Lukrez
Kurz vor dem Ablauf des Jubiläumsjahres 2017 erinnerte die Neue Zürcher Zeitung an die Entdeckung des berühmten materialistischen Lehrgedichts des Lukrez (ca. 99-53 v. J.) – pikanterweise am zweiten Feiertag des christlichen Weihnachtsmärchens.Die Wiedergeburt eines Atheisten
Sonne, Mond, die Erde: Alles ist zufällig entstanden, aus kleinsten Teilchen. Vor 600 Jahren wurde das bahnbrechende Gedicht «De rerum natura» von Lukrez wiederentdeckt – und gehörte schon bald zu den verbotenen Büchern.
Christoph Lüthy 26.12.2017, 14:26 Uhr
Lukrez zeigt auf die Atome, die im Sonnenlicht tanzen. Abbildung aus der Ausgabe von «De rerum natura» von Thomas Creech (Oxford, 1683). (Bild: PD)
Vor 600 Jahren, im Jahr 1417, entdeckte der Humanist und Manuskriptjäger Poggio Bracciolini in einem nicht namentlich bekannten Kloster in der weiteren Umgebung der damaligen Konzilstadt Konstanz ein ganz besonderes Manuskript. Seine Entdeckung war das verloren geglaubte Lehrgedicht «De rerum natura» («Von der Natur der Dinge») des römischen Dichters Titus Lucretius Carus. Bracciolini liess sich eine Abschrift anfertigen, die nach seiner Rückkehr nach Italien wiederum kopiert wurde. So verbreitete sich dieser antike Text zuerst in der Toskana und in Norditalien, bevor er erstmals in Brescia 1473 und danach mit zunehmender Häufigkeit auch anderswo gedruckt wurde.
Die Philologen reagierten auf den neuen Text zunächst mit Bewunderung, die Humanisten mit Neugierde, die Theologen mit Abscheu. Denn als Anhänger der Schule des griechischen Philosophen Epikur war es Lukrez daran gelegen, dem Leser Gemütsruhe zu schenken und die Furcht vor dem Tod zu nehmen. Diesen Gemütszustand versuchte er zu erzeugen, indem er die Existenz einer unsterblichen Seele wie auch einer strafenden Götterwelt bestritt. Diese doppelte Verneinung führte dazu, dass das Werk des Lukrez vor genau 500 Jahren, im Reformationsjahr 1517, durch die Synode von Florenz als Schullektüre verboten wurde. Die noch ungefestigte Schülerseele durfte diesem Text auf keinen Fall ausgesetzt werden...
nzz.ch 26.12.2018 Heute können wir beurteilen, wie weit die Atom-Hypothese des Demokrit (460-371 v. J.), der Lukrez folgte, dem Wissen der Zeit vorauseilte, nämlich 2200 Jahre. Um 1800 fand John Dalton den mathematisch-physikalischen Hinweis auf die tatsächliche atomare Struktur der Materie in der Proportionalität der Gewichte sich verbindender chemischer Elemente. Lukrez aber vermied den Begriff des „atomon“, des Unteilbaren, sondern sprach nur von „Samen“ – in Anbetracht der Entdeckungen seit 1900 eine weise Vorsicht. Insgesamt ist es erstaunlich, welche Phantasie Lukrez aufwendet, um aus geringen Vermutungen und faktischem Nichtwissen ein großes Lehrgedicht entstehen zu lassen. Den Zusammenhalt der Atome erklärt er, wie Demokrit, aus der Form der Teilchen. Man hätte damals schon auf elektrische Kräfte kommen können, die als Anziehung des geriebenen Bernsteins bekannt waren. So dichtet Lukrez (II/469, in Hexametern):Scilicet esse globosa tamen, cum svalida constent,
provolvi simul ut possint et laeder sensus.
et quo mixta putes, magis aspera levibus esse
principiis, unde est Neptuni corpusacerbum.
est ratio secernendi seorsumque videndi,
umor dulcis ubi per terras crebrius idem
percolatur, ut foveam fluat ac mansuescat;
linquit enim superataetri primordia viri,
aspera quom magis in terris haerescere possint. In der Übersetzung von Karl Büchner (Reclam 1973) nach der verbesserten Ausgabe Zürich 1956 liest sich das so: Kugelig sind sie natürlich, obgleich sie struppig beschaffen,
so daß sie zugleich zu rollen imstand und die Sinne zu reizen.
Und damit du glaubst um so mehr, daß rauhe vermischt sind
glatten Atomen, woraus ist der bittere Körper des Meeres,
so gibt es Mittel und Weg es zu trennen und sehen gesondert,
wenn nämlich öfter durch Erde das süße Wasser geseiht wird,
gleiches, damit in die Grube es fließt und dort wird gefügig;
läßt es zurück oben die Körper abscheulicher Lauge,
während die rauhen mehr zu hängen vermögen im Boden. Wir sehen, Lukrez versucht, seine Beobachtungen aus Schlammfang und Salzgewinnung mit seiner Atomtheorie in Einklang zu bringen. Leider hat der Bodensatz unserer Kultur, die kulturbanausischen Kultusminister, vierzig Jahre später ätzend eingewirkt, um dem „Rauhen“ sprachgeschichtswidrig und völlig nichtsnutzig sein „h“ zu nehmen – und Google unterkringelt „Rauhes“ volkserzieherisch schon dem, der es nicht ohne „h“ sucht.
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