Kritikern eher im Sinne einer Reductio ad absurdum ins Spiel gebrachte Schreibweise heute Früh ist wie in den neuesten Wörterbüchern anstandslos übernommen (S. 92).
Die unflektierten Formen Arm und Reich usw. sind nach Dittmann nicht substantiviert und werden nur „aus Gründen der Symmetrie“ groß geschrieben. Laut amtlichem Regelwerk sind sie aber sehr wohl substantiviert, und von Symmetriegründen ist dort auch nichts zu finden. Auch der Begriff der „Paarformel“ ist dem Regelwerk unbekannt. (S. 98)
„Adjektive, die Farben und Sprachen bezeichnen, können als Substantive betrachtet werden.“ (S. 98) Wahrscheinlich ist gemeint, daß sie substantiviert werden können. Ob das in bei Grün und auf Deutsch der Fall ist, läßt sich diskutieren. Das Beispiel ins Blaue gehört jedenfalls nicht in diese Reihe.
Daß in Wir versuchen jetzt mal etwas ganz Anderes das Wort anderes „in übertragener Bedeutung“ gebraucht und deshalb groß zu schreiben sei, leuchtet nicht ein. Es fehlt auch der Hinweis, daß eine solche hervorhebende Großschreibung nach der amtlichen Regelung keineswegs obligatorisch ist.
Dein Hin-und-Her-Laufen stört. (S. 101)
Hier ist die Großschreibung von Her offensichtlich falsch.
ist es wichtig zu prüfen (S. 102)
Hier fehlt das neuerdings obligatorische Komma nach Vorgreifer-es, vgl. 161.1 Dieses Komma fehlt u. a. auch S. 635: Es fiel dem Kranken schwer zu laufen. S. 685: empfiehlt es sich noch einmal zu prüfen.
Unter 104.1 und 104.3 wird eigentlich dasselbe (Scheinsubstantivierung) abgehandelt.
„Zahlwörter zu Beginn eines Ganzsatzes gelten als Satzanfang. Deshalb wird klein weitergeschrieben: 52 volle Wochen hat das Jahr.“ (S. 117)
Gemeint sind also nicht Zahlwörter, sondern Ziffern.
Grammatik:
Der Satz Die Flaschenpost wurde bis nach Island getrieben ist kein Beispiel für das sein-Perfekt. (S. 232)
Daß der Ersatzinfinitiv immer in Endstellung stehe, trifft nicht zu (S. 235 u. ö.), vgl.: Er wußte damals sicherlich von der Puppe Kokoschkas, die dieser sich fertigen lassen hatte. Übrigens war der Brief kaum der verstohlenen Lektüre wert, man hätte ihn ruhig dürfen an alle Säulen der Stadt plakatieren. (Robert Walser: Der Gehülfe. Zürich 1978:21) Überall habe ich müssen dich vor mir gehen und hantieren sehen. (Theodor Storm, Ges. Werke I:108) Die führenden Politiker der Republik hätten müssen ein wenig begabter, kühner, schöpferischer sein. (Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Frankfurt 1991:562) Ein Vertrauter von Finanzminister Hans Eichel soll der Bundesbank und den Medien Kopien der Adlon-Rechnung zukommen lassen haben. (NN 17.4.04)
Formen wie beföhle, gestünde, stöhle kann man wohl vergessen (S. 243), sie sind nicht einmal als „altertümlich“ noch in Gebrauch. Zum Partizip auserkoren gibt es durchaus finite Formen wie auserkor, auserkorst. (S. 261) Es sind auch finite Formen zu weiteren Verben belegbar, von denen dies ausdrücklich bestritten wird (S. 282f.).
266.3: gesonnen läßt sich heute nicht an das Verb sinnen anschließen.
Die Beispiele S. 267 legen nahe, daß gespalten nicht nur „hauptsächlich adjektivisch“, sondern auch attributiv verwendet wird, was in Wirklichkeit nicht zutrifft, und gespaltet ist überhaupt äußerst selten.
Anglizismen werden ganz kritiklos vorgeführt: ich cancele, getimt, du savst, er forwardet, du datest up (S. 270ff.) bei der sonstigen, unten noch nachzuweisenden normativen Strenge des Werkes etwas überraschend. Übrigens sind die als korrekt angeführten Imperfektformen savtest/savetest, timtest/timetest, forwardetest praktisch nicht belegbar, offenbar weil jemand, der sich derart lässig ausdrückt, eben normalerweise kein Präteritum verwendet.
