Icklers Besprechung des DTV-Wahrig
WAHRIG Universalwörterbuch Rechtschreibung. Von Dr. Renate Wahrig-Burfeind. Mit einem kommentierten Regelteil von Professor Dr. Peter Eisenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag 2002. 1316 S. EUR 15,00
Der Wörterbuchteil des vorliegenden Werkes ist mit Sorgfalt hergestellt; sie bewährt sich vor allem bei den knappen Bedeutungsangaben und grammatischen Angaben. Druckfehler sind sehr selten: novellists (s. v. PEN); Jerez de la Fontera. Im ersten Teil geht es etwas weniger korrekt zu, abgesehen vom Inhaltlichen, auf das ich sogleich eingehen werde. Der Apostroph im einschlägigen Abschnitt 58 wird ohne erkennbaren Grund mit unterschiedlichen typographischen Zeichen dargestellt. Wie er wirklich auszusehen hat, erklärt der blaue Kasten Apostroph im Wörterverzeichnis. Die Transkription S. 44 ist inkonsequent. Vielleicht ist der Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Vokalen absichtlich übergangen, aber trotzdem dürfte der Vokal in Betten nicht anders wiedergegeben werden als der in quellen.
Der Ausdruck ist manchmal etwas ungelenk: Weitere Ursachen für Probleme mit der Rechtschreibung stellt die Tatsache dar, dass... (887) Getrenntschreibung gilt für Partizipien als erstem Bestandteil (438).
Die Auswahl der Stichwörter überzeugt. Einiges hätte wohl noch aufgenommen werden können: Reductio ad absurdum, getrenntgeschlechtig, Laiin. Es sind auch nicht einmal alle Stichwörter des amtlichen Wörterverzeichnisses vorhanden; so fehlen Fritfliege und Holster. Eigennamen sind (bis auf einige Länder und Hauptstädte, sporadisch auch Flüsse) nicht aufgenommen; diese Strategie hat sich bisher bei Rechtschreibwörterbüchern noch nie bewährt; sie geht an offenkundigen Nachschlagebedürfnissen vorbei, und der übliche Verweis auf enzyklopädische Lexika (der hier ebenso fehlt wie eine Begründung der Stichwortauswahl) erweist sich als wenig sinnvoll, weil solche Werke meist nicht zur Verfügung stehen.
Wörterbücher in turbulenten Zeiten
Es überrascht, daß gerade jetzt, nach den selbstkritischen Berichten der Rechtschreibkommission, ein weiteres, ebenso umfangreiches wie anspruchsvolles Rechtschreibwörterbuch erscheint. Das in Lizenz des Wissen Media Verlags (Bertelsmann) herausgebrachte Werk trägt den Titel Wahrig, den Bertelsmann gekauft hat und zu einem mit Duden konkurrierenden Markenzeichen aufzubauen versucht. Neu ist zunächst, daß es die bisher üblichen, in der seriösen Literatur noch weitgehend verwendeten und bis 2005 auch amtlich gültigen Schreibweisen nicht mehr enthält. Geläufige Wörter wie allgemeinbildend, Handvoll, jedesmal oder sogenannt wird man hier also nicht mehr finden. Zu den wenigen Ausnahmen wie Gemse, Stengel, rauh ist jeweils vermerkt: künftig nicht mehr zulässige Schreibweise. Daß die künftige Unzulässigkeit sich nur auf den staatlich normierbaren Bereich Schule und Behörden bezieht, wird lediglich im Vorwort angedeutet. Offenbar soll jede Erinnerung an die gewachsene, von der Bevölkerungsmehrheit gewünschte Einheitsorthographie getilgt werden.
