Icklersches Wörterbuch: nur kumulatives Niveau?
So, und nun gebe ich Herrn Lachenmann recht. Beziehungsweise seinem Anliegen. Ich habe schon öfter versucht, zwischen dem Dogma der Liberalität (wie Herr Riebe übertrieben, aber immerhin deutlich formuliert hat) und dem Dogma der Eindeutigkeit (wie man ebenso deutlich zurückformulieren kann und was sich nun plöztlich ganz seriös als distinktives Niveau bezeichnen läßt) zu vermitteln. Ich meine, sehr geehrter Herr Professor, daß Sie ein wenig an der Schärfe und scheinbar keinem Kompromiß zugänglichen Spaltung zwischen diesen beiden Dogmen bzw. Ansätzen mitwirken, wenn Sie Ihre Richtung, Ihr Anliegen so absolut setzen (Dies ist ein Glaubensbekenntnis, Diskussion zwecklos). Dabei handelt es sich doch schlicht um die beiden gleichberechtigten Pole der Rechtschreibung: Einerseits ist Liberalität (Orientierung an der Realität, Nachzeichnen der inhärenten Norm statt willkürliche Setzung einer Norm) ebenso vollständig wünschenswert wie nun eben Eindeutigkeit. Was Sie beim Fremdwörterlexikon für sinnvoll halten (Differenzierung, sonst stimmt etwas nicht, zumindest ist das Niveau bloß kumulativ), ist doch beim Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung ebenso sinnvoll: Undifferenziert angebotene Varianten (oder als funktionslos dargebotene Varianten) setzen voraus, daß der Benutzer schon wissen wird, worin sie sich unterscheiden sie setzen den mündigen Lexikonbenutzer voraus, dessen Existenz Herr Lachenmann insofern zu Recht anzweifelt, als dieser mündige Benutzer, der zwischen zwei angebotenen Varianten zu differenzieren weiß, unter seinem Niveau bedient wird, wenn er diese Varianten als gleich berechtigt vor sich sieht, während derjenige, der sie nicht einzuordnen vermag, eben gerade diese zusätzliche Hilfe bräuchte.
Sie haben dieser Kritik hin und wieder ja auch zugestimmt, so als Ihr Hinweis auf das Bréalsche Verteilungsgesetz zitiert und auf Ihr Wörterbuch angewendet wurde (von Herrn Fleischhauer, wenn ich mich nicht irre). Da sagten Sie doch sinngemäß: Stimmt, ich gebe ja zu, daß ich der Kritik zur Hälfte zustimme, schon weil sie von mir selber stammt usw. So gesehen, wäre es doch schön, wenn Sie sich nicht so ausschließlich auf die Unumstößlichkeit der Liberalität, ja man könnte doch mit Herrn Riebe sagen: das Dogma der Liberaliät verlegen würden, denn die Liberalität, absolut gesetzt, würde doch heißen, daß man alles und jedes zuläßt, jede nur vorkommende Schreibweise verzeichnet (das ist natürlich weder technisch möglich noch sinnvoll) und ebenso jede Regel beispielsweise als Kann-Regel darstellt.
Dabei geht es doch bei der Rechtschreibung gerade darum, aus dem Meer aller Schreibweisen diejenigen herauszusondern, die man vernünftigerweise als Konsens der kompetenten Schreiber feststellen kann, was notwendigerweise eine Einschränkung des Liberalen bedeutet zugunsten größerer, wenn auch nicht vollständiger Einheitlichkeit. Das ist eine Sache des Ermessens (was läßt man gerade noch als Variante bzw. als sinnvoll gelten, was nicht mehr) und deshalb der Willkür des Verfassers anheimgestellt. Sie können also doch nicht ernsthaft so tun, als ob sie nichts anderes täten, als vorkommende Schreibweisen zu verzeichnen, und Sie sprechen das ja auch gelegentlich aus, zum Beispiel im Vorwort des Wörterbuchs: Der Lexikograph sei nicht verpflichtet, jede vorgefundene Schreibweise aufzunehmen, und zwar auch dann nicht, wenn sie des öfteren angetroffen wurde.
