Capriccio vom 14.02.04 21.15
Bayerisches Fernsehen Videotext am 14.02.04 zum Inhalt von Capriccio 21.15-21.45
Neue Skandale um die Rechtschreibreform:
Die anstehende Reformstufe bringt Riesenkosten bei größtmöglichem Unsinn!
Der Beitrag in Capriccio (ca. 21.40 Uhr, Länge 5:18):
Sprecher: Vor wenigen Tagen erschien der sogenannte Vierte Bericht der Rechtschreibkommission, doch manchen scheint nun nicht die deutsche Rechtschreibung sondern die komplette Rechtschreibkatastrophe perfekt.
Einblendung des Nibelungenliedes in einer alten Schrift, anschließend verschiedene Handschriften, dann eine Seite aus Goethes Faust
Sprecher: Der Autor des Nibelungenliedes, dazu Goethe, Schiller bis hin zu Franz Kafka, die großen Schriftsteller deutscher Sprache schrieben, wie sie es für richtig hielten. Doch jetzt plötzlich sieht die gesamte deutsche Literatur mit ihren ph-s und scharfen ß auf einen Schlag alt aus. Denn jetzt kommt die Rechtschreibreform.
Einblendung aus dem vierten Bericht: die Seite mit der geschlossenen Liste zur Zusammenschreibung
Sprecher: Letzte Woche wurde die neueste Reform der Reform mit weiteren 4000 Änderungen von den Kultusministerien abgesegnet. Ein willkürlicher Eingriff in ein gewachsenes Kulturgut.
Ickler: „Die deutsche Rechtschreibung ist in gewisser Weise optimal. Sie ist – man hat mal gesagt – der Mercedes unter den Orthographien. Ich mach’ keine Schleichwerbung hier, aber da ist was dran. Also, die ist eine ungemein leserfreundliche Rechtschreibung. Und jetzt kommen die Reformer mit ihrer an sich wohlmeinenden Idee und glauben da – ja , mit der Axt durchgehen zu müssen und das Unterholz auslichten und so etwas. Und dann merkt man nach einiger Zeit, da ist von Grund auf etwas nicht verstanden worden.“
Texteinblendung: Die Wirtschafterin kämpfte in der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln nicht zustande. Erich Kästner, Notabene 45
Sprecher: Ein Text wie Erich Kästners Notabene 45, in dem er zwischen heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln unterscheidet, wäre nach den neuen Regeln nicht mehr möglich.
Texteinblendung: Ich gehe Pleite / Es tut mir Leid
Sprecher: Ausdrücke wie Pleite gehen und Leid tun verstoßen gegen jede Sprachlogik, denn niemand fügt mir Leid zu, wenn er mir leid tut.
Texteinblendung: Deut-schland / Bi-omüll / vol-lenden / Spitza-horn / Tee –nager / dreie-ckig
Sprecher: Ganz abgesehen von Trennungen, die dem einfachsten Sprachgefühl widersprechen. Irgend etwas ist da grundsätzlich schief gelaufen.
Ickler: „Ich will nur einen Satz zitieren, den die Reformer lange Zeit vor sich hergetragen haben. Sie wollten der Tendenz der Sprachgemeinschaft entgegenwirken: zum Beispiel Zusammenschreibung, Großschreibung von festen Begriffen wie Schwarzes Brett und so etwas. Ich hab’ mich damals gefragt: >Wie kann das sein? Wie kann man der Tendenz der Sprachgemeinschaft entgegenwirken wollen? Sich gegen den Sprachwandel stellen? Das ganze noch als modern ausgeben?< Das ist eine vollkommene Verkennung der Natur der Sprache.“
Einblendung: Gebäude des IDS, dann die Mitglieder der Kommission bei einer Tagung
Sprecher: Hier wurden all die absurden Neuerungen erfunden. Im Institut für deutsche Sprache in Mannheim tagt die offizielle Rechtschreibkommission. Doch ihre Ergebnisse sorgen in der Bevölkerung nur für Verwirrung. Keiner kennt sich mehr aus.
Ickler: „Das empört natürlich sehr viele und das ist auch empörend, daß hier eine kleine Clique von nahezu unbekannten Germanisten es geschafft hat, 100 Millionen schreibkundigen Deutschen diese Änderungen aufzuzwingen.“
Einblendung: Web-Seite der Rechtschreibkommission, die Namen der Kommissionsmitglieder, dann die Seite des IDS
Sprecher: Die Zusammensetzung der Kommission und des Beirates waren immer schon umstritten, auch wegen möglicher wirtschaftlicher Interessen. So sind nur zwei Wörterbuchverlage im Beirat vertreten. Ein Mitglied bietet im Internet kommerzielle Rechtschreibkurse an. Das war es nicht, was Konrad Duden sich einst vorgestellt hatte, als er zum ersten Mal die deutsche Orthographie als Kulturgut begriff. Und ursprünglich sollte die Rechtschreibreform, ganz im Sinne Dudens, die deutsche Sprache auf den aktuellen Stand internationaler Regeln bringen.
Einblendung: Dudenseite mit Miss|stand / Miss|stim|mung usw.
Sprecher: Aber radikale Ideen, konsequent klein zu schreiben und sich in der Schrift nur noch nach der Aussprache zu richten, ließen sich nicht durchsetzen, weil sie zu tief in die Schrifttradition eingegriffen hätten. So blieb es bei einem faulen Kompromiß mit vielen Widersprüchen und Fehlern.
Einblendung: Reformierter Duden wird zugeklappt
Ickler: „Die Reform trat also mit allen Fehlern in Kraft: 98. Und zwar deswegen, weil sie schon vorfristig, 96, in die Schulen gedrückt worden war. Das war zwar sehr geschickt, weil dann der Widerstand der Bevölkerung gebrochen werden konnte – mit dem Argument: >Die Schüler schreiben ja schon neu.<. Aber es war auch ungeschickt, weil Korrekturen nicht mehr möglich waren. Und jetzt hat man nun den Salat. Wir haben jetzt nach einigen Jahren eine in Rechtschreibprogrammen, in Wörterbüchern niedergelegte objektiv fehlerhafte Rechtschreibung, wie jetzt auch zugegeben wird. Wir kommen aber nur sehr schwer wieder davon herunter.“
Einblendung: Schulklasse
Sprecher: Und jetzt versuchen die Reformer mit immer neuen Korrekturen, das Regelwerk an die Sprachlogik anzupassen. Doch dadurch wird alles immer komplizierter. Die Schulbücher und Lexika sind mit jeder Neuerung schon wieder veraltet.
Einblendung: Schüler schreibt Delfin / rau / dass
Sprecher: Doch die Kommission behauptet, kein Schulbuch müsse neu gedruckt werden.
Ickler: „Das ist vollkommen falsch. Also, ich habe ja nun diese Änderungen, die im vierten Bericht vorgeschlagen werden, genau untersucht und ich sehe, daß Tausende von Wörtern betroffen sind, daß fundamentale Regeln neu gefaßt werden, mit ganz anderen Folgen. Und es ist gar kein Zweifel, daß jetzt alles noch mal neu gemacht werden muß.“
Einblendung: Alte Schrift mit Nibelungenlied wie am Anfang
Sprecher: Seit den ältesten Texten hat sich in der deutschen Literatur eine Kultur der Schrift entwickelt, die einzigartig ist. Und jetzt wird willkürlich, per Gesetz von außen, in diese lebendige Sprachkultur eingegriffen. Das widerspricht jeder kulturellen Entwicklung, und es verwirrt jeden, der versucht, nach seinem Sprachgefühl zu schreiben.
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Karsten Bolz
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