Kommentar zum vierten Bericht (Neufassung, Anfang)
Kommentar zum vierten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung
Zur Einleitung
„Dieser 4. Bericht hat eine Sonderstellung gegenüber den bisherigen Berichten: Im Hinblick auf die in der Wiener Absichtserklärung von 1996 vereinbarte Übergangsfrist bis 31. Juli 2005 weist in ihm die Zwischenstaatliche Kommission aus, welche Modifikationen sie für das Regelwerk vorschlägt.“
Das entspricht nicht den Tatsachen. Auch der erste Bericht enthielt eine Fülle von Änderungsvorschlägen, die jedoch zum Ärger der Kommission von der Amtschefskommission untersagt wurden. Schon damals war verhüllend von „Verdeutlichungen“ die Rede gewesen, die Kultusministerien ließen sich jedoch nicht täuschen und gaben bekannt: „Keine Änderung der beschlossenen Regeln zum jetzigen Zeitpunkt“ usw. (Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998 )
„Die Aufgaben der Kommission sind in Artikel III der Wiener Absichtserklärung von 1996 festgelegt. Daraus ergibt sich im Einzelnen, die Umsetzung der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zu beobachten, Anfragen zu beantworten, Kritik aufzugreifen und entsprechend zu berücksichtigen, das neue Regelwerk auf etwaige Schwachstellen zu untersuchen und nötigenfalls Vorschläge für dessen Anpassung zu erarbeiten. Es war schon immer erklärte Absicht der Kommission, eine gewisse Zeit der praktischen Anwendung der Neuregelung abzuwarten, bevor Vorschläge zu Detailanpassungen gemacht werden. Die meisten der sich aus der Anwendung der neuen Rechtschreibung ergebenden Probleme sind – wie vorhersehbar – auf Umstellungsschwierigkeiten zurückzuführen, die sich aber mit zunehmendem Gebrauch der neuen Schreibregeln mehr und mehr relativieren.“
In der Wiener Absichtserklärung heißt es jedoch:
„Die Kommission wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin. Sie begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Sprachentwicklung. Soweit erforderlich erarbeitet sie Vorschläge zur Anpassung des Regelwerks.“
Von einer Korrektur fehlerhafter Regeln ist nicht die Rede. „Anpassung“ ist ein Relationsbegriff, es muß gesagt werden oder erschließbar sein, woran angepaßt werden soll. Im Zusammenhang der Absichtserklärung kann nur die Anpassung an die zu beobachtende künftige Sprachentwicklung gemeint sein. Im vierten Bericht wird selbstverständlich nicht auf die Sprachentwicklung Bezug genommen, denn die deutschen Sprache hat sich seither nicht in orthographisch relevanter Weise entwickelt. Vielmehr sind Korrekturen des Regelwerks gemeint, wie es ja auch aus dem weiteren Bericht hervorgeht. Damit geht die Kommission über ihren Auftrag hinaus. Der führende Schweizer Reformer Horst Sitta, bis heute Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission, stellte schon vor Jahren klar:
„Mir ist dieser Wortlaut wichtig: Die Kommission soll ihrem Aufrag nach nicht – wie seitens der Reformgegner behauptet wird – das angeblich schlechte Reformwerk optimieren. Sie soll auf der Grundlage des beschlossenen Regelwerks die Einführung der Neuregelung begleiten.“ (in Eroms/Munske [Hg.]: Die Rechtschreibreform – Pro und Kontra, Berlin 1997, S. 222)
In einem an viele Adressaten versandten Standardbrief der Kommission aus demselben Jahr heißt es:
„Wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung in Wien weitere Änderungen vorerst grundsätzlich nicht mehr möglich sind.“
Am 23.1.1997 gaben Zeitungen eine Mitteilung des IDS wieder, wonach die Aufgabe der Kommission „keineswegs die Korrektur des beschlossenen Reformwerks“ sei.
„Die ‚von Reformgegnern erzeugte Sorge‘, die Rechtschreibreform werde schon vor der endgültigen Umsetzung ‚repariert oder korrigiert‘, sei gegenstandslos.“ (Fränkischer Tag vom 23.1.1997)
Die ersten Reparaturvorschläge wurden im ersten Bericht (Dezember 1997) unterbreitet, einige davon als „unumgänglich notwendig“ erklärt. Nach ihrer Zurückweisung durch die Amtschefskommission wurden einige der untersagten Korrekturen unterderhand in Beratungsgesprächen mit Duden und Bertelsmann praktisch dennoch eingeführt. Nun soll erstmals förmlich in den amtlichen Text eingegriffen werden, Anfang 2004, lange vor der „endgültigen Umsetzung“ im August 2005.