Soweit ist das ja sowieso klar, und nun sprechen Sie anhand des Beispiels deutsch/englisch (bestreitbar: open to question, contestable, disputable) von nur kumulativem Niveau, bei dem etwas nicht stimmt. Ist es nicht genau das, was die kritischen Stimmen von Ihnen wollen, mich eingeschlossen: keine absolute Eindeutigkeit, sondern einfach etwas mehr Eindeutigkeit; eine Verschiebung des Kompromisses zwischen Liberalität und Eindeutigkeit zugunsten der Eindeutigkeit; eine Hebung des Niveaus (Ickler) bzw. eine Stärkung der Zweckmäßigkeit und Benutzerfreundlichkeit (Lachenmann)?
Könnten wir also nicht etwas einfacher zum Konsens finden, wenn man die beiden Anliegen Ihres: die Liberalität, unseres: mehr Differenzierung als gleichberechtigte Ansätze begreift, zwischen denen den besten Kompromiß zu finden die Kunst des Wörterbuchmachens ist? Könnte es nicht sein, daß man weder absolut liberal noch absolut eindeutig sein kann, sondern daß es pragmatische Überlegungen sein müssen, wo man die Grenzen zieht?
So arbeitet das von mir zitierte Langenscheidt-Wörterbuch (das dicke Handwörterbuch mit rund 1500 prallvollen Seiten) natürlich mit Differenzierungen, die aber ihrerseits nicht absolut trennscharf und zuverlässig sein können und überdies manchmal fast unmöglich oder zumindest unökonomisch wären, so daß man auf sie verzichtet. Wie sollte denn der Leser instruiert werden, wann er lieber open to question, wann er eher contestable oder disputable verwenden soll oder was dazwischen die Unterschiede sein mögen? Das wäre allzu fein gesponnen, würde das Handwörterbuch im Umfang verdoppeln und den Benutzer irgendwann zur Verzweiflung bringen, oder nicht?
Ist es also nicht genauso mit Ihrem Wörterbuch, so daß wir uns eine Menge Streit sparen und schließlich Friede, Freude, Eierkuchen ausrufen können, wenn die grundsätzliche, hälftige Berechtigung des Anliegens Eindeutigkeit auch von Ihnen ausdrücklich anerkannt wird?
Um die Sache noch deutlicher zu machen und zu komprimieren, übersetze ich Ihre Bemerkungen zum Problem der distinktiven Synonymik abschließend in einen Antrag derer, denen die bisher von Ihnen verwirklichte Liberalität zu weit geht.
Zitat:
Wenn ein Wörterbuch zu einem Stichwort drei Übersetzungsvorschläge bietet, ohne zwischen ihnen zu differenzieren, dann stimmt tatsächlich etwas nicht. Oder vielmehr: Das ist das Niveau einer kumulativen Synonymik, die darauf vertraut, daß man die Sprache bereits beherrscht und nur an die Wörter erinnert werden muß, die einem grad nicht einfallen, deren unterschiedliche Bedeutungen man aber kennt. Manchmal hilft das, aber irgendwo sollten auch die Unterschiede erklärt werden. Das ist die distinktive Synonymik ...
Übersetzung (Riebe, Lachenmann, Peil et al.):
Wenn ein Wörterbuch zu einem Ausdruck zwei oder drei Schreibweisen bietet, ohne zwischen ihnen zu differenzieren, dann stimmt tatsächlich etwas nicht. Oder vielmehr: Das ist das Niveau einer kumulativen Lexikographie, die darauf vertraut, daß man das Schreiben bereits beherrscht und nur auf die Varianten hingewiesen werden muß, die überwiegend verwendet werden, deren unterschiedliche Bedeutung, Betonung oder Qualität man aber beurteilen kann. Manchmal hilft das, aber irgendwo sollten auch die Unterschiede angegeben werden. Das ist das distinktive Niveau eines benutzerfreundlichen Wörterbuchs im Gegensatz zur bloßen Aufführung der Varianten ...
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