Lieber Uwe!
Hier meine neue Replik auf die Deine:
Ist es eine Unsitte, zu kritisieren und zu korrigieren? Ich denke, nicht. Sprachpflege muß nicht allein ein Steckenpferd nerviger Besserwisser sein, sie dient auch der guten Verständigung der Menschen untereinander. Je sauberer und unmißverständlicher Gedanken, Meinungen, Ideen, Gefühle ausgetauscht werden können, desto besser für jeden. Zu einer Unsitte wird das angesprochene Verhalten erst, wenn zum Kritisieren und Korrigieren das Diskriminieren hinzutritt, wenn also Menschen nicht wohlwollend auf ihre Fehler aufmerksam gemacht, sondern sie damit nur eingeschüchtert, schlechtgemacht, gering geachtet, verworfen werden sollen.
Im übrigen bezieht sich das Phänomen solcher Korrektur ja nicht nur auf Rechtschreibung. Unvollständige Sätze, falsche Deklinationen, falsch gebrauchte Zeitformen, falsch gebrauchte Begriffe, all das ist ebenfalls Gegenstand davon. Sollte man gemäß einer falsch verstandenen Nachsicht den weniger gekonnten Sprachnutzern gegenüber nun wünschen, daß die Sprache insgesamt (also nicht nur in Schrift, sondern auch in Rede) absichtlich abgestumpft wird? Analog zur Rechtschreibreform müßte man dann sogar wünschen, es mögen doch allerlei neue, so ungebräuchliche wie unbrauchbare und komplizierte Sprachregeln hinzukommen, von denen die Sprachgemeinschaft vor allem deren schwächere Vertreter nur hoffnungslos überfordert sein kann. Aber da diese Umformung von ihren Urhebern und Umsetzern als segenhafte Vereinfachung angepriesen wird sowie ihre Anwendung als furchtbar modern gilt, werden alle unkritischen Zeitgenossen bei dieser Reform mitmachen, da sie natürlich keinesfalls unmodern oder unflexibel wirken wollen.
Was ist unsittlicher?
Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Ausdruck gebracht, daß in Schulen eigentlich solche Kulturtechniken unterrichtet werden sollten, von deren allgemeiner Gebräuchlichkeit ausgegangen werden kann, damit die Lehre sich nicht auf eine andere Welt bezieht als die reale. Die Reformbetreiber strickten sich daraus folgende Begründung ihres Tuns: Da künftig die reformierte Rechtschreibung die Norm sein wird, müssen wir diese auch den Schülern beibringen. Wenn man betrachtet, daß sogar die Presse vorgibt, widerwillig, aber eben halt aus Rücksicht auf die Schulkinder umgestellt zu haben, die nicht mit einer Sonderschreibung alleingelassen werden sollten, ergibt sich, daß hier in Wahrheit nicht die Schule sich an eine bereits gegebene Entwicklung anpaßt, sondern umgekehrt die Entwicklung überhaupt erst durch die Schule gegeben ist, sich also tatsächlich der ganze Rest an die Schule anpassen soll. Das bedeutet im Endeffekt ein gesamtgesellschaftliches kulturelles Diktat durch Kultusminister(ien), die sich über die nicht verfassungskonforme Institution der KMK außerhalb der staatlichen Ordnung befinden, demokratischer Kontrolle praktisch entzogen. Die Ereignisse beweisen, daß es sich hierbei um mehr als bloß hypothetische Strukturtheorie handelt. In Zeiten, in denen die Erziehung des Nachwuchses immer mehr an staatliche Einrichtungen und den Fernseher bzw. die mehr oder weniger kommerziellen Medien delegiert wird, läßt sich absehen, daß die Wertebildung bei Kindern und Jugendlichen immer mehr zwischen Medienkommerz (naive Trendgläubigkeit, wie sie die Werbestrategen der Konsumindustrie am liebsten haben), Internet (Medienkommerz plus Anarchie) und demokratisch unkontrollierter KMK-Doktrin pendeln und so die Gesellschaft von morgen intensiv prägen wird. Ist das wünschenswert? Am Ablauf der Umsetzung der Rechtschreibreform zeigt sich, wie berechtigt solche Befürchtungen sind. Schulkinder bekommen unrichtige Fakten geradezu eingeflößt (rauhe in etwa der rauhe Winter wird als angeblich "überholt markiert, obwohl die Mehrzahl der Sprachgemeinschaft es so schreibt; die bewährte Rechtschreibung wird als veraltet dargestellt, die neue sei dagegen entrümpelt, logischer, famos vereinfacht und natürlich hochmodern, was ja alles so nicht stimmt). Weil die Schulpolitik zu feige zum Eingeständnis von Fehlern ist, weil es ihr egal ist oder weil sie es sogar ausdrücklich will, wer weiß? Pädagogisch katastrophal ist jede dieser Möglichkeiten.