Anders als be-, ent-, er, ver-, zer- ist miß- kaum produktiv (S. 274). Das gilt auch für untrennbares wider. Man sollte produktive und nur noch historisch interessante Präfixe und Verbzusätze trennen, gerade im Hinblick auf eine semantischen Analyse.
Bei den Präfix- und Partikelverben ist die Terminologie wie auch die ganze Auffassung bedenklich. Verbindungen wie voll gießen werden als „zusammengesetzt“ bezeichnet, zugleich soll aber die neue Getrenntschreibung gelten. (S. 280)
(Für die simplen Ausführungen S. 282ff. [inkorporierte Substantive] wird entgegen der sonstigen Vorgehensweise auf einen entlegenen Aufsatz W. U. Wurzels verwiesen.)
Von einigen zusammengesetzten Verben unter 282.1 werden durchaus nicht nur infinite Formen gebildet (vgl. daß sie wettstreiten usw.). Dasselbe gilt für 283.1 (handarbeiten)Finite Formen von Zusammensetzungen aus Substantiv und Verb (strafversetzen u.a.) sind keineswegs auf Nebensätze mit Verbendstellung beschränkt. (S. 283)
Staub saugen steht nicht „mit einer Präpositionalgruppe“ (S. 287), sondern mit einem Adverbial, das u. a. die Form einer Präpositionalgruppe haben kann. Übrigens ist fraglich, ob die Reformer wirklich so viele Möglichkeiten vorgesehen haben: er hat Staub gesaugt/staubgesaugt (?)/gestaubsaugt. Und ist wirklich ausgeschlossen: er hat die Wohnung Staub gesaugt?
Bei Jeans in der angegebenen Aussprache weicht auch der Auslaut vom Deutschen ab. (S. 290)
Armut ist in Wirklichkeit keine Zusammensetzung mit Mut, so daß das feminine Genus auch keine Ausnahme darstellt. (S. 294)
Daß der Friede „veraltet“ und der Frieden „bevorzugt“ sei, läßt sich an heutigen Texten nicht belegen. Es trifft auch sicher nicht zu, daß der Hoden eine „veraltete“ Form ist, und neben maskulinem der Hode wäre auch die Hode zu erwähnen. (S. 298)
Von den Druckerzeugnissen ohne Bindestrich (S. 300) wurde auf S. 78 gerade abgeraten.
Das Beispiel Dutzende kamen zu spät (S. 303) läßt nicht ahnen, daß die Neuregelung (§ 58, E5) hier auch Kleinschreibung des Zahlsubstantivs zuläßt. Ein Verweis auf S. 394 wäre angebracht gewesen.
Die Mahnung, den neuerdings zulässigen Apostroph bei Eigennamen (Susi’s Blumenladen) zu vermeiden, entspricht nicht der amtlichen Regelung. (S. 322)
Thieroff schreibt zwar wie sein Lehrer Eisenberg stets des Genitiv usw., aber die Behauptung, daß die Deklination heute oft weggelassen werde, scheint zumindest für Beispiele wie Partizip, Plural (S. 326) doch etwas übertrieben.
Viel zu weit geht die Kennzeichnung von Wandererin, Fördererin, Zaubererin usw. als falsch; sie sind alle reichlich belegbar.
Die Abschnitte über Personenbezeichnungen für beide Geschlechter (S. 331ff.) überschneiden sich weitgehend mit den entsprechenden Abschnitten der Stilistik (s. u.). Thieroff bemerkt hier übrigens, daß das große Binnen-I „heute durchaus verbreitet“ sei, während in der Stilistik steht, es habe sich nicht durchgesetzt.
Daß Senegal, Libanon usw. heute „zunehmend mit neutralem Genus“ gebraucht werden, scheint mir nicht zuzutreffen.
Die Liste nur prädikativ gebrauchter Adjektive (S. 354) ist stark fehlerhaft. Für den attributiven Gebrauch von abhold, habhaft, teilhaftig, zugetan u. a. gibt es Hunderte von Belegen (Google).
