Der Varianten-Führer
Wie Professor Ickler schon geschrieben hat, dreht sich der Beschwichtigungsversuch von Gerhard Varianten-Führer Augst im wesentlichen darum, die Änderungen in den Wörterbüchern zwar zahlenmäßig nicht zu bestreiten, aber ihnen den Status echter Änderungen abzusprechen, indem jeweils betrachtet wird, ob der Schreiber durch die neuesten Änderungen gezwungen wird, anders zu schreiben mit dem Ergebnis: Alles Bisherige bleibe richtig, außer bei den nachgetragenen Partikelverben. Also könne von Änderungen fast überhaupt keine Rede sein.
Nun ist es aber so, daß wir Wörterbücher nicht kaufen, um festzustellen, ob das nach wie vor richtig ist, was wir bereits als richtig kennen, sondern in erster Linie um in Zweifelsfällen festzustellen, wie bestimmte Schreibungen geregelt sind. Dabei interessiert uns nicht nur eine von mehreren möglichen Schreibweisen, sondern es interessiert uns, welche Schreibungen (laut Wörterbuch) richtig und welche falsch bzw. nicht vorgesehen sind. Also können wir nichts mit einem Wörterbuch anfangen, das uns zur Frage der Richtigkeit nur die halbe Antwort gibt und zur Frage der nicht anerkannten Schreibungen eine ganz falsche Antwort.
Bisher stand etwa in den reformierten Wörterbüchern: (alt) datenverarbeitend --> (neu) Daten verarbeitend. Nach der Neuregelung, sagen uns also alle bisher verkauften Wörterbücher, ist datenverarbeitend falsch und allein Daten verarbeitend richtig. Nach der Überarbeitung aufgrund des 4. Berichts werden die Wörterbücher aussagen: datenverarbeitend ist nicht mehr falsch, sondern wieder richtig und Daten verarbeitend ist nicht mehr allein richtig, sondern nur noch eine von zwei erlaubten Schreibweisen. Sowohl im Bereich falsch als auch im Bereich richtig hat sich somit etwas geändert.
Dasselbe gilt nun für alle Änderungen, die die Wörterbücher vornehmen müssen, seien es nun 3000 oder etwas weniger oder etwas mehr: Die Auskunft des Wörterbuchs ändert sich in jedem einzelnen Fall, sonst müßte man ja gar keine Änderungen in den Wörterbüchern vornehmen. Nur im Bereich der Varianten geht es nicht um falsch und richtig, sondern um die Angaben Hauptvariante und Nebenvariante, auf die künftig zugunsten der Angabe der Gleichberechtigung verzichtet werden soll.
Weil dies der zahlenmäßig größte Bereich der Änderungen in den reformierten Wörterbüchern ist, folgt eine Betrachtung zur Relevanz dieser Änderungen für den Wörterbuchbenutzer.
Gerade wenn es mehrere Varianten gibt (und vor allem, wenn der Schreiber sich schon die Mühe gemacht hat, den Fall im Wörterbuch nachzuschlagen), möchte man sich sehr oft nicht mit der Auskunft zufriedengeben, daß einfach beides möglich sei, sondern man fragt: Was ist besser? Was ist üblicher? Wovon hängt es ab, welche Schreibweise eher in Frage kommt? Man fragt also nach dem Unterschied der beiden Varianten, nach zusätzlichen Merkmalen oder Angaben zur Verwendung, und möchte zumindest ebendies erfahren: Gibt es eine allgemein bevorzugte Variante, eine Hauptvariante?
Dies war der praktische Grund, warum die Wörterbücher auch vor der Reform solche Angaben enthielten, ähnlich wie auch sonstige Angaben, die den Nutzer interessieren könnten, etwa zur Betonung oder zur Bedeutung; abgesehen davon, daß einfach die Sprache beschrieben werden sollte, wie sie aussieht und da gibt es eben üblichere und weniger übliche Schreibweisen, die folglich als Haupt- bzw. als Nebenvarianten verzeichnet wurden. Zum Nutzen des Wörterbuchkäufers.
Nun kamen die Reformer und gaben es als ihren Auftrag aus, die Rangordnung von Haupt- und Nebenvarianten neu zu verteilen. Besonders viel bekamen sie in dieser angemaßten Funktion deshalb zu tun, weil sie selbst eine Unzahl von überflüssigen neuen Varianten einführten, zwischen denen sie gleich säuberlich nach Haupt- und Nebenvarianten unterscheiden wollten. Daß das Volk diese Reform überhaupt nicht wollte und auch keine Anweisungen brauchen konnte, welche Schreibweisen den Varianten-Führern persönlich zusagten, spielte für die neuen Herren der Sprache keine Rolle.
Es zeigte sich auch gleich, daß der neuen Einteilung in Haupt- und Nebenvarianten kein Erfolg beschieden sein konnte. Die Presse suchte sich Haupt- und Nebenvarianten nach eigenen Maßstäben heraus, von Verlag zu Verlag verschieden; der Duden wollte alles durch ein Praxiswörterbuch bereinigen, das aber nicht beachtet wurde; die meisten Schreiber konnten sich mangels Logik und Anerkennung nicht merken, wie die neuen Tendenzen aussehen sollten; und die Reformer selbst hielten sich auch nicht konsequent an ihre Hauptvarianten. Nachdem dies also nicht funktionierte, sind wir nun im Jahre 2004 so weit, daß alle diese Angaben nach dem Willen der Reformer entfernt werden sollen.
Damit werden wir aber keineswegs einen brauchbaren Stand in den Wörterbüchern erreichen, denn die Frage der Nutzer, welche Varianten denn nun zu bevorzugen sei, wird in diesem Zwischenstadium regelmäßig unbeantwortet bleiben. Früher oder später nicht zuletzt aufgrund der Lenkungsabsichten der Reformer, die sich auch sonst keinen Deut um die Wünsche der Sprachgemeinschaft kümmern werden wir also wieder Haupt- und Nebenvarianten bekommen. Und dann wahrscheinlich wieder, zumindest teilweise, an den Eindeutschungsbestrebungen der Reformertruppe orientiert und nicht allein daran, was die Allgemeinheit wirklich bevorzugt.
Würden es nämlich die Reformer wirklich ernst meinen mit ihrer vorgeblichen Absicht, der Sprachentwicklung Raum zu geben, wie sie Gerhard Augst in seiner Erwiderung auf die Hochrechnungen zum jüngsten Änderungsumfang behauptet, dann hätten sie am allerbesten auf die ganze Reform mit Stiel und Stumpf von vornherein verzichten können und könnten es immer noch und jederzeit tun eben um der natürlichen Entwicklung, um uns allen den Raum zu geben, den wir brauchen.
Wir haben also sehr wohl durch den vorübergehenden Verzicht auf Variantendifferenzierung wesentliche Änderungen in den Wörterbüchern; und nach wie vor keine Bereinigung des Reformschadens, sondern einen erheblichen Verlust an Qualität und Orientierung. Der Verlauf noch einmal in Kürze, mit Ausblick.
1. Vor der Reform: Die Wörterbücher geben die tatsächlich üblichen Varianten an und die tatsächlichen Verhältnisse bei den Varianten (mit relativ wenigen Irrtümern). Das ist sinnvoll und nützlich.
2. Ab 1996: Die Wörterbücher führen eine Menge nutzloser, zusätzlich erfundener Varianten ein und geben Haupt- und Nebenvarianten so an, wie die Reformer das wollen. Damit kann niemand etwas anfangen, das System ist chaotisch und gibt nicht die Wirklichkeit wieder. Alle bisherigen Wörterbücher gelten als veraltet.
3. Regelung Stand 2004: Sämtliche Variantenangaben sollen gestrichen werden. Damit sind alle entsprechenden Angaben in den bisherigen Wörterbüchern veraltet und führen die Benutzer in die Irre. Leichte Verbesserung gegenüber 1996 ff., aber viel schlechter als vor der Reform. Alle bisherigen Wörterbücher sind veraltet.
4. Nächster Reformschritt: Unter anderem werden wieder Variantenangaben eingeführt teils der Sprachentwicklung angepaßt, teils an den Wünschen der Reformer ausgerichtet. Möglicherweise leichte Verbesserung, vielleicht auch Verschlechterung gegenüber Schritt 3. Jedenfalls deutliche Verschlechterung gegenüber dem Zustand vor der Reform. Die bisherigen Wörterbücher entsprechen wieder einmal nicht dem neuen Stand.
5. Nächster Reformschritt: Zögernde Annäherung an die Sprachwirklichkeit, möglicherweise auch weitere Anpassung an spezielle Wünsche der Reformkommission und Entfernung von der Sprachwirklichkeit. Wieder leichte Verbesserung oder leichte Verschlechterung, je nach dem Anteil der Reformierungsbestrebungen. Die Wörterbücher entsprechen wieder nicht dem neuesten Stand.
6. Nächste Schritte: Und so weiter.
7. Letzter Schritt: Abschaffung der Reformkommission sowie der Neuregelung und Ausrichtung an der Sprachwirklichkeit. Deutliche Verbesserung und Annäherung an die Qualität vor der Reform.
Es ist zu empfehlen, die Schritte 4, 5 usw. auszulassen und gleich zum letzten Schritt zu kommen. Das ist der einfachste und billigste Weg, wieder ordentliche Verhältnisse und brauchbare Wörterbücher bereitzustellen, die nicht nach wenigen Jahren schon wieder veraltet sind.
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