Sicher kann man lange darüber streiten, ob die neuen Schreibweisen besser oder schlechter als die alten sind. Genau das geschieht ja auch. Doch die Tatsache, daß sich der Streit derartig in die Länge zieht, ist wohl hauptsächlich der Uneinsichtigkeit derjenigen zu verdanken, die sich inzwischen einfach weigern, Gegenargumente vorzubringen, statt dessen nur entgegnen, die Argumente der Kritik seien nicht neu als ob sie damit schon widerlegt wären. Das sture Aussitzen von gesellschaftlichem Widerstand in der Politik einfach hinzunehmen, führt allerdings gerade zum Erfolg dieser Strategie, über deren Unsittlichkeit wir uns hoffentlich einig sind. Wohin wird sich die politische Kultur eines Staates entwickeln, wenn Machtschichten, denen die Macht im Sinne der Verfassung doch nur vom Volk geliehen, befristet und begrenzt anvertraut sein soll, sich über ihre Grenzen einfach hinwegsetzen in der Erwartung, anfänglicher berechtigter Widerstand wird sich schon legen, wenn man einfach den Dialog verweigert und ungerührt Tatsachen schafft? Die Schwelle, zu dieser Strategie zu greifen, wird immer weiter sinken. Irgendwo taucht wieder ein unliebsamer Volksentscheid auf? Na ja, dann kassiert man ihn eben ein, hat man doch schon mal gemacht, also ist das doch ein ganz normaler Vorgang, nicht wahr?
Es gibt wichtigere Dinge. Natürlich. Es gibt immer etwas, das noch wichtiger ist. Doch auch eine Angelegenheit, die in ihrer Wichtigkeit anderen unterlegen sein mag, ist damit noch lange nicht unwichtig. Daß Aushöhlung bzw. offene Mißachtung von Demokratie, Recht und Verfassung, Vernachlässigung der Kultur, Pervertierung von Bildungsprinzipien, steigende Politik(er)verdrossenheit, Angriffe auf die Sprachnorm usw. usw., daß das alles so unwichtige Probleme sein sollen, daß man die Zeit doch lieber mit einem Playstationspiel oder einem Kinofilm verbringt (selbstverständlich beim wohlverdienten Feierabend nach dem täglichen zeitaufwendigen Kampf gegen Globalisierung was immer man darunter auch verstehen mag , den Klimawandel, Castortransporte, Kindesmißbrauch, Todesstrafe, Walfang, Armut, Hunger, Krankheit, Krieg...), das wirst Du doch nicht ernsthaft meinen wollen?
Noch etwas an Herrn Riebe: Ich würde die Anonymität von Gesprächsteilnehmern, deren Diskussionsmanieren sowie deren Fähigkeit schlüssigen Argumentierens und Verteidigung des eigenen Standpunkts nicht in einen Topf werfen. Besonders an den Foren dieser Seite fällt mir auf, daß dies alles eigentlich völlig getrennt voneinander zu beurteilen ist (mehr oder weniger anonyme Beteiligte können sinnvolle Beiträge schreiben, namentlich bekannte ebenso weniger sinnvolle). Außerdem läßt es sich ja doch nicht verhindern, daß vielleicht sogar jemand unter völlig falschem Namen Beiträge schreibt. Was soll´s? Mir ist es wichtiger, die Sachen zu behandeln als die Personen. Vergleiche wie der des Vermummten am Eßtisch treffen die Sache meiner Meinung nach nicht so recht, da wir die Gesichter voneinander doch ohnehin nicht kennen. Der Name in einem Internetforum dient somit eigentlich nur der Identifikation im Rahmen dieses Forums, insofern ist es doch vollkommen egal, ob man unter Pseudonym oder bürgerlichem Namen operiert, Hauptsache, die Beiträge lassen sich ihren Quellen zuordnen. Ehrlich gesagt empfinde auch ich es dagegen unangebrachter, zu jeder Person gleich Anschrift und Telefonnummer offenzulegen, vor allem, wenn aus ihrem selbstgewählten Verhalten eigentlich hervorgeht, daß sie dies gar nicht wünscht. Was ist das anderes als bevormundeter Grad von Privatsphäre?
Übrigens ist es wohl etwas verkürzt formuliert, zu sagen:Heute tut jeder, was ihm gefällt [...] und was alle anderen auch tun. Tut er nun, was ihm ganz persönlich gefällt, oder ordnet er sein Verhalten demjenigen der anderen unter, indem er sich anpaßt? Tatsächlich ist es wohl so, daß eigene Unsicherheit oft dazu führt, daß es einem gefällt, dasselbe zu tun wie die anderen nicht aus Anpassungsbereitschaft im Sinne von Unterordnung, das könnte ja sogar tugendhafte Rücksichtnahme sein; sondern weil man es nicht besser weiß, sich einen Alleingang nicht zutraut oder einfach, Einsamkeit befürchtend, glaubt, wegen diesem von anderen Menschen gemieden zu werden oder, vielleicht nicht weniger schlimm, sich unverstanden zu fühlen. Wer die anderen sind, hängt dabei auch von der sozialen Position des Betreffenden ab. Zum Beispiel muß dies nicht unbedingt die allgemeine Mehrheit sein (wie man an der Rechtschreibreform sieht, die von Anpassern praktiziert wird, obwohl die Mehrheit aller dagegen ist). Es ist schwierig, wenn nicht wohl in den meisten Fällen unmöglich, die Anpassung auf allgemeine Massenphänomene zurückzuführen; vielmehr werden oft Phänomene einfach durch ihr massenhaftes Auftreten zu jenen, wobei es sich auch um massenhaft vereinzeltes Auftreten handeln kann, das nicht unbedingt von Anpassungsdrang herrührt (so sicherlich die mehrheitlich verbreitete Ablehnung der Rechtschreibreform, die daher ja ebenfalls ein Massenphänomen ist).
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