Die erste Abweichung vom ursprünglichen Auftrag war allerdings unter dem Druck der Kritik schon von den Kultusministerien in jener Pressemitteilung vom 12. 2. 1998 angedeutet worden:
„Ob und welche Änderungen sinnvoll sind, kann rechtzeitig vor Ende der Übergangszeit (im Jahr 2005) entschieden werden.“
Hierauf könnte sich die Kommission heute berufen, nicht aber auf die Wiener Absichtserklärung. Auf die Neuinterpretation des Kommissionsauftrages gehen auch gewisse Spannungen zwischen der deutschen Seite einerseits und der Schweiz und Österreich andererseits zurück.
„Es war erklärtes Ziel der Neuregelung, den Schreibenden wieder die Möglichkeit zu geben, allein aufgrund der Anwendung der Rechtschreibregeln zu richtigen Wortschreibungen kommen zu können. Demgegenüber verlangte die frühere Regelung ein häufiges Nachschlagen im Wörterbuch.“
Wenn dies das Ziel war, ist es so gründlich verfehlt worden, daß sogar das staatliche Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung in München festhielt:
„Die Neuregelung der Rechtschreibung bedingt, dass für jeden – Lehrer und Schüler – der Umgang mit einem Rechtschreiblexikon selbstverständlicher sein muss denn je.“ (Handreichungen „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“. ISB München 1996, S. 41)
Sitta und Gallmann haben festgestellt, das amtliche Regelwerk sei ein Text, aus dem der Laie die korrekte Schreibung nicht entnehmen könne. Gerade bei der Groß-und Kleinschreibung könne man auch in Zukunft nur durch Nachschlagen zum Ziel kommen (Handbuch Rechtschreiben 1996).
„Die Kommission ist zu der Überzeugung gelangt, dass die wesentlichen Neuerungen des amtlichen Regelwerks von 1996 unverändert bleiben sollten. Viele dieser Regelungen haben nachweislich spürbare Erleichterungen bei den Erstlernern gebracht.“
Hier fällt die vage Ausdrucksweise auf: Was sind „spürbare“, zugleich aber nachweisbare Erleichterungen? Tatsache ist, daß zur Zeit alle Rechtschreibungen – die „alte“, die amtliche neue und die vielfach korrigierte neue, wie sie in den unterschiedlichen Wörterbüchern seit 1996 verzeichnet ist, benutzt werden dürfen, ohne daß Fehler angestrichen werden. Bei gleichbleibenden oder sogar – wegen der Mischung – objektiv geringeren Rechtschreibleistungen werden aus arithmetischen Gründen bessere Noten vergeben – eine recht zweifelhafte „Erleichterung“. Bezeichnend ist die folgende Zeitungsreportage:
„,Endlich mal wieder eine Zwei‘, frohlockt die Achtkläßlerin der Wirtschaftsschule. Vor allem die Schlußbemerkung des Lehrers findet Julia hochinteressant. Da steht: ,Aufgrund der Anwendung der neuen Rechtschreibregeln sind elf Fehler weniger in Rechtschreibung und Zeichensetzung zu verzeichnen; die Arbeit ist daher mit ,gut‘ zu bewerten.‘“ (Nürnberger Nachrichten 31.12.1996) Nicht die Schülerin hat also die neuen Regeln angewandt, sondern der Lehrer und für die gleiche Leistung eine bessere Note gegeben. Diesen Effekt hätte die Schulverwaltung auch durch eine bloße Anweisung an die Pädagogen und ohne Eingriff in die Sprache selbst erreichen können.
Zur Laut-Buchstaben-Zuordnung
„KRITIK
Besonders anfänglich, d. h. nach Bekanntwerden der Neuregelung, wurde verschiedentlich die Rücknahme einiger neuer Schreibungen wie nummerieren, behände oder Tollpatsch gefordert.