„Ausdrücke wie hoch bezahlt, leicht bekleidet, schwer beladen, tief betrübt, weit verbreitet, die früher als Zusammensetzungen aufgefasst und demzufolge zusammengeschrieben wurden, werden seit der Rechtschreibreform getrennt geschrieben. Daher (!) werden diese Ausdrücke den Wortgruppen zugerechnet.“ (S. 376)
Eine erstaunliche Begründung, weil sie die Grammatik zur Dienerin der Rechtschreibung macht. Übrigens ist es nicht leicht, Belege für tiefer betrübt (ebd.) beizubringen. Ähnlich steht es mit zarter fühlend (S. 378).
Die Behauptung, daß Superlative wie schwerst nicht als eigenständige Wörter, sondern nur als Bestandteile von Zusammensetzungen vorkommen, ist unzutreffend. (S. 377) Es gibt sehr viele Belege wie schwerst mehrfach behinderte Kinder usw.
Entgegen einer schlichten Logik gibt es sehr wohl Steigerungsformen von endgültig und brotlos (S. 378).
Pronomina vertreten nicht Substantive, sondern Nominalgruppen. (S. 400 u.ö.)
Die anaphorische Verweisung auf genannte Personen mit dem Demonstrativum der usw. ist nicht in jedem Fall „unhöflich“ und umgangssprachlich, sondern oft geradezu zwingend. (S. 404; vgl. das letzte Beispiel dort, oder auch Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne ...)
Daß niemand anderer falsch und nur niemand anderes/anders standardsprachlich korrekt sei, ist wohl stark übertrieben. (S. 418)
Das Verbot von es nach Präpositionen (*ohne es) ist zu streng.
Genau wie der Dudenband schreibt Thieroff vor: all das Traurige, was in diesen Augen lag ... (S. 432) Meiner Ansicht nach kann und sollte hier eher das Relativum das stehen.
Wie kann neuschreibliches jedes Mal ein „Temporaladverb“ sein, wenn es nach der Rechtschreibreform offenbar nicht einmal mehr ein Wort ist? (S. 436)
Die Verurteilung der Tmesis (Wo fährst du hin?; Ich weiß nicht, wo sie herkommmen usw., S. 446) ist zu streng.
Die angebliche Präposition bis regiert eigentlich keinen Akkusativ, sondern dieser ist der adverbiale Akkusativ, der auch unabhängig von der Präposition stehen würde: bis nächsten Montag. (S. 462)
Daß nach dank nur „selten“ der Dativ im Plural stehen soll (dank seinen Fähigkeiten ...), dürfte nicht zutreffen. (S. 472)
Der Dativ nach trotz wird nur dann zugelassen, wenn ein Substantiv ohne Artikel mit Adjektiv auftritt; falsch soll sein: Trotz seinen Kopfschmerzen ... (S. 473) Das ist zu streng.
Daß Verschmelzungen wie hinters, übers in der Schriftsprache keine Verwendung finden sollten, ist ebenfalls zu streng. (S. 476) hinters kommt zwar überwiegend in der festen Wendung hinters Licht führen vor, übers ist aber z. B. in der Süddeutschen Zeitung mit 450 Belegen pro Jahr keineswegs selten.
Von einigen Verschmelzungen wird fälschlich behauptet, sie seien nicht mehr auflösbar: aufs Land, durchs Ziel, hinterm Berg halten, übers Herz bringen. (S. 478)
Nach alter Dudensitte wird es als falsch deklariert, wenn Verschmelzung und unverschmolzener Artikel bei Genus- und Numerusinkongruenz nebeneinanderstehen: Hier geht es zum Rathaus und der Markthalle. (S. 481) Solche Ausdrucksweisen sind aber allgemein üblich.
Zum AcI wird erklärt, er füge „zwei Handlungssätze zusammen bzw. vereinigt zwei Geschehensstränge:
Ich sehe meine Tante. Meine Tante liest ein Buch.
Ich sehe meine Tante ein Buch lesen.“ (S. 519)
Es wird aber nicht gezeigt, wie dies bei den später angeführten AcI-regierenden Verben machen, heißen und lassen funktionieren soll.
„Folgt ein mit bevor oder ehe eingeleiteter temporaler Nebensatz auf einen verneinten Satz, dann darf der bevor/ehe-Satz nicht gleichfalls verneint werden:
falsch: *Wir fahren nicht in Urlaub, bevor/ehe die Ferien nicht begonnen haben.“ usw. (S. 487, ähnlich anschließend für bis)
Das ist eine logisierende Besserwisserei gegenüber einem üblichen Sprachgebrauch, nicht nur im Deutschen. Im entsprechenden Dudenband wird dasselbe gelehrt, aber im Duden-Universalwörterbuch stehen anstandslos folgende Beispiele: du darfst keinen Urlaub nehmen, bevor deine Probezeit nicht abgelaufen ist; sie darf nicht fernsehen, bevor nicht ihre Hausaufgaben gemacht sind. (Dazu die einschlägige Literatur; Sandberg in Fs. Erben usw.)
Die Ablehnung des nachgestellten Genitivattributs wie in *der Sohn Matthias Müllers (S. 562) ist zu rigide.
Was dem einen sin Ul, ist dem andern sin Nachtigall. (S. 563) Diese Dative werden irrigerweise nach dem possessiven Muster meiner Oma ihr Häuschen gedeutet; in Wirklichkeit handelt es sich um den Dativus iudicantis.
Der Grund, warum er das getan hat ... / Die Art, wie er sich bedankte ... (S. 590) Hier sieht Thieroff indirekte Fragesätze. Es handelt sich eher um Relativsätze. Die Erklärung der freien Relativsätze S. 591 oben klingt verschroben; die generalisierende Bedeutung kommt nicht heraus.
„Der Relativsatz sollte in der Regel unmittelbar bei dem Substantiv stehen, auf das er sich bezieht.“ (S. 591)
Das ist unrealistisch. Auf jeder Zeitungsseite findet man mehrere Beispiele, für die es nicht zutrifft (Extraposition).
Die Beispiele werfen ein weiteres Problem auf:
Sie empfand eine besondere Zuneigung für den jungen Mann, derer sie sich nicht erwehren konnte.
Sie empfand eine besondere Zuneigung, derer sie sich nicht erwehren konnte, für den jungen Mann. (S. 592)
Auf S. 403 wird aber geraten, in solchen Fällen nicht derer, sondern deren zu verwenden.
Anders als bei Thieroffs Lehrer Eisenberg werden mein, kein usw. als Pronomen und nicht als Artikel aufgefaßt, sicher nicht richtig. Die Lehre vom Genus der Substantive (S. 291) ist sehr konventionell, Eisenberg hat das besser erfaßt (Genus als Rektionserscheinung).
Stilistik
Der letzte Teil des Buches, die „Stilistik“, besteht zur Hälfte aus den üblichen Anleitungen zum normgerechten Anfertigen von Geschäftsbriefen, Bewerbungsschreiben und dgl. Dagegen ist nichts zu sagen, auch wenn der Titel „Stilistik“ diesen Inhalt nicht unbedingt erwarten läßt. Der Rest ist ein wenig geordnetes Gemisch von Einzelhinweisen und antiquierter Stilkunde. Die Lehre von den drei „Stilebenen“ (S. 604) schließt ohne Umstände an die antike Überlieferung der drei Genera an. Soll denn heute noch gelten, „dass jeder Stoff die ihm entsprechende Darstellungsweise haben müsse“? Und warum wird so seltsam von der Forderung der antiken Rhetorik gesprochen, „aptum zu formulieren“? Für jemanden, der sich praktischen Rat erhofft, dürfte es ohne Belang sein, daß man die schlichte Erzählfolge „ordo naturalis nennt“ (S. 661). Definitionen und Beispiele für Metaphern, Antithesen, Chiasmen usw. dürften nur wenig Nutzen haben. Dabei wirken manche Definitionen recht linkisch: „Die Metapher ist eine Stilfigur, bei der das Gemeinte durch eine Vorstellung (meist ein Bild) ersetzt wird.“ (S. 613)
Der Text von Gotthelf (S. 605: ... es wehte sie allemal ein heimlich Grauen an) ist nicht „gehobener Stil“, sondern einfach historisch bzw. archaisierend; das müßte auseinandergehalten werden.
(Fortsetzung folgt)
__________________
Th. Ickler
|