Norm = Fetisch? Bestimmt!
Ich möchte gern das, was mir in diesen Diskussionen im wesentlichen durch die Beiträge von Herrn Ickler klargeworden ist, mit meinen eigenen Worten beschreiben. (Keine Angst, ich denke nicht ständig so aufwendig und kompliziert; es reizt mich bloß das Thema dazu.) Auch ich hatte anfangs Schwierigkeiten mit der Vorstellung, mich ganz und gar von einer Norm zu verabschieden. Aber nüchtern betracht stellt man fest, daß es per se keine Rechtschreibnorm gibt, sondern daß sie nur gemacht werden kann. Jetzt wird es spannend, denn man könnte in einen Zirkelschluß verfallen: Um eine Norm genauer: ein deskriptives Regelwerk; diese Gleichsetzung halte ich bezüglich der Rechtschreibung sowohl für zulässig wie für einzig sinnvoll aufzustellen, muß man sich an dem vorherrschenden Schreibgebrauch orientieren und diesen in Form von mehr oder weniger allgemein gültigen (!) bzw. speziellen Aussagen beschreiben. Wenn man nun fragt, wodurch der allgemeine Schreibgebrauch bedingt ist, und man darauf stößt, daß es lange Zeit eine relativ strenge Norm dafür gegeben hat, ist man geneigt, das »Phänomen« einer weitgehend einheitlichen Schreibung von der Existenz einer Norm abhängig zu machen. Aber warum eigentlich?
Denn dieser Zirkel ist, etwas verkürzt, von dem Kaliber: Wir stellen die richtige Norm auf, weil alle bereits nach einer Norm schreiben, und diese stellen wir wiederum auf. Oder noch kürzer: »Diese Aussage ist wahr« was nach den Regeln der Aussagenlogik keine Ausage mehr ist; damit ist eine Einordnung in die Kategorien »wahr« oder »falsch« unmöglich. Dieser selbstbezügliche Satz ist schlichtweg bedeutungslos, denn wenn man annimmt, er sei eine falsche Aussage, ergibt sich ebensowenig ein Widerspruch wie in dem Fall, daß man annimmt, er sei wahr. Für die normierte Rechtschreibung kann dies bedeuten: Die Existenz einer Norm ist dann und nur dann wichtig, wenn ihre Existenz für wichtig gehalten wird. (Bijunktion im Sinne der Aussagenlogik) Ich hoffe, daß ich mich bei diesen Überlegungen und mit der Parallele nicht geirrt bzw. selbst getäuscht habe; dies prüfe bitte jeder auf das schärfste!
Wie kommt man nun ohne das Vorhandensein einer Norm zu einer solchen? Das entspricht bereits der Frage: Wie kommt man ohne das Vorhandensein einer Norm zu einer weitgehend einheitlichen Schreibung? (Wenn man das für unmöglich hält, hat man m. E. die Flinte zu früh ins Korn geworfen.) Warum funktioniert das? Mit scheint, daß Rechtschreibung viel mit Gewohnheit und mit Zweckmäßigkeit zu tun hat: Gewohnheit in dem Sinn, daß man eine irgendwann einmal antrainierte Schreibung relativ unverändert beibehält, wenn man nicht aus eigener Kreativität oder einem besonderen Bedürfnis heraus (z. B. BinnenGroßschreibung oder konsequente kleinschreibung) bzw. durch Ideen anderer darauf gebracht wird, sie zu ändern; Zweckmäßigkeit in dem Sinn, daß andere das lesen können sollen, was ich schreibe, und sofern ich das wirklich beabsichtige, klappt das umso besser, je mehr ich mich an das halte, was allgemein üblich ist. Dazu muß ich danach schauen, wie andere schreiben. Das bedeutet, daß Rechtschreibung sehr viel mit Lesen zu tun hat, und zwar mit häufigem. (Damit wären wir bei der PISA-Studie...) Lesen geht dem Schreiben voraus, denn das, was ich schreiben soll, muß ich vorher gesehen und (in welcher Weise auch immer) begriffen haben.
Prinzipiell entsteht die Norm (im oben angegebenen Sinn) durch die genaue Beobachtung und die Untersuchung von Regelmäßigkeiten und Ausnahmen der Schreibgewohnheiten und die anschließende »Protokollierung« dieser Beobachtungen in Form von Aussagen über den Ist-Zustand, welche dann Regeln genannt werden, wenn es durch ihre Anwendung möglich ist, die übliche Schreibung eines Wortes zu rekonstruieren das bedeutet es, ein deskriptives (beschreibendes) Regelwerk zu sein. (Das ist meine persönliche Definition; wenn in der Germanistik eine andere üblich ist, möge man mich korrigieren.)