Daß der radikale Entschluß noch einen banaleren Grund haben könnte, lassen Einträge wie der folgende ahnen:
mitleiderregend, Mitleid erregend; ein -er Mitleid erregender Anblick; sehr, äußerst mitleiderregend; noch mitleiderregender; der mitleiderregendste Anblick; großes Mitleid erregend
Das ist, wie man sieht, in jeder Hinsicht wieder die bisher geltende Schreibweise. Die Rechtschreibkommission hat nämlich inzwischen erkannt, daß es aus grammatischen Gründen nicht angeht, solche Zusammensetzungen gänzlich aufzulösen. Da jedoch die amtlichen Regeln nicht geändert werden dürfen, glauben die anderen reformierten Wörterbücher hier etwas als Neuschreibung kennzeichnen zu müssen, etwa so, als sei die Getrenntschreibung unter den angegebenen Bedingungen bisher ausgeschlossen gewesen. Dieser lästigen Pflicht zur Täuschung entzieht sich das vorliegende Werk, indem es das Verhältnis von herkömmlicher und reformierter Orthographie überhaupt nicht mehr thematisiert.
Neuartig und bemerkenswert ist ferner, daß dem Wörterverzeichnis eine von Peter Eisenberg verfaßte kritische Darstellung der orthographischen Regeln vorangestellt ist. (Von den vielen guten Eigenschaften des Potsdamer Linguisten erwähnt der Verlag übrigens nur die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Dadurch wird suggeriert, daß diese Institution hinter der Rechtschreibreform stehe. Bekanntlich trifft das Gegenteil zu.) Eisenberg erklärt: Das folgende Regelwerk möchte dem kompetenten Sprachteilhaber vor Augen führen, nach welchen Regeln er im Allgemeinen schreibt und liest. Ein solcher deskriptiver Ansatz würde zu einem gleichfalls deskriptiven Wörterbuch passen. Dann müßte es allerdings die üblichen Schreibweisen vorführen und nicht die von den Reformern erfundenen. Vor einigen Jahren war Renate Wahrig-Burfeind in ihrem dtv-Wörterbuch deutlicher geworden: Vor diesem turbulenten orthographischen Hintergrund ein Wörterbuch der deutschen Sprache zu bearbeiten, kehrt die lexikographische Tätigkeit, die sich üblicherweise mit der Vergangenheit und der Gegenwart des Sprachgebrauchs befasst, in ihr Gegenteil. Die heute alles beherrschende Frage lautet: Wie schreibt man in Zukunft?
Genauer besehen, verfolgt Eisenberg vier schwer vereinbare Ziele gleichzeitig: Beschreibung des bisherigen Schreibgebrauchs, Darstellung der Dudennorm, Vorstellung der Reform und persönliche Empfehlungen zu deren Korrektur. Oft weiß der Leser nicht recht, auf welcher dieser Ebenen er sich gerade befindet. Eisenberg behauptet zum Beispiel: Beim Zusammentreffen von drei gleichen Buchstaben wird häufig ein Bindestrich gesetzt: (...) Brenn-Nessel. Das gibt sich wie eine vage statistische Beobachtung des gegenwärtigen Schreibgebrauchs und ist doch bloß die von den Reformern empfohlene Behelfsschreibung zur Entschärfung der neuen Dreibuchstabenregel. Bei Verben mit substantivischem ersten Bestandteil besteht ein Zusammenhang zwischen Getrenntschreibung und Großschreibung. Ist in kopfstehen der erste Bestandteil ein Teil des Verbs, dann wird bei Kontaktstellung zusammengeschrieben und bei Distanzstellung klein: kopfstehen und Sie steht kopf. Fasst man jedoch den ersten Bestandteil als selbständiges Wort auf, dann kann dies nur ein Substantiv sein und man schreibt Kopf stehen sowie Sie steht Kopf. Das ist eine korrekte Darstellung des herkömmlichen Schreibbrauchs, wenn auch nicht der Dudennorm, die nur die erste Möglichkeit gelten lassen wollte. Die Ausdrucksweise im Indikativ des Präsens legt nahe, daß es sich um einen gegenwärtig gültigen Zusammenhang handele. Es folgt jedoch der Nachsatz: Die Neuregelung lässt nur diese zweite Schreibweise zu sowie ein Verweis auf Eisenbergs eigenen Kommentar, in dem er aus gutem Grund, aber entgegen der Neuregelung empfiehlt, die bisherige Schreibweise beizubehalten. Zur neuen Großschreibung bei im Allgemeinen, im Folgenden usw. schreibt Eisenberg: Auch im vorliegenden Wörterbuch sind solche Ausdrücke großgeschrieben. Ein echter Kern einer Nominalgruppe ist jedoch nicht vorhanden. Deshalb sollte man großzügig sein, wenn Kleinschreibung vorkommt. Das ist offensichtlich gar keine orthographische Regel (Anweisung zum rechten Schreiben), sondern bestenfalls eine pädagogische Empfehlung an den notengebenden Lehrer. Wiederum anders verläuft der Bruch bei der neuen Getrenntschreibung: Es wird empfohlen, bei enger Verbindung der Bestandteile wie in kennenlernen oder spazierengehen Zusammenschreibung weiter zuzulassen. Hier kommen als Adressaten nur die Kultusminister in Frage; der normale Benutzer hat ja nichts zuzulassen, sondern will wissen, wie er schreiben soll.