DISKUSSION
In ihrem ersten Bericht hatte die Kommission erwogen in einigen wenigen Fällen die alte Schreibung wenigstens als Variantenschreibung noch weiterhin zuzulassen. Inzwischen ist die Kritik an den neuen Schreibungen, die das Prinzip der Stammschreibung und damit die Systematik stärken, stark abgeflaut und taucht nur noch sehr vereinzelt auf. Ganz offensichtlich spielt – wie innerhalb so kurzer Zeit schon festzustellen ist – hier die Gewöhnung eine große Rolle. Unabhängig von allen linguistischen oder nicht-linguistischen Argumenten ist – wie Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen – eine gewisse Zeit vonnöten, gespeicherte Schreibschemata durch neue zu ersetzen. Die Etablierung von Neumotivierungen ermöglicht ein richtiges Schreiben auch für all jene, die nicht über sprachhistorische Kenntnisse verfügen, und liegt also im Interesse der breiten Öffentlichkeit.“
Hier geht es um die ausschließlich von dem führenden Reformer Augst eingeführten etymologisierenden und volksetymologischen Schreibweisen, die vonAnfang an nicht etwa als zulässige Varianten, sondern als obligatorisch präsentiert wurden – wohl in der Annahme, daß andernfalls niemand sich dann halten würde. ie sind im einzelnen von sehr unterschiedlicher Qualität. So kann man in der Tat zu etymologisch richtigem bleuen (einbleuen usw., zu Bleuel, Pleuelstange) schon seit geraumer Zeit die volksetymologische Variante bläuen finden (wohl wegen der blauen Flecken). Das könnte allenfalls zugelassen, aber keinesfalls vorgeschrieben werden, so daß nun gerade der sprachkundige Schreiber einen „Fehler“ macht. Dasselbe gilt für Zierrat (wie Hausrat) statt Zierat (wie Heimat). Hingegen ist behende in tausend Jahren Sprachgeschichte so gut wie niemals anders als mit e geschrieben worden, weil der Zusammenhang mit Hand längst aus dem Bewußtsein geschwunden war. Das zeigt sich auch an Wendungen wie behenden Schrittes usw. Es ist nicht einzusehen, wieso die Neuschreibung „richtiges Schreiben auch für all jene, die nicht über sprachhistorische Kenntnisse verfügen“, ermöglichen soll. Noch deutlicher wird die rückwärtsgewandte Denkweise der Reformer in der Veränderung von Stendelwurz zu Ständelwurz. Hier hat Augst nämlich den alten volksmedizinischen Glauben ausgegraben, daß diese Orchideenart erektionsfördernd wirke und daher eigentlich mit ä (wie Ständer) zu schreiben sei. Das Duden-Universalwörterbuch ist stillschweigend zu Stendelwurz zurückgekehrt, obwohl die Neuschreibung als Variante ausdrücklich im amtlichen Wörterverzeichnis steht. Auf weitere Beispiele (schnäuzen, Tollpatsch usw.) kann verzichtet werden. Der vierte Bericht beharrt darauf, die Augstschen Erfindungen beizubehalten und sogar fast ausnahmslos obligatorisch vorzuschreiben. Wenn die Diskussion um diese Dinge abgeflaut ist, dann liegt das daran, daß außer dem hundertmal Gesagten nicht viel zu sagen bleibt.
Die Kommission behauptet, analog zu neuschreiblichem Tipp und Stopp seien auch Topp und andere Eindeutschungen gefordert worden. Sie fährt fort:
„Schreibungen wie Topp/topp, Shopp, Popp oder Stripp würden einen Schritt in Richtung Systematisierung bedeuten. An die Stelle bisheriger Einzelfestlegungen würde weit gehende Regelhaftigkeit treten. Mit doppeltem Konsonantenbuchstaben könnte man dann alle einsilbigen Substantive schreiben, die verwandte Wörter mit einer solchen Schreibung neben sich haben (also dann auch Popp wegen poppig, Chatt wegen chatten usw.).
Gegen eine derartige Regelung spricht, dass eine solche forcierte grafische Assimilation auch einige Fremdwörter betreffen würde, die zurzeit eine hohe Gebrauchsfrequenz aufweisen ohne Anzeichen der Assimilation erkennen zu lassen, was vor allem damit zusammenhängt, dass sie auch international üblich sind (etwa Shop, Chat, Pop). Außerdem wird die Begründbarkeit der Schreibung mit Doppelkonsonantenbuchstaben in derartigen Fällen in der Wissenschaft zurzeit konträr diskutiert.