Diese schriftlich fixierte Norm hat in meinen Augen mindestens eine sehr wichtige Funktion und kann eine weitere haben. Sie dient in jedem Fall dazu, daß die Kinder eben diese übliche Schreibung genau kennenlernen. Ich halte schriftlich fixierte Regeln für die Schule daher aus diesem Grund und nur zu diesem Zweck für sehr sinnvoll. Die fakultative Funktion besteht darin wenn darüber Einigkeit unter den Schreibenden besteht, daß die Norm diese Aufgabe haben soll , in unklaren Fällen, bei denen sich keine einheitliche Schreibung feststellen ließ, eine Empfehlung für eine solche abzugeben. Es ist aber auch möglich, daß in den Regeln festgehalten wird, daß es für diesen Fall keine einheitliche Schreibung gibt, und daß die am häufigsten vertretenen angegeben werden. Aber Vorsicht: An diesem Punkt ist eine Qualitätsveränderung von einem deskriptiven zu einem präskriptiven Regelwerk möglich, wenn man an solche Empfehlungen mit der gleichen Einstellung herangeht, wie einem die Rechtschreibung in der Schule beigebracht wird: »Das muß so gemacht werden.« Auch hier gilt: Die Regeln schreiben nur demjenigen etwas vor, der sich etwas vorschreiben läßt. Man kann an die Regeln aber auch mit der Einstellung herangehen, erfahren zu wollen, was sich als allgemein üblich und sinnvoll erwiesen hat.
Denn die Rechtschreibregeln bedeuten nicht, daß alle so schreiben müssen, wie es die Norm verlangt. Die Rechtschreibnorm sagt: Mache Du es bitte auch so, weil man es allgemein so macht und Du damit unnötige Leseprobleme vermeidest. Ich denke, daß es strenggenommen keine falsche Schreibung gibt, sondern eine graduelle Abstufung: normkonform »eigenwillig« sinnverstellend (d. h. unklar) sinnentstellt (d. h. eine andere Bedeutung tragend). Man kann also beim Schreiben nur etwas in dem Sinn verkehrt machen, daß andere es nicht mehr oder nur mit großen Schwierigkeiten lesen können bzw. einen völlig anderen Sinn entnehmen, oder der Text hinterläßt beim Leser einen schlechten Eindruck, der einem zum Nachteil gereichen kann (siehe Bewerbungsschreiben). In der Schule sieht das etwas anders aus, dort gilt bereits als »falsch geschrieben«, was von der Norm abweicht. Das ist m. E. nur eine Methode, denen die Norm bekanntzumachen, die sie nicht kennen. Die Schüler befinden sich beim Schreibenlernen genau in der Position des Beobachters, der der Norm auf die Schliche kommen will. Und das Erlernen der Norm geht schneller, wenn sie korrigiert werden, sobald sie von derselben abweichen.
Fazit: Die Regeln sind Regeln, weil das darin enthaltene die Regel (d. h. der »Normalfall«) ist. Daß diese Regeln möglicherweise nicht eindeutig sind, weil verschiedene Beobachter zu unterschiedlichen Ergebnissen darüber kommen können, was das Allgemeinübliche ist, sollte niemanden wundern. Bislang galten die von der Duden-Redaktion in solchen Zweifelsfällen getroffenen Entscheidungen als maßgeblich dafür, was dann am sinnvollsten ist. Diese Entscheidung ist nun an die Allgemeinheit zurückverwiesen worden; es gibt keinen universellen Anker mehr. Na und? Braucht man den wirklich?
Ich bevorzuge weiterhin die Schreibungen »radfahren« und »Auto fahren«, weil ich ersteres als körperliche Betätigung (wie wandern, rennen etc.) auffasse, das zweite dagegen im Sinne von »sich einer Sache bedienen«, »sich mit einem Gegenstand beschäftigen« (wie bei »Kahn fahren«, »Holz hacken« etc.). Aber ich kann nicht erwarten, daß das alle so sehen und es deswegen genauso machen wollen; mir ist klar, daß es Leute gibt, die nicht in erster Linie zur körperlichen Betätitgung mit dem Fahrrad unterwegs sind. Was die machen, ist ganz klar: Rad fahren. Solche Feinsinnigkeiten (und das war ja nur ein ganz simples Beispiel) sind aber nur umsetzbar, wenn es eben keine »normierte« Schreibung (im strengen Sinn) gibt und es akzeptiert wird, daß jeder, der sich etwas bestimmtes dabei gedacht hat, das so schreiben darf, wie er will. Ich will damit keinesfalls der Anarchie das Wort reden, nur der Großzügigkeit in Geschmacksfragen.
Wie gesagt, das ist lediglich der momentane Stand meiner Auffassung von der Materie. Ich stelle das hiermit zur Diskussion; für alle Ergänzungen und Berichtigungen bin ich dankbar.
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Jan-Martin Wagner
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