Widersprüche
Der Umschlagtext kündigt an: Stichwortverzeichnis und Regelwerk sind inhaltlich sinnvoll verknüpft. Davon kann keine Rede sein. Zwar gibt es im Stichwortteil Verweise auf das Regelwerk, sie sind aber ganz äußerlich und unbestimmt. Überhaupt scheint es von vornherein sinnlos, amtliche Schreibungen mit Verweisen auf die persönlichen Vorstellungen Peter Eisenbergs von einer besseren Rechtschreibung begründen zu wollen. Bei Wörtern wie Eisen, Schmutz, Staub, Wasser steht beispielsweise jedesmal ein pauschaler Hinweis auf Regel Z 29; man weiß aber nicht, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, zumal Schmutz abweisend nur getrennt geschrieben werden soll, Staub abweisend aber auch zusammen. Solche Willkür, die auf die unklaren amtlichen Regeln zurückzuführen ist, findet sich auf Schritt und Tritt: Platz greifend, aber raumgreifend usw. All jene wundersamen Erleichterungen, die uns die Neuregelung beschert hat, sind getreulich verzeichnet. Man soll also schreiben: der Hohe Priester, aber das hohe Haus (Parlament); die Olympischen Spiele, aber das olympische Feuer; der goldene Schnitt, aber das Goldene Buch usw.
In die Kritik geratene Neuregelungen sind gekennzeichnet und kommentiert. Auch das trifft nur sehr eingeschränkt zu. Im Wörterverzeichnis sind solche Neuschreibungen nicht gekennzeichnet, und der Kommentar in Eisenbergs Regelteil übergeht zahlreiche Fälle, die besonders stark kritisiert worden sind. Unzählige Male widersprechen sich Regelwerk und Stichwortverzeichnis. Bei Bigband zum Beispiel sei, erklärt Eisenberg, Zusammenschreibung selbstverständlich. Das Wörterverzeichnis weiß es anders: Big Band. Eisenberg lehrt das Entweder-Oder. Das Wörterverzeichnis kennt wie die Neuregelung nur das Entweder-oder.
In das Wörterverzeichnis eingebaut sind zahlreiche blau unterlegte Kästen, die sprachwissenschaftliche Begriffe erläutern, darunter auch solche, die für das Deutsche keine Bedeutung haben (Ablativ). Erwähnenswert ist, daß sie auch die Rechtschreibregeln noch einmal enthalten die dritte Darstellung neben dem im Anhang abgedruckten amtlichen Regelwerk und der Eisenbergschen Fassung im ersten Teil. Nicht immer stimmen die Auskünfte überein. Aus der reformierten Consecutio Temporum des Wörterverzeichnisses wird im Kasten die herkömmliche Consecutio temporum. Folgt man den Angaben im blauen Kasten S. 439, so muß man annehmen, daß es Fingerbreit und meterlang gar nicht mehr gibt, weil der erste Bestandteil erweitert oder gesteigert werden kann. In Wirklichkeit ändert sich hier nichts.