FAZIT
Die Kommission sieht hier – zumindest, was die einsilbigen Substantive aus dem Englischen angeht – möglichen Handlungsbedarf für die Zukunft, möchte zum jetzigen Zeitpunkt aber keine weiteren integrierten Schreibungen zur Diskussion stellen, sondern die Schreibentwicklung noch weiter beobachten und den Verlauf des wissenschaftlichen Disputs verfolgen.“
Hierzu muß man wissen, daß Eindeutschungen wie Hitt, Stripp usw. durchaus geplant waren, jedoch in den neunziger Jahren von den Kultusbehörden zurückgewiesen worden waren. Von einem guten Dutzend Neuschreibungen blieben nur Tipp und Mopp übrig (Stopp war teilweise schon vorher gebräuchlich). Gerade Tip ist jedoch international überaus gebräuchlich, so daß es keine Erleichterung ist , wenn etwa Englischschülern auf dem Umschlag ihres Übungsbuches „Lerntipps“ versprochen werden. Shopp, Hitt, Stripp usw. bleiben auf der Agenda („Handlungsbedarf für die Zukunft“) und werden zweifellos eingeführt werden, sobald die Kommission, wie von den Kultusministern vorgeschlagen, allein über Neuschreibungen entscheiden kann.
„Zu Irritationen hat die für die Schreibenden bisweilen schwer durchschaubare Kennzeichnung von Vorzugs- und Nebenvarianten (z. B. Biografie als Hauptvariante gegenüber Biographie, aber Geographie als Hauptvariante gegenüber Geografie) geführt.“
Das vor Jahrzehnten entwickelte Konzept der „gezielten Variantenführung“ wird einerseits aufgegeben. Die unterschiedlichen Kennzeichnungen im amtlichen Wörterverzeichnis waren in der Tat „schwer durchschaubar“, nämlich offenbar willkürlich. Ihr Status war zudem völlig unklar, denn sogar die Reformer selbst benutzten teilweise die „Nebenvariante“ (z. B. Orthografie). Andererseits soll die eingedeutschte Variante im Regelwerk künftig an erster Stelle angeführt werden – was jedoch die Wörterbuchredaktionen zu nichts verpflichtet. In der Reihenfolge schlägt sich der Wunsch der Kommission nieder, die Eindeutschung zu beschleunigen. In klarem Widerspruch dazu steht die Absicht, „den Prozess der Integration vorurteilsfrei zu beobachten, ihn also nicht vorzubestimmen“. Auch in der Zusammenfassung am Ende des Berichts wird der Widerspruch zwischen Beobachtung und Lenkungsanspruch nicht aufgelöst. Jedenfalls müssen die Wörterbücher das entsprechende Markierungs- und Verweissystem beseitigen. Im Österreichischen Wörterbuch (s. Anhang zum vierten Bericht) werden die erheblichen Folgen dieser Maßnahme bereits sichtbar.
Im amtlichen Regelwerk ist übrigens nicht klar, ob Haupt- und Nebenvarianten nur bei Fremdswörtern vorgesehen sind (s. meinen Kritischen Kommentar). Sogar die Schweizer Berater haben offenbar angenommen, sie seien auch für heimische Wörter vorgesehen. Dem widerspricht nun die Kommssion in ihrer Zusammenfassung:
„In der schweizerischen Stellungnahme heißt es: «Was den Einzelfall -fach betrifft, so wurde insbesondere von den Vertretern der Medien und der Verwaltung empfohlen, die Schreibung mit Bindestrich zur Hauptvariante zu machen.» Da es bei heimischen Wörtern keine Unterscheidung von Haupt- und Nebenvarianten gibt, sieht die Kommission in diesem Fall keinen Bedarf, ihren Vorschlag zu verändern.“
Zur Getrennt- und Zusammenschreibung
Die Kommission erkennt an, daß die Liste von Partikeln, die mit dem Verb zusammengeschrieben werden müssen („trennbare Verben“), unvollständig ist. Im ersten Bericht hatte sie schon einmal vorgeschlagen, diese Liste überhaupt zu öffnen. Nun soll es doch bei einer geschlossenen Liste bleiben, es werden aber 13 Partikeln und einige verkürzte Varianten hinzugefügt.
„Um den Charakter einer geschlossenen Liste zu gewährleisten, müsste die Liste um die folgenden fehlenden Partikeln bzw. Partikelvarianten ergänzt werden: dahinter-, d(a)rauf-, d(a)rauflos-, d(a)rin-, d(a)rüber-, d(a)rum-, d(a)runter-, davor-, draus-, hinter-, hinterdrein-, nebenher-, vornüber-.“
Diese Liste ist schwer zu verstehen, denn die verkürzten Formen drauf- usw. waren ja bereits in der originalen Partikelliste des amtlichen Regeltextes enthalten. Verglichen mit dem Rechtschreibduden von 1991 ergeben sich folgende Ergänzungen:
dahinterklemmen
dahinterknien
dahinterstecken
dahinterstehen
daraufgehen (? im alten Duden keine Zusammenschreibung mit darauf)
*darauflosgehen (im alten Duden darauf losgehen)
darauffolgend
darin (? im alten Duden keine Zusammenschreibung mit darin)
darüberfahren
darübermachen
darüberschreiben
darüberstehen
drüber (? im alten Duden keine Beispiele, aber wohl aus darüber erschließbar)
darumkommen
darumlegen
darumstehen
drum (? im alten Duden keine Beispiele, aber wohl aus darum erschließbar)
darunterfallen
darunterliegen
drunter (? im alten Duden keine Beispiele, aber wohl aus darunter erschließbar)
davorhängen
davorliegen
davorschieben
davorstehen
draus (? im alten Duden keine Beispiele; DUW hat drausbringen, drauskommen)
hinterbringen ('nach hinten bringen')
hinteressen (mundartl. 'unwillig essen')
hinterhaken
hinterschlingen
hinterschlucken
hinterdreinlaufen (im alten Duden nur als Muster weiterer Verbindungen angegeben)
nebenherfahren
nebenhergehen
nebenherlaufen
vornüberbeugen
vornüberfallen
vornüberkippen
vornüberstürzen (im alten Duden als Muster für weitere Verbindungen angegeben)
Wichtiger als diese Einzeleinträge ist aber, daß es sich um ungemein produktive Muster handelt, nach denen Hunderte von Partikelverben gebildet werden. Ihre Wiederzulassung bedeutet daher schon mengenmäßig einen folgenreichen Eingriff.
Die seit 1996 vorgesehene Getrenntschreibung solcher Verben wird nunmehr falsch. Damit ist auch die Behauptung der Kommission und der Kultusministerien widerlegt:
„Durch die Änderungen werden bisherige Schreibweisen nicht falsch.“ (Beschlußvorlage der KMK vom 14. 1. 2004)
Das ist die unvermeidliche Folge, wenn man geschlossene Listen ändert.
Als „verlässliches Kriterium“ der Identifikation trennbarer Verben gegenüber adverbialen Fügungen wird die Nichtunterbrechbarkeit eingeführt: dabeisitzen vs. dabei (auf dem Stuhl) sitzen. Dies ist jedoch nur eines unter mehreren von der Kritik ausführlich begründeten Merkmalen und keineswegs so „verlässlich“, wie die Kommission meint. Besonders die Verbpartikel mit ist bekanntlich erweiterbar bzw. verschiebbar, aber auch zurück und einige andere, vgl.:
Schreiber hat Max Strauß oft mit auf Reisen genommen. (SZ 10.1.04)
Hier liegt zweifelsfrei das Partikelverb mitnehmen vor.
Zu § 34 E3 (3): Die willkürliche, völlig unverständliche obligatorische Getrenntschreibung von adjektivischen Verbzusätzen, die auf -ig, -isch oder -lich enden, wird weiterhin mit einer angeblichen Entsprechung zu Adverbialien gerechtfertigt: richtig stellen wie freundlich grüßen. Die beiden Typen von „Kombinationen“ (wie es vage heißt) sind ganz unvergleichbar, gerade nach dem grammatischen Maßstab, den die Kommission sonst überall zur Geltung bringen will. Deshalb kann auch von einer nunmehr geschaffenen „Ausnahmslosigkeit“ der Regel keine Rede sein, denn es gibt überhaupt keine Regel, die derart Unvergleichbares zusammenfaßt.
