Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Darmstadt, im Februar 1999
Vorschlag zur Neuregelung der Orthographie
Angesichts des nach wie vor lebhaften Streits um die künftige deutsche Rechtschreibung sowie der weiterhin bestehenden großen Unsicherheit legt die Deutsche Akademie hier einen Vorschlag vor, der zum Ziel hat, die Einheit der deutschen Rechtschreibung wiederherzustellen.
Wir teilen viele der Einwände gegen die Reform. Wir finden, daß dem Staat die Legitimation zu tieferen Eingriffen in die Rechtschreibung, wie sie in der Neuregelung zum Teil versucht werden, fehlt. Wir meinen, daß die seit Jahren unvermindert dokumentierte Ablehnung der Reform durch mehr als zwei Drittel der Wählerschaft, wie sie auch im Volksentscheid in Schleswig-Holstein zum Ausdruck kam, hätte respektiert werden müssen. Und wir haben Verständnis dafür, daß man sich als Bürger durch diesen Oktroi, dessen Nutzen überdies zumindest zweifelhaft ist, verletzt fühlt.
Doch finden wir auch, daß die Einheit der deutschen Rechtschreibung hoch zu schätzen ist, eine Einheit, die nie vollständig gegeben sein kann, bisher aber sehr weitgehend verwirklicht war. Und wir meinen, daß das Problem der Rechtschreibung nicht weiterhin so viel Aufmerksamkeit und Kraft absorbieren sollte wie in den letzten Jahren; sei es im Streit, sei es in der Ratlosigkeit vieler Schreibender, nicht zuletzt von Lehrern und Schülern, angesichts zahlreicher Widersprüche und Mängel der neuen Regeln. Es ist Zeit für einen Versuch, dem Konflikt ein Ende zu setzen.
Unser Vorschlag geht angesichts der Machtverhältnisse von der Neuregelung aus und übernimmt von ihr nicht nur, was sinnvoll, sondern auch, was ohne nennenswerten Schaden hinnehmbar ist. Andererseits bezeichnet er aber das, was nicht akzeptiert werden kann, was also zurückgebaut werden muß.
Die deutsche Rechtschreibung ist sich auch in unserm Jahrhundert nie ganz gleichgeblieben. Stets war es notwendig, die Schreibnorm bei einzelnen Wörtern an Veränderungen des Schreibgebrauchs anzupassen. Freilich waren diese Veränderungen von einer Auflage des Dudens zur andern sehr gering; sie richteten sich im allgemeinen nach weitverbreiteten beobachtbaren Tendenzen in der Schreibgemeinschaft, die, im Zweifel eher zögernd, von Fall zu Fall bestätigt wurden.
Angesichts einiger Widersprüchlichkeiten und Spitzfindigkeiten, die sich im Laufe der Zeit in den Duden eingeschlichen haben, kann es geboten sein, einmal etwas mehr zu tun, nämlich in einem Akt diese Widersprüche und Spitzfindigkeiten auszukämmen und auch die Regeln neu zu formulieren. In diesem Sinn enthält die Reform nach unserm Urteil durchaus brauchbare Ansätze. Es wäre falsch, sie nicht zu übernehmen.
Doch halten wir es für unangebracht, der Reform auch dort zu folgen, wo sie gravierende Mängel aufweist, nicht zuletzt deswegen, weil das wenig Aussicht hätte, angenommen zu werden. Wohlvertraute Wörter (wie Handvoll) können nicht abgeschafft (und aus den Lexika, schon gar nicht aus denen für Fremdsprachige eliminiert) werden. Sinnvolle Ausdrucksmöglichkeiten, ja Wortbildungsmuster dürfen nicht aufgegeben werden. Unnötige Widersprüchlichkeiten, die die Reform ihrerseits hervorbringt, sollten beseitigt, bisherige Freiheiten der Schreibung dort aufrechterhalten werden, wo neue Festlegungen unsinnig wären. Auch evidente Dummheiten muß sich eine Sprachgemeinschaft vom Staat nicht auferlegen lassen. Schließlich sollte die Schrift nicht unnötig die Gebote der Ästhetik und Leserfreundlichkeit verletzen.
Der Vorschlag, der sich auf diese Weise ergibt, übertrifft zwar das Ausmaß der Veränderungen, die gewöhnlich von einer Auflage des Dudens zur andern vorgenommen worden sind. Doch halten sie sich im Rahmen vorsichtiger Korrekturen und stehen nicht im Widerspruch zu langfristigen Tendenzen des Schreibgebrauchs. Insbesondere sind sie nicht so groß, daß man sich daraufhin veranlaßt sehen könnte, vorliegende Texte (Schöne Literatur, wissenschaftliche Abhandlungen, Gesetzestexte und Kommentare etc.) bei Neuauflagen zu verändern.