Die Komparation wird (wie in manchen neueren Grammatiken) zur Flexion gerechnet, neben Deklination und Konjugation (Kasten S. 387). In einem anderen Kasten (S. 593) heißt es gar: "(Die Komparation) wird häufig der Deklination zugerechnet, da die Formenbildung weitgehend regelmäßig ist. Eine seltsame Begründung. In Wirklichkeit gehört die Komparation zur Wortbildung (Wortstammbildung), was man schon daran erkennt, daß die komparierten Formen ihrerseits erst noch dekliniert werden. Andernfalls müßte man ja doppelte Deklination annehmen. Die Komparation ist also eher mit Diminutivbildung und Motion vergleichbar; diese sind übrigens ebenfalls weitgehend regelmäßig. Regelmäßigkeit kann durchaus auch im Bereich der Wortbildung festgestellt werden, tut aber ohnehin nichts zur Sache.
Ein bekannter Prüfstein der neuen Wörterbücher ist ihr Umgang mit dem Verbzusatz wieder-. Hier hatten die Reformer mit § 34 (1) unabsichtlich eine Falle aufgestellt, in die eine ganze Generation von Wörterbüchern, Schulbüchern und Zeitungen getappt ist.
Unter dem Stichwort wieder heißt es:
Getrenntschreibung in Verbindung mit Verb/Partizip, wenn wieder in der Bedeutung von nochmals, erneut (bes. nicht fig.) gebraucht wird (...) wieder aufbereiten (...)
Zusammenschreibung in Verbindung mit Verb/Partizip, wenn wieder in der Bedeutung zurück gebraucht wird wiederbekommen (...)
In zahlreichen Fällen ist sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich wiederaufladbar / wieder aufladbar; wiederbekommen / wieder bekommen
Dazu zwei Bemerkungen vorweg: Der Zusatz bes. nicht fig. hat keine Grundlage im amtlichen Regelwerk, und aufladbar ist weder Verb noch Partizip.
Die doppelte Möglichkeit kann nur besagen, daß eine Entscheidung zwischen den beiden Bedeutungen nicht getroffen werden kann. So steht beispielsweise bei wiederaufbereiten, das ja zunächst für die Bedeutungsvariante nochmals, erneut und damit für Getrenntschreibung in Anspruch genommen wird, unter dem entsprechenden Stichwort die Zusammenschreibung als erste Option. Das ist zwar im Ergebnis richtig, aber die systemimmanente Begründung leuchtet nicht ein.
wiederherstellen soll laut Wörterbuch zusammengeschrieben werden, weil es bedeutet aufs Neue herstellen was doch gerade viel näher an die Paraphrase nochmals, erneut herankommt als an zurück. Folglich wäre gerade hier Getrenntschreibung zu erwarten. Die tritt jedoch bei dem nahezu bedeutungsgleichen wieder herrichten ein! Bei wiederlesen ist die Zusammenschreibung bisher besonders fest, nach den neuen Regeln aber nicht mehr zulässig, denn an der Bedeutung nochmals, erneut ist gerade hier nicht zu zweifeln. Als Beispiel für die Getrenntschreibung von wieder sehen wird angeführt: ich habe sie wieder in der Kneipe gesehen was so trivial wie unpassend ist, denn hier liegt ja nicht einmal Kontaktstellung vor.
Kurzum: Die Entscheidung des Wörterbuchs für Getrennt- oder Zusammenschreibung oder beides sind in keinem Falle vorhersehbar. Irgendein Gewinn an Schreibsicherheit ist nicht zu erkennen, im Gegenteil, es tritt eine unbeherrschbare Verunsicherung ein, weil man durch die Reform ständig in der Gewißheit lebt, daß sich etwas verändert haben könnte, ohne daß man aber einen Hinweis bekäme, was es sein könnte.
Varianten
Jahrzehntelang strebten die Reformer eine gezielte Variantenführung an, mit dem Ziel einer beschleunigten, aber nicht umstürzlerischen Fremdwortintegration. Die amtliche Neuregelung unterscheidet immer noch Haupt- und Nebenvarianten, allerdings sehr inkonsequent und ohne daß klar wäre, welchen Anspruch dieser Rest von Variantenführung eigentlich erhebt. Nicht einmal die Reformer selbst halten sich daran. Die Verfasser des vorliegenden Wörterbuchs schreiben im allgemeinen Teil stets Orthografie, orthografisch, das ist die Nebenvariante. Im Wörterverzeichnis benutzt die Erklärungssprache dann die Hauptvariante Orthographie, orthographisch (unter rechtschreiben usw.). Wie unter den Reformern üblich, werden auch die unterschiedlich gebildeten Wörter selbständig und selbstständig fälschlich als orthografische Varianten bezeichnet. Eisenberg schreibt nur selbständig, das Wörterverzeichnis nur selbstständig. Vom Begriff der orthografischen Variante wird auch sonst ein allzu großzügiger Gebrauch gemacht. So ist Gruyère gewiß keine orthografische Variante von Greyerzer und Kriek keine solche von Krick. Eisenberg schreibt tendentiell, aber das Wörterverzeichnis kennt diese Schreibweise gar nicht mehr, nur noch tendenziell (aber immer noch existentiell, potentiell). Übrigens sind die Varianten, die jetzt als neugewonnene Freiheiten des Schreibenden gepriesen werden, genau jene früher geschmähten Unsicherheiten, deren Beseitigung ein Hauptmotiv der Reform war.
Silbentrennung
Die amtlich für möglich erklärten Worttrennungen sind allesamt aufgenommen, auch wenn sie noch so unsinnig sind: alla-bendlich, beo-bachten und O-bacht, To-wer, Pla-yer, Tee-nager, Bi-omüll, vol-lenden, Zo-ologe. Die Sache wird nicht besser durch Eisenbergs skurrilen Hinweis: Lesehemmende Trennungen sollten in der Praxis vermieden werden. Wieso nur in der Praxis? Das ganze Rechtschreiben ist eine Praxis.
Eisenberg selbst verwendet ohne Bedenken unkultivierte Trennungen wie Katast-rophe, inte-ressieren. Das Wörterverzeichnis trennt Di-agnose, Palimp-sest, Palind-rom, An-tonomasie (nur so!). Das alles paßt zu einer Neuregelung, die für deutsche Wörter entlegene Etymologien hervorkramt (behände, Stängel, schnäuzen), bei Fremdwörtern jedoch die offenkundigsten Bestandteile nicht erkennen will.
Revision
In den blau unterlegten Kommentar-Kästen schlägt Eisenberg vor, zahlreiche neuen Regeln zu streichen oder zu korrigieren. Obwohl er seine Vorschläge ganz im Stil der Reformpropaganda als Präzisierung und Fortschreibung der neuen Regeln verharmlost, handelt es sich um tiefe Eingriffe, nämlich im einzelnen um die Zulassung
- der bisherigen Schreibweisen neben den (volks-)etymologischen Umlautschreibungen: Quentchen, Bendel, Gemse, belemmert, behende, Stengel, schneuzen
- der Getrenntschreibung mit irgend (über den Duden hinaus): irgend ein, irgend jemand usw.
- der Zusammenschreibung von kennenlernen, spazierengehen, gehenlassen, badengehen usw. zwecks semantischer Unterscheidung
- der Zusammenschreibung bei adjektivischen Verbzusätzen: vollmalen u. v. a. nach semantischen Gesichtspunkten
- der Zusammenschreibung bei substantivischen Verbzusätzen wie kopfstehen/steht kopf, eislaufen/läuft eis u. v. a.
- der Zusammenschreibung bei schwerbeschädigt, hochempfindlich, leuchtendgrün u. v. a.
- der Zusammenschreibung bei fleischfressend, eisenverarbeitend u. v. a.
- des Bindestrichs bei Happy-End u. v. a.
- der Höflichkeitsgroßschreibung Du in Briefen
- der Kleinschreibung bei im allgemeinen, im einzelnen, im wesentlichen usw.
- der Großschreibung bei mehrteiligen festen Begriffen (z. T. über den Duden hinaus): Erste Hilfe, Hohes Haus, Schneller Brüter u. v. a.