Zu § 34 (3), § 34 E3 (5), § 55 (4): Hier geht es um die Fälle
Leid tun
Not tun
Pleite gehen
Bankrott gehen
Kopf stehen
Eis laufen
Acht geben
Recht haben
Unrecht haben
Sie werden weiterhin unter dem Titel „Substantiv + Verb“ abgehandelt, obwohl der Fehler der Reform gerade darin besteht, daß es sich teilweise gar nicht um Substantive handelt. Die Kommission behauptet nun, „dass die Wortartzugehörigkeit bei einigen Bestandteilen nicht ohne weiteres klar ist.“ Sie räumt ein, daß neben Leid tun auch leidtun geschrieben werden könne (nicht aber leid tun, wie bisher üblich), versteigt sich aber zu der abenteuerlichen These:
„Der Bestandteil Leid bzw. leid in der Verbindung mit dem Verb tun ist hinsichtlich der Wortart grammatisch weder synchron noch diachron zu bestimmen.“
Jeder Germanist lernt im ersten Semester, spätestens bei der mittelhochdeutschen Lektüre, was für ein Wort leid ist; man kann es auch in allen besseren Wörterbüchern nachlesen. Es handelt sich um ein altes Adjektiv, das als solches nur noch in Dialekten gebräuchlich ist, adverbial im Komparativ leider vorliegt und genau parallel zu weh, wohl, gut mit tun verbunden wird. Die Großschreibung Leid tun (so Leid es mir tut) ist und bleibt grammatisch falsch. Die Analogie zu kundtun (ebd.) ist irrig, da kund hier ein Resultativzusatz ist.
In der Stellungnahme der Schweizer EDK wird die Neuschreibung leidtun abgelehnt, unter Hinweis auf wie leid es ihr tut wird für die bisherige Getrenntschreibung plädiert. Auch die Schweizer wagen es nicht, eindeutig auf die grammatikalische Verkehrtheit der Großschreibung Leid tun hinzuweisen. Ihr Vorschlag wird aber von der Kommission zurückgewiesen, die abschließend noch einmal ihren grammatikalischen Irrtum bekräftigt:
„...würde damit für einen Einzelfall eine Schreibung wiederbelebt, die es für diesen Typ (Substantiv + Verb) in der neuen Regelung nicht mehr gibt: Getrenntschreibung des Substantivs mit Kleinschreibung.“ (S. 52)
Dieser Satz wird nur verständlich, wenn man sich einer Maxime erinnert, die in der Vorgeschichte der Rechtschreibreform von dem österreichischen Ingenieur Eugen Wüster ersonnen wurde: „Entweder groß und getrennt oder klein und zusammen!“- Sie liegt der immer weiter getriebenen Großschreibung in der gegenwärtigen Reform zugrunde, obwohl sie gar nicht ausdrücklich in das amtliche Regelwerk eingegangen ist.
Pleite gehen und Bankrott gehen werden mit einer angeblichen Analogie zu Gefahr laufen und Schlange stehen gerechtfertigt. Die richtige Analogie wäre kaputt, verloren, verschütt, entzwei gehen (mit oder ohne Zusammenschreibung, das ist hier unwesentlich). Es handelt sich um einen adjektivischen Resultativzusatz. Mit Substantiven kann gehen nicht verbunden werden.
Das grammatisch falsche Recht bzw. Unrecht haben (wie Recht du doch hast!) soll offenbar beibehalten werden, es wird nicht nochmals erwähnt. Dasselbe gilt für Not tun und das archaisierende Acht geben. Im dritten Bericht war bereits erwogen worden, auch nottun zur Wahl zu stellen: „Die frühere Schreibung not tun (getrennt und klein) sollte nicht wiederbelebt werden.“ Ebenso pleitegehen oder Pleite gehen, aber nicht mehr pleite gehen; inacht nehmen oder in Acht nehmen, aber nicht mehr in acht nehmen usw. Das fragwürdige Verfahren, die bisher übliche Schreibweise zu verbieten und stattdessen zwei andere zur Wahl zu stellen, wird bekanntlich auch bei von seiten praktiziert. Dies gibt es nicht mehr, man hat nur die Wahl zwischen vonseiten und von Seiten.
Zu § 36 E2:
„Es ist als ein Hauptfehler der Neuregelung bezeichnet worden, für Verbindungen mit Partizipien automatisch ausschließlich Getrenntschreibung vorzusehen, wenn eine entsprechende Fügung im Infinitiv vorliegt, z. B. Zeit sparend wegen Zeit sparen, allein stehend wegen allein stehen.“
Diesen Hauptfehler räumt die Kommission ein.:
„Diese Regelung lässt die Komparierbarkeit der ganzen Verbindung in bestimmten Fällen außer Acht und trägt auch den sich aus der Substantivierung ergebenden Aspekten nicht ausreichend Rechnung.