Die größte Zahl von Veränderungen gemäß der Reform bringt der Wechsel von ß zu ss nach kurzem Vokal mit sich. Das wäre hinnehmbar. Übernimmt man diese Regelung, so würde sich in neu gesetzten Schulbüchern eine große Zahl von Korrekturen erübrigen, andererseits wäre es nicht nötig, die nach der herkömmlichen Schreibung gesetzten Bücher bei Neuauflagen zu verändern. Denn das Nebeneinander der deutschen ß- und der noch weitergehenden schweizerischen ss-Schreibung hat ja auch bisher keine größeren Schwierigkeiten bereitet. Hier müßte sich also zwar der Schreibgebrauch in eher kurzer Frist ändern, alles übrige aber könnte man der Zeit überlassen.
Im übrigen aber sind die vorgeschlagenen Neuerungen so geringfügig, daß sie, was das alltägliche Schreiben angeht, kaum über die ohnehin stets gegebene Variationsbreite hinausgehen. Zudem betreffen sie weithin Fälle, über die schon bisher keine völlige Klarheit bestand.
Daher hoffen wir, daß unser Vorschlag von den verschiedensten Seiten übernommen werden kann. Diese von der Sache her verantwortbare Lösung sollte sowohl dem Grundanliegen einer Reform wie den Interessen der Leser und Schreiber, aber auch denen der Verlage und nicht zuletzt der Steuerzahler gerecht werden.
Wir empfehlen, die neue amtliche Schreibung, so weit sie schon eingeführt ist, in kurzer Frist im Sinne dieses Vorschlags zu revidieren. Damit würden vielerlei ganz unnütze Irritationen erspart, weitere Auseinandersetzungen und Volksbegehren erübrigt und das Erlernen der komplizierten Teile der Rechtschreibung, das erfahrungsgemäß vor allem anhand von Lektüre erfolgt, erleichtert. Und es würde eine empfindliche Störung der Einheit der deutschen Rechtschreibung beseitigt.
Der Text richtet sich aber vor allem an die Öffentlichkeit, Zeitungen, Verlage, nicht zuletzt die Beamten und Angestellten von Behörden, die vor der Frage stehen, wie weit sie die hoheitlich angeordnete, in sich vielfach widersprüchliche, wenig sinnvolle, also nicht leicht anzueignende neue Schreibung übernehmen sollen.
Insgesamt ist zu berücksichtigen, daß die neuen amtlichen Regelungen nur begrenzte Bereiche der Rechtschreibung betreffen, dort freilich zum Teil einschneidend sind. Der Text nimmt auf fast alle Fragen Bezug, die umstritten sind. Er folgt im Aufbau dem neuen Regelwerk. Gegebenenfalls korrigiert er dessen Anordnungen respektive schlägt er andere Lösungen vor.
So wie der Vorschlag jetzt vorgelegt wird, enthält er das Konzept. Es soll demnächst durch eine Wörterliste ergänzt werden, aus der hervorgeht, welche der vorgesehenen Neuschreibungen zu übernehmen sind und welche nicht. Wir halten es aber für richtig, dieses Konzept schon jetzt zu veröffentlichen, um eine Fortsetzung des Streits, eine Verlängerung der Ratlosigkeit und vorschnelle Umstellungen auf eine Schreibung, die kaum einem einleuchtet, vermeidbar zu machen.
1. Buchstabenschreibung
1.1 Einzelfälle
Wenn die Neuregelung die Schreibung einzelner Wörter ändert, wird das zumeist mit dem Hinweis auf die Stärkung der Grundregeln gerechtfertigt. Man nimmt in Anspruch, auf diese Weise Ausnahmen zu beseitigen. Es geht um drei Gruppen von Änderungen.
1. Analogie zu andern Wörtern. Hierher gehören Fälle wie Känguru statt Känguruh analog zu Marabu, Kakadu oder rau statt rauh analog zu blau, genau. Diese Fälle sind selten. Man hat sogar Mühe, weitere wirklich häufig verwendete Wörter zu finden, deren Schreibung geändert werden soll (außer rauh gibt es im Kernwortschatz keine Wörter, die auf auh enden; ein Unterschied in der Aussprache zwischen rauhes und blaues ist nicht nachweisbar). Es wird vorgeschlagen, die neuen Schreibungen zuzulassen.
2. Sichtbarmachung von Wortverwandtschaften. Diese Gruppe umfaßt weniger als ein Dutzend Änderungen. Typische Fälle sind Ass statt As wegen Asse; behände statt behende, Bändel, Gämse, Stängel, überschwänglich. Hier sind Unterschiede zu machen. Während gegen Ass und überschwänglich nichts einzuwenden ist, bleibt eine Wiederbