Re: Mitmacher
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Gast
Ja, Herr Melsa, aber eines haben Sie bei Ihrer Explosion vergessen: Sie und alle Altschriebler dürfen unbefristet, über 2005 hinaus, so schreiben wie Sie wollen. Der Staat wird Ihnen kein Haar krümmen. Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, ist dass Sie von der nächsten Generation etwas belächelt werden.
Peter Schubert Veltheimstraße, Berlin
Grad ist mir aufgefallen, daß ich darauf noch gar nicht, wie ich mich zu erinnern meinte, geantwortet habe.
Also, zunächst war mein voriger Beitrag keine Explosion. Explosion klingt so nach Wutausbruch, nach Emotionalität statt Rationalität. Doch da frage ich, was an meinen Beobachtungen unvernünftig sein soll.
Zum Thema: Wie immer schon, kann man natürlich privat so schreiben wie man will, ob man sich da an irgendwelchen Normen orientiert oder sich seine eigene schafft oder es völlig wild sprudeln läßt. Aber daß man in kaum eine Zeitung schauen kann, ohne daß einem die Früchte eines diktatorischen Obrigkeitsgehabes und, schlimmer noch, einer treu fügsamen Presse, ins Auge springen, kann einem schon auf den Magen schlagen. Und dann stößt man in vielen Büchern, die man sonst ruhig und ungestört hätte lesen können, andauernd auf idiotische Schreibweisen, die vom Inhalt ablenken.
Es ist einfach bedenklich, wie widerstandslos der Großteil der Presse obrigkeitliche Eingriffe in das Schriftsprachsystem, ihr eigenes Kommunikationsmedium!, hinnimmt und sogar selber umsetzt. Wenn eine derartige Idiotie so direkt in die Substanz der Presse eindringen kann, was ist dann von ihrer Unabhängigkeit zu halten? Wo ist da der kritische Journalismus geblieben? Ist die FAZ das einzige größere Organ, bei dem das Immunsystem noch funktioniert?
Aber zurück zum Ausgangspunkt: Privat darf jeder schreiben wie er will, und das sogar unbefristet, das ist wirklich erstaunlich gütig, gell? Da haben die lieben Kultusminister doch ein weiches Herz gehabt. Wenn nun als nächstes einige Wortbedeutungen geändert würden, was dann? Nicht so schlimm, das gälte nur für Schule und Behörden, die befinden sich sowieso in ihrem ganz eigenen Kosmos und sollen ruhig ihre eigenen kruden Gültigkeiten brauen Bildung, Staatsverwaltung, was soll's, ist doch egal , privat darf jeder noch die alten Wortbedeutungen benutzen, auch wenn man in der Presse ebenfalls mittlerweile zu einer eigenen Version der neuen Wortbedeutungen übergegangen ist und eigentlich auch niemand sie so ganz richtig anwendet. Egal egal, privat muß das alles ja keiner mitmachen, jeder hat schließlich das Recht, den Zug der Zeit an sich vorbeifahren zu lassen, nicht wahr? Unbefristet! Daß er dann falsch verstanden wird, ist ja sein Problem, er hätte ja auch mitmachen können. Spekulation, Horrorszenario? Nein, Moment, die Rechtschreibreform hat Wortbedeutungen geändert, und zwar in der Getrennt- und Zusammenschreibung. Was einmal ein Wort mit durchaus eigener Bedeutung war, das darf es jetzt oft nur noch getrennt geben, auch wenn es dann auch etwas anderes bedeuten kann. Wie man dies nun auch abwiegelnd relativieren mag, es handelt sich eindeutig um einen Rückschritt in der Sprachentwicklung, denn nützliche Sprachelemente, die bereits geboren und reibungslos etabliert waren, dürfen nun in der Schule nicht mehr unterrichtet werden. Was ist von einer Bildungspolitik zu halten, die solche destruktiven Maßnahmen durchsetzt?
Das heißt, die Freiheit, eine Schreibnorm zu wählen, gilt nicht für Lehrer und soll auch für Schüler ab 2005 nicht mehr gelten (in der Praxis oft entgegen der offiziellen Anordnung schon jetzt nicht mehr). Ebenso ist es in Behörden sowie der Presse und anderen Medien: Man hat sich an der Rechtschreibung zu orientieren, die der Füh... äh, der Staat angeordnet hat. Auch vor der Reform gab es eine Norm, die an diesen Stellen zu befolgen war, doch da bestand über sie ein breiter Konsens. Die reformierte Rechtschreibung jedoch wird von der Mehrheit der Bürger und so gut wie allen prominenten Schriftstellern ausdrücklich abgelehnt. Wenn ein Staat so etwas trotzdem mit aller Kraft durchsetzt, kann es sich nur um eine banausenhafte Diktatur handeln, mit welcher Bezeichnung sie sich auch immer gerne schmückt.
Das kann man sich doch wohl nicht gefallen lassen! Aber man gewöhnt sich ja an alles. Also ist die Zeit bald reif für den nächsten Schritt der Demokratieaushöhlung. Da werden dann vielleicht auch wieder die Leute maulen und wettern, aber nur eine Weile. Wenn sie mit ihrem Protest keinen Erfolg haben, werden sie aufgeben und die Gewöhnung wird einsetzen, beim einen früher, beim anderen später. Unsichtbar wie die Bewegung eines Stundenzeigers gehen Freiheit, Kultur und Demokratie zugrunde. Und irgendwann wird man sich wundern, wie spät es auf einmal schon ist.
Christian Melsa
Veltheimstraße, Hamburg
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