Die Steigerungsmöglichkeit des Ganzen bringt aber zwangsläufig auch bei Getrenntschreibung des Infinitivs die entsprechende zusammengeschriebene Form des Positivs vom Partizip als regelkonforme Schreibungsvariante mit sich, also z. B. zeitsparend wegen ein zeitsparenderes Verfahren, das zeitsparendste Verfahren; schwerwiegend wegen schwerwiegendere Vorwürfe, die schwerwiegendsten Vorwürfe.Die Kommission unterbreitet einen Lösungsvorschlag, der versucht, die Schreibung von Verbindungen mit Partizipien durch eine Erweiterung von § 36 E2 zu flexibilisieren.
Der Vorschlag nimmt die Kritik wie folgt auf: Es wird explizit vorgeführt, dass aus der Regelstruktur des Regelwerks für komparierbare Verbindungen zwei Schreibungen logisch ableitbar sind und dass beide Schreibungen auch tatsächlich zugelassen sind (z. B. Zeit sparend/zeitsparend).
Für nichtkomparierbare Fügungen lässt sich im Unterschied zu den komparierbaren aus dem amtlichen Regelwerk nur eine einzige Schreibung ableiten, also z. B. nur allein stehend (und nicht auch alleinstehend). Im Wörterverzeichnis sind in einigen Fällen auch Varianten mit Zusammenschreibung aufgenommen worden, und zwar unter Berufung auf § 37(2), wo die Zusammenschreibung von Substantivierungen behandelt wird. Das führt zu Schreibungen wie den folgenden:
das Kleingedruckte oder das klein Gedruckte, aber attributiv nur: das klein gedruckte Werk, die Alleinstehenden oder die allein Stehenden, aber attributiv nur: die allein stehenden Personen.
Dass in Verbindungen wie die Alleinstehenden oder das Kleingedruckte eine Neigung zur Zusammenschreibung besteht, hat aber nichts mit Substantivierung zu tun, es ist vielmehr Univerbierung schon im zugrunde liegenden attributiven Gebrauch anzunehmen. Dementsprechend wird eine zusätzliche Erweiterung von § 36 E2 vorgeschlagen, die auch für nichtkomparierbare partizipiale Verbindungen – unabhängig vom syntaktischen Kontext – die Zusammenschreibung als Variante zulässt.
Diese weit gehende Freigabe der Schreibung bei Verbindungen mit Partizip bringt im Ergebnis für die Schreibenden eine gewisse Erleichterung durch hinzugewonnenen Entscheidungsspielraum, zwingt aber andererseits die Wörterbuchredaktionen, alle einschlägigen Fälle an mehreren Stellen aufzuführen.“
Die Kommission macht sich also einige, wenn auch keineswegs alle Argumente der Kritiker zu eigen, vor allem die gesamthafte Steigerbarkeit. Nach jahrelangem Sträuben gibt sie zu, daß nicht nur die komparierten Formen (zeitsparender), sondern bereits der zugehörige Positiv (zeitsparend) zusammengeschrieben wird (neben dem anders gebauten Syntagma [viel] Zeit sparend). Andere Argumente, wie der Hinweis auf den prädikativen Gebrauch, werden nicht aufgegriffen, neuerdings verbreitete Fehlschreibungen wie Das Verfahren ist Zeit sparend also nicht ausgeschlossen. Der langjährige Vorsitzende der Kommission, Gerhard Augst, rühmte laut Zeitungsberichten sogar, nun sei die Unterscheidung die Frau ist alleinstehend vs. das Haus ist allein stehend wieder möglich (Schwäbische Zeitung 5. 2. 2004) – ohne zu bemerken, daß der zweite Satz grammatisch falsch ist. Der dritte Bericht war hier schon weiter.
Daß die Kommission das Argument bezüglich des prädikativen Gebrauchs bis heute nicht verstanden hat, zeigt sich in einem grammatischen Schnitzer, der ihr an anderer Stelle unterläuft:
„...dass die Umsetzung der Rechtschreibregelung in den Korrekturprogrammen diverser Softwareproduzenten nicht zufrieden stellend (!) sei.“ (S. 55)
Hier muß es zweifellos zufriedenstellend heißen, das auch in einigen neuen Wörterbüchern (z. B. Duden Universalwörterbuch) entgegen dem amtlichen Regelwerk wiederhergestellt ist. Die Kommission gebraucht auch, wie im Zitat erkennbar, durchweg die Getrenntschreibung weit gehende Freigabe usw., was zumindest linkisch wirkt.
