Vor zehn Jahren: „Die Sprache gehört dem Volk!“
Bundestagssitzung 224 vom 26. März 1998
Rechtschreibreform
[…] Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Kleinert (Hannover), Norbert Geis, Reinhold Robbe und weiterer Abgeordneter
Rechtschreibung in der Bundesrepublik Deutschland […]
Joachim Gres (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Sprache gehört dem Volk. Dieser eigentlich selbstverständliche Kernsatz des heute zur Abstimmung anstehenden Gruppenantrags gehört an den Anfang unserer heutigen Diskussion und bedarf der ausdrücklichen Betonung, da diese Erkenntnis offenbar nicht überall verbreitet ist. Die deutsche Sprache ist jedenfalls keine Verfügungsmasse der Kultusbürokratie, die sich beliebig der Sprache bemächtigen könnte; denn das Regelwerk der deutschen Sprache entspringt der Übereinstimmung in der Sprachgemeinschaft, was als gebräuchlich und richtig anzusehen ist. […] Bei der Rechtschreibreform, über die wir heute diskutieren müssen, ist aber genau das Gegenteil geschehen. […] Um in der Öffentlichkeit keine breiter angelegte Diskussion über die sprachliche Sinnhaftigkeit der sogenannten Reform aufkommen zu lassen, sollte die Rechtschreibreform in den Schulen in einer höchst intransparenten Form über kultusministerielle Erlasse eingeführt werden, im Vertrauen auf die normative Kraft des Faktischen. Aber genau hier ist die Grenze des rechtsstaatlich Hinnehmbaren erreicht bzw. überschritten, eine Grenze, die den Deutschen Bundestag auf den Plan rufen muß. […] Die Kultusminister haben in einer kaum nachvollziehbaren Beharrlichkeit an der ihnen letztlich von den eigenen Bürokraten als Kuckucksei unterschobenen Rechtschreibreform festgehalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sie sind Opfer der Geister geworden, die sie riefen, aber jetzt nicht mehr loswerden. […]
Peter Enders (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich bedauere ich es, daß der Antrag überhaupt gestellt wurde. Er hat nämlich die Verunsicherung in der Bevölkerung erhöht, […]
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): […] Unsere Fraktion bejaht grundsätzlich das Ziel der Rechtschreibreform, die deutsche Schriftsprache zu vereinfachen und schwer einsehbare Regeln zumindest nicht mehr mit dem Rotstift in den Schulen durchsetzen zu wollen. Ich denke, das dient den Schülerinnen und Schülern beim Erlernen der Schriftsprache. Das macht die deutsche Sprache auch im Ausland wieder etwas attraktiver, die gemeinhin als viel zu schwer erlernbar gilt. […]
Ministerin Anke Brunn (Nordrhein-Westfalen): […] Es ging darum, daß Kinder und Jugendliche -- das darf man auch in der Debatte im Bundestag nicht vergessen -- die deutsche Rechtschreibung besser und einfacher lernen können. Das war der Ausgangspunkt.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es ging ferner darum -- meine Damen und Herren, das halte ich ebenfalls für wichtig --, daß die deutsche Sprachgemeinschaft auch bei der Schreibweise zusammenbleibt. Deshalb hat sich die Kultusministerkonferenz, hier vor allem als Schulministerkonferenz verstanden, dieses Themas angenommen. […] Unsere österreichischen Freunde, die die neuen Regeln schon etwas länger praktizieren, haben jedenfalls berichtet, daß die Schüler bei ihnen 50 Prozent weniger Kommafehler und 10 Prozent weniger Schreibfehler machen. […] Zwar bleibt es der deutschen Bundesregierung vorbehalten, zu entscheiden, welche Schlußfolgerungen und Konsequenzen sie aus dem Beschluß des Bundestages zu ziehen gedenkt. Wenn sie aber die Neuregelung nicht zuließe, dann wäre sie die einzige Unterzeichnerin der Wiener Absichtserklärung vom 1. Juli 1996, die die damit eingegangenen Verpflichtungen nicht termingerecht einführte. […]
Staatsminister Dr. Hans-Joachim Meyer (Sachsen): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute fiel schon das Wort Groteske. In der Tat, der Sturm gegen die Neuregelung der Rechtschreibung wird einmal in die historische Erinnerung als eine der Grotesken der deutschen Geschichte eingehen. […] Die jetzige Neuregelung der Rechtschreibung ist ja nicht, wie hier behauptet wurde, von der Kultusbürokratie ersonnen worden. Dies ist das Werk von Fachleuten.
(Horst Eylmann [CDU/CSU]: Das ist der Fehler!) […]
Die weitverbreitete Übellaunigkeit, weil dieses Land unübersehbar vor großen Veränderungen steht, der generelle Mißmut, weil Besitzstände auf den Prüfstand gehören, die Verdrossenheit über Politik und Politiker, das allgemeine Nörgeln gegen die da oben, dazu noch die nie ausgelüfteten Ressentiments gegen Schule und Lehrer:
(Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Es reicht!) […]
Nicht um die Neuregelung der Rechtschreibung geht es in Wahrheit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Es geht um die Frage, ob diese Gesellschaft veränderungsfähig und veränderungswillig ist. […] Wenn es schon bei einem Reförmchen wie diesem zu solchen Reaktionen kommt, was soll dann erst geschehen, wenn es wirklich ernst wird mit Veränderungen in Deutschland?
(Lachen und Beifall bei der SPD und der PDS -- Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie Verräter! -- Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Realsatire!)
Daher, meine Damen und Herren: Setzen Sie ein positives Zeichen, daß dieses Land nicht veränderungsscheu ist! Lehnen Sie diesen Antrag ab! Ich danke Ihnen. […]
Erika Steinbach (CDU/CSU): Herr Kultusminister! Frau Kultusministerin! Ein parlamentarisches Gremium ist allerlei gewöhnt. Allerdings muß ich eines sagen: Eine solche Arroganz und Überheblichkeit gegenüber einem Parlament ist mir in den sieben Jahren meiner Abgeordnetentätigkeit noch nicht vorgekommen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der F.D.P. -- Widerspruch bei der SPD und der PDS) […]
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): […] Nehmen Sie doch diesen Geßler-Hut von der Stange, ehe die Leute ihn herunterschießen. Es gibt im ganzen Land Prozesse über diese Frage; es gibt Volksbegehren über diese Frage. Ihrer eigenen Kommission laufen die vernünftigen Sachverständigen davon. […]
Vizepräsidentin Michaela Geiger: Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses […]
-- Nach Ansicht des gesamten Präsidiums ist die Mehrheit eindeutig gewesen. Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
http://www-aix.gsi.de/~giese/rsreform95/13224o.html
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