Ferner werden empfohlen:
- die Öffnung der Liste zusammenzuschreibender Verb-Partikeln (§ 34)
- die Vermeidung der neuen Zusammenschreibung bei Bigbusiness, Highsociety usw.
- die Vermeidung der bindestrichlosen Zusammenschreibung bei Desktoppublishing, Secondhandshop u. v. a.
- die Angleichung der Groß- und Kleinschreibung bei Substantivierung: der Eine und Einzige u. ä. (nicht ganz klar)
- weitere Trennmöglichkeiten (z. T. wie bisher): Ger-ste, Kar-pfen; nie-drig, Ge-gner u. a.
- die Vorzugstrennung mons-trös (nicht monst-rös), Em-blem (nicht Emb-lem) usw.
- die Wiederherstellung der apostrophlosen Unterscheidungsschreibung ohmscher Widerstand vs. Ohmsches Gesetz usw.
- die weitgehende Wiederherstellung der bisherigen Kommasetzung bei Infinitiven
Hinzu kommen die kritischen Bemerkungen, aus denen Eisenberg noch keine praktischen Folgerungen zieht, also etwa seine Verwerfung der groß geschriebenen Tageszeiten (heute Abend). Außerdem muß die implizite Rücknahme der grammatisch falschen Großschreibung bei jdm. Feind sein usw. hinzugerechnet werden. Eine grundsätzliche Umorientierung besteht darin, daß Eisenberg die Orthographie wieder zur Bedeutungsunterscheidung nutzen will, während die Reformer sie auf rein formale Kriterien gründen wollten. Was bleibt also, wenn es nach Eisenberg geht, von der Reform? Hauptsächlich die so überraschend wiedereingeführte Heysesche ss-Regelung (von der sich Eisenberg übrigens bereits vor Jahren in scharfer Form distanziert hat). Dafür hätte es keiner milliardenteuren Staatsaktion bedurft.
Holzwege
Besonders im allgemeinen Teil ist einiges schiefgelaufen oder bewußt vernachlässigt. Eisenberg schreibt gleichlautend (so auch im Kasten S. 887); im Wörterbuchteil steht das neuerdings allein zulässige gleich lautend. Unrichtig im Sinne der Reform sind auch: das letztere, dem entsprechend, aufeinandertreffen. Unter fahren (und dem Musterartikel S. 14) ist das neuerdings obligatorische Komma nach Vorgreifer-es nicht gesetzt: es macht Spaß Rad zu fahren.
Bei täuschen soll es keine verwandte Form mit au geben; es gibt aber tauschen, das nicht weiter hergeholt ist als die anderen etymologischen Ausgrabungen (Schnauze zu neuschreiblichem schnäuzen usw.).
Das Wörterbuch verzeichnet getreulich auch die grammatisch falschen Neuschreibungen Leid tun, Recht haben, Pleite gehen, Not tun usw. Eisenberg listet sie kommentarlos auf, obwohl auch der Laie sieht, daß sie objektiv nicht in Ordnung sind. Soll man tatsächlich schreiben: so Leid es mir tut; wie Recht du doch hast? In seinen eigenen Empfehlungen schlägt Eisenberg, über den alten Duden hinausgehend, sogar Zusammenschreibung vor: leidtun, nottun, rechthaben, pleitegehen, ganz im Sinne jener frühen Maxime der rabiaten Reformer: Entweder groß und getrennt oder klein und zusammen.
Das Wörterbuch kennt nur das reflexive sich Bahn brechen und leitet daraus, ganz im Sinne des amtlichen Regelwerks, die Zusammenschreibung bahnbrechend ab. Eisenberg behauptet sogar ausdrücklich, eine syntaktische Konstruktion Bahn brechend sei ausgeschlossen. Das ist jedoch unrichtig, denn bahnbrechend ist gerade nicht das, was sich selbst Bahn bricht (also Erfolg hat), sondern was einem anderen Bahn bricht. So war die Erfindung des Ottomotors eine dem modernen Verkehr Bahn brechende Tat. schwerbehindert, schwerbeschädigt usw., die Eisenberg anführt, widersprechen der amtlichen Regelung, die allerdings bei diesen Fällen ins Rutschen geraten ist.
Adjektive wie aufsehenerregend, erfolgversprechend usw. sind bekanntlich durch die Neuregelung beseitigt worden. Weil jedoch das amtliche Verzeichnis ohne nähere Begründung erratische Einträge wie die Ratsuchenden enthält, glaubt Eisenberg, auch ratsuchend, aufsehenerregend usw. retten zu können, indem er sie aus den analog konstruierten Substantiven Ratsuchende, Aufsehenerregende usw. rückbildet. Ein Hilfsdienst an der Reform, der den Grammatiker ungewöhnliche Selbstüberwindung gekostet haben muß.
Besteht zum Satz nach dem Doppelpunkt eine so enge inhaltlicheVerbindung, dass man an Stelle des Doppelpunktes auch einen Gedankenstrich setzen kann, dann darf das erste Wort nach dem Doppelpunkt kleingeschrieben werden. Diese Regel hat keine Entsprechung im amtlichen Text; auch ist die Setzung des Gedankenstrichs nicht so präzise geregelt, daß sich daraus ein brauchbares Kriterium ableiten ließe.
Ein im übertragenen Sinn kalter Krieg wird nach der Neuregelung keineswegs groß geschrieben, wie Eisenberg meint, sondern dies gilt allein für den Eigennamen einer ganz bestimmten historischen Epoche.
Eisenberg behauptet, mit der Großschreibung des Anredepronomens Sie werde Höflichkeit signalisiert und gleichzeitig eine Verwechslung mit dem Pronomen der dritten Person vermieden. Das erste betrifft jedoch eher die (auch mündliche) Verwendung als die Schreibweise des Anredepronomens. Auch stimmt es nicht ganz, daß die Verwendung des du soziale Nähe signalisiere. Vielmehr geht es um die Abwesenheit gesellschaftlich bedingter Förmlichkeit; daher werden so unvergleichbare Partner wie Gott, Kinder und Haustiere geduzt, obwohl hier von sozialer Nähe keine Rede sein kann. In krassem Widerspruch zur Neuregelung und zum Wörterbuchteil des vorliegenden Werkes schreibt Eisenberg vor: sie ist ihm feind und kennzeichnet diese allerdings sehr notwendige Wiederherstellung nicht einmal als seine eigene Korrektur. Wenn er empfiehlt, die Schreibweise von das Meiste an die Kleinschreibung von vieles usw. vorzunehmen, so rennt er offene Türen ein, denn das meiste wird auch laut Neuregelung klein geschrieben.
Bei dem legendären schnee-erhellt, das sich seit Jahrzehnten durch die Wörterbücher schleppt und auch von diesem Werk trotz offenkundiger Abseitigkeit nicht ausgespart wird, ist keineswegs sicher, ob der erste Teil bei Bindestrichschreibung nicht groß geschrieben werden muß. Jedenfalls haben nicht nur die Schweizer Reformer Sitta und Gallmann § 55 (2) (Die Großschreibung gilt auch für Substantive als Teile von Zusammensetzungen mit Bindestrich) so interpretiert: Armee-eigen, See-erfahren, Genuss-süchtig (so auch das Österreichische Wörterbuch). Die Rechtschreibkommission hat dieses Problem in ihrem ersten Bericht diskutiert und die inoffizielle Empfehlung ausgesprochen, angesichts der unerwünschten Folgen doch lieber keinen Gebrauch von diesem Entzerrungsbindestrich zu machen.
Daß Stieglitz, Kiebitz, Antlitz Ausnahmen sein sollen, ist wegen der gebeugten Formen nicht einsehbar; sollten Silbengelenke nur bei Haupttonsilben vorkommen, müßte das deutlicher gesagt werden. Hertz kommt als Eigenname ohnehin nicht in Betracht. Unter den Neuschreibungen wie Exposee hätten die immer noch bestehenden Ausnahmen Erwähnung verdient: Abbee, Attachee u. a. sollen ja weiterhin nicht zulässig sein.
weitgehend kann laut Wörterverzeichnis auch getrennt geschrieben werden, nicht aber als Adverb. Es ist unklar, woher diese im Ansatz vernünftige Regel stammt; im amtlichen Regelwerk hat sie keine Grundlage. Und warum gilt dasselbe nicht für tief gehend, tief greifend (nur getrennt)? vivipar wird als lebendgebärend definiert; dieses muß nach Ansicht der Reformer und des vorliegenden Wörterbuchs jedoch jetzt getrennt geschrieben werden.
Im amtlichen Regelwerk fiel bekanntlich auf, daß vornüber fallen getrennt, hintenüberfallen aber zusammengeschrieben werden sollte ein offensichtliches Versehen, das die Reformkommission inzwischen eingestanden hat. Wahrig-Burfeind hält sich jedoch strikt an die amtliche Fassung von 1996 und lehrt folglich die Ungleichbehandlung von hintenüber und vornüber. Man muß das wohl im Sinne einer Reductio ad absurdum verstehen. So erklärt sich auch, daß weiterhin danebenhängen, aber darunter hängen (aber wiederum drunterhängen!) zu schreiben ist, dazwischenfahren, aber darüber fahren (aber drüberfahren!), wie es eben die Zufälligkeiten der lückenhaften Partikelliste aus § 34 vorsehen.
Die ominöse neue Kommaregel laut § 77 (5) wird von Eisenberg nicht richtig dargestellt, da er als kommapflichtige hinweisende Wörter nur Pronominaladverbien gelten läßt. Damit wird gerade das so ungemein folgenreiche Vorgreifer-es unterschlagen.
Zweckdefätismus
Es gibt in der jetzigen Situation keine Möglichkeit mehr, zur alten Rechtschreibung zurückzukehren, ohne erneut eine Lawine von Kosten zu verursachen und eine ganze Schülergeneration zu verunsichern. (Vorwort) Dieselbe Behauptung haben Eisenberg und die anderen Reformbetreiber schon zwei Jahre vor dem Inkrafttreten vorgetragen. Sie ist seither nicht plausibler geworden. Die Verunsicherung der Schüler kann nicht größer werden, als sie zur Zeit ist, und schuld daran sind weder die Reformkritiker noch jene Verlage und Medien, die bei der alten Rechtschreibung geblieben oder zu ihr zurückgekehrt sind. Schuld sind vielmehr die Politiker, die eine mangelhafte Reform ins Werk setzten, ohne die schon 1997 als unumgänglich notwendig erkannten Korrekturen zu genehmigen. Sie müssen nun Stück für Stück nachgeholt werden, und in spätestens drei Jahren muß eine Generalüberholung stattfinden mit allen fatalen Folgen und Kosten. Schuld an der Verwirrung sind auch Verlage wie Duden und Bertelsmann, ohne deren Bereitwilligkeit die irregeleiteten Kultusminister ihr letztlich doch zum Scheitern verurteiltes Überrumpelungsmanöver nicht zum gegenwärtigen Scheinerfolg einer flächendeckenden Durchsetzung hätten führen können. Das Vorwort rückt die Verhältnisse in ein falsches Licht:
Ob es sinnvoll war, diese Reform trotz der Proteste, die sie hervorrief, überhaupt umzusetzen, soll hier nicht debattiert werden. Nicht die Proteste, sondern deren Ursache, also die objektiv nachweisbaren, längst auch von den Reformern eingestandenen Fehler hätten die Politiker veranlassen sollen, von ihrem Eingriff in die deutsche Sprache Abstand zu nehmen.
Indem der Regelteil wieder und wieder die bewährten Schreibweisen verteidigt und andererseits das Wörterverzeichnis die Neuregelung bis in ihre grotesken Auswüchse dokumentiert, gerät das Werk zu einem heimlichen Plädoyer für die bisherige Norm. Anzukreiden ist ihm nur der allzu offenkundig kommerziell motivierte Zweckpessimismus, was die Wiederherstellbarkeit der gewachsenen Einheitsorthographie angeht. Man kann sie haben, und zwar kostenlos, wenn man sie nur ernsthaft will.
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