Die Kommission kommt im weiteren Verlauf zu der Einsicht, daß nicht nur komparierbare Zusammensetzungen, sondern auch andere wie kleingedruckt, alleinstehend, alleinerziehend, ratsuchend wiederhergestellt werden müssen. Die lange Zeit von ihr verfochtene These, Großschreibung trete erst bei Substantivierung (Ratsuchende) ein, wird ausdrücklich widerrufen. Darauf hatten die Schweizer Kommissionsmitglieder Gallmann und Sitta schon seit 1996 gedrängt.
Bedenkt man, daß diese Korrektur auch die vielkritisierten Neuschreibungen Eisen verarbeitend, Erdöl produzierend, Wasser abweisend usw. erfaßt, so erkennt man einen durchgreifenden Änderungsbedarf in den reformierten Wörterbüchern.
Schreibung mit Bindestrich
Zu § 40 (3), § 41: Für Formen wie 8fach wird analog zur Neuschreibung 8-mal nun eine Variante mit Bindestrich vorgesehen: 8-fach. Als Grund gibt die Kommission an, daß „der Wortbestandteil einer Grauzone zwischen unselbstständigem Grundmorphem und Suffix zuzuordnen“ sei.
Im amtlichen Regeltext kommt allerdings weder der Begriff „Morphem“ noch gar der des „Grundmorphems“ vor. Die Neuregelung des Bindestrichs war bisher ausschließlich auf den Gegensatz von Zusammensetzung und Ableitung aufgebaut. Solange die neuartige Begrifflichkeit der „unselbstständigen Grundmorpheme“ nicht definiert ist, läßt sich nicht absehen, ob es mit -fach sein Bewenden haben kann.
Die Kommission will außerdem einen Fehler beheben, den sie als mißverständliche Formulierung darstellt. Diese Formulierung habe dazu geführt,
„dass viele gedacht haben, dass eine doch relativ übersichtliche Verbindung wie das Inkrafttreten neu nur noch mit Bindestrichen geschrieben werden dürfte: das In-Kraft-Treten.“
Zu diesen vielen gehörte immerhin die Dudenredaktion, trotz intensiver Beratungsgespräche mit der Kommission.
Zum Bindestrich werden noch eine Reihe weiterer Änderungen vorgeschlagen, die aber mehr redaktioneller Art und linguistisch uninteressant sind. Es bleibt übrigens bei der Umstimmigkeit, daß Erstglieder auf -ig, -isch und -lich mit Bindestrich in Zusammensetzungen eingehen (wissenschaftlich-technisch), im übrigen aber nach § 36 von Zusammensetzungen ausgeschlossen sind.
Zur Groß- und Kleinschreibung
„Der Vorwurf der Inkonsequenz der Neuregelung bezieht sich vor allem auf die Kleinschreibung von flektierten Adjektiven in festen Verbindungen aus Präposition und dekliniertem Adjektiv vom Typ vor kurzem, ohne weiteres.
DISKUSSION
Die Kleinschreibung wurde damit begründet, dass diese Verbindungen solchen ohne Flexion nahe kommen. Da substantivierte Adjektive aber auch ohne Artikel und nur mit Präposition auftreten können (z. B. Er steht Neuem misstrauisch gegenüber; sie bevorzugt Süßes; wir verpflegen uns mit Süßem und Salzigem), kann man auch Adjektive in festen Verbindungen aus Präposition und Adjektiv als Substantivierungen auffassen, sofern ihr substantivischer Status nach dem für die Neuregelung maßgebenden morphosyntaktischen Kriterium erkennbar ist, was sich in der Flexion des Adjektivs ausdrückt.
Deshalb kann man diese Adjektive nach § 57(1) auch großschreiben. Es handelt sich um etwa fünfzehn Wendungen dieses Typs, die allerdings in Texten teilweise eine relativ hohe Frequenz aufweisen, z. B. vor kurzem, seit kurzem, binnen kurzem, seit langem,vor langem, seit längerem, vor längerem, von nahem, von neuem, seit neuestem, von weitem, bei weitem, bis auf weiteres, ohne weiteres.
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Th. Ickler
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