Zu ,,falsch? und ,,richtig?
Im Anschluß an meinen Beitrag wissenschaftliche Nachprüfbarkeit (bei den Reizen der neuen Rechtschreibung) möchte ich noch einmal auf die Untersuchung der Struktur der Sprache, d. h. auf die Untersuchung von Syntax, Grammatik und Semantik zurückkommen, und ich möchte darstellen, wie ich mir im Idealfall den Zusammenhang mit der Rechtschreibung vorstelle.
(I.)
Das Ergebnis einer solchen Untersuchung ist im Idealfall etwas, das man als sprachliches Gesetz bezeichnen kann: Wie man bei Vorgängen in der Natur einen Ablauf nach bestimmten Prinzipien (die sich im Idealfall mathematisch ausdrücken lassen) feststellen kann, so kann man auch in der Sprache bestimmte Schemata ausmachen, wie etwa die sogenannte Satzklammer im Deutschen (und daß nichtrelative Subjekt- oder Objekt[neben]sätze nie im Mittelfeld des übergeordneten Satzes stehen). Um zu dieser Bezeichnung zu kommen, müßte überprüft werden, inwiefern diese Schemata allgemeingültig sind, oder ob sich nur ein Teilbereich der Sprache damit beschreiben läßt. Letztlich bedeutet es, daß die syntaktisch-grammatische Struktur der Sprache ermittelt wird. Das ist der erste Schritt auf dem Weg zur Rechtschreibung.
Diese Struktur ist es, die meines Erachtens in Verbindung mit dem Wortschatz die Sprache an sich ausmacht. Und ich behaupte, daß diese Struktur maßgeblich ist sowohl für die gesprochene wie für die geschriebene Sprache zumindest sollte sie dies auch für letztere sein, denn nur dann gibt es einen fundierten Zusammenhang und weitestgehende Eindeutigkeit in der Zuordnung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache.
Diese Zuordnung ist der zweite Schritt auf dem Weg zur Rechtschreibung. Ich setze dabei nicht voraus, daß die Sprache komplett regelhaft abbildbar ist, sondern daß sie grammatisch-syntaktisch-semantisch analysierbar ist. Rechtschreibung besteht dann meines Erachtens darin, daß es (neben der Laut-Buchstaben-Zuordnung, aber die ist hier relativ unwichtig) für eine gegebene grammatisch-syntaktische Konstruktion eine Anweisung gibt, wie diese in der Schrift abzubilden ist. Das ist sehr abstrakt formuliert, weil es die (idealisierte) Idee hinter der Rechtschreibung darstellen soll, nicht, wie man es praktisch macht. (Es sagt deshalb auch nichts darüber aus, wie diese Schreibanweisungen im Laufe der Zeit wirklich entstanden sind.)
(II.)
Dabei ergeben sich zwei Probleme: Zum einen besteht eine gewisse Wahlfreiheit bei der konkreten Gestaltung dieser Abbildung (im mathematischen Sinn, d. h. Zuordnung; hier von grammatisch-syntaktischer Struktur zum Schriftbild), zum anderen muß eine Handhabung für solche Fälle gefunden werden, in denen die strukturelle Analyse kein eindeutiges Ergebnis liefert. Dies ist zwar nun der Bereich der menschlichen Konventionen, aber nicht nur: Als Randbedingung verlange ich zum einen, daß das Regelwerk, zu dem man gelangen möchte, nicht im Widerspruch zur Struktur der Sprache steht (d. h. die schriftlich vorliegenden Ergebnisse dürfen, wenn man diese selbst wiederum strukturell [=syntaktisch-grammatisch] analysiert, nicht bzw. nicht ausschließlich zu etwas anderem führen, als man als Ausgangspunkt hatte; eine generelle eindeutige Umkehrbarkeit zu fordern, geht vermutlich zu weit und kann nicht erfüllt werden [man denke etwa an die Uneindeutigkeit bei modalen und resultativen Verbzusätzen]), und zum anderen, daß es in sich logisch konsistent ist.
Es mag trivial sein, aber ich halte es schlicht für unwissenschaftlich, ein Regelwerk aufzustellen, das in sich widersprüchlich ist. (Nota bene: Das ist eine Aussage über [bzw. eine Anforderung an] das Regelwerk und nicht über [bzw. an] die Sprache!) Die Wahrung der gedanklichen bzw. logischen Konsistenz bedeutet auch, sich selber und die Konsequenzen der eigenen Handlungen und Festlegungen ernstzunehmen, d. h. sie wahrzunehmen, zu bewerten und ggfs. zu korrigieren.
Das ist dann der dritte Schritt zur Rechtschreibung: Zur richtigen Schreibung kommt man, wenn die Regeln für die Umsetzung der sprachlichen Struktur (d. h. des Syntaktisch-Grammatischen der Sprache) in das Schriftliche in sich widerspruchsfrei sind (sofern die syntaktisch-grammatische Analyse an der betreffenden Stelle widerspruchsfrei möglich ist), und wenn die Schreibung dem konkreten, allgemein üblichen Schema der Umsetzung des Gesprochenen in das Schriftliche entspricht. So zumindest stelle ich mir den Idealfall vor, wie man in der Rechtschreibung zwischen richtig oder falsch unterscheiden kann.
(III.)
Wie ist es also damit: P. Schubert:
Die Behauptungen, Leid sei großzuschreiben und Bäcker sei vor oder nach oder zwischen dem ck oder gar nicht zu trennen, betreffen dagegen keine Naturgesetze, sondern menschliche Konvention. Irgendjemand hat solche Regeln aufgestellt, und irgendjemand kann sie auch wieder ändern. Wer also behauptet, eine Regel über die sprachliche Richtigkeit sei falsch, muss erklären, nach welchem Maßstab er richtig und falsch unterscheidet. Mir scheint, hier muß man aufpassen, daß nicht zwei Ebenen vermischt werden: Unter »sprachlicher Richtigkeit« verstehe ich etwas, das im Einklang ist mit der syntaktisch-grammatischen Struktur der Sprache, und eine entsprechende Regel ist eine zutreffende Aussage über die sprachliche Struktur. Dies ist also etwas, das zur obersten (im Sinne von übergeordnet, maßgeblich) Ebene gehört. Dagegen sind Behauptungen (Wortwahl P. Schubert) zur Großschreibung oder zur Trennung von ck, wenn sie als bloße Vorschriften daherkommen (»sei großzuschreiben ... zu trennen«), direkt auf der rechtschreiblichen, d. h. auf der untersten (den anderen untergeordneten, von ihnen bestimmten) Ebene anzusiedeln.
Was dabei fehlt, ist die Aussage, wonach sich die Entscheidungen über die Groß- oder Kleinschreibung von Leid oder die Trennung von ck richten soll. Meine Antwort darauf ist, kurz gesagt, daß die sprachliche Richtigkeit der Maßstab ist, nach dem sich die Rechtschreibung zu richten hat.
Als Nebenergebnis meiner Überlegungen möchte ich abschließend darauf hinweisen, daß ein Rechtschreibregelwerk zwei Arten von konzeptionellen/prinzipiellen/sachlichen Fehlern enthalten kann: 1.) Die sprachliche Struktur wird falsch abgebildet. 2.) Es enthält innere Widersprüche.
– geändert durch J.-M. Wagner am 12.06.2003, 11.09 –
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Jan-Martin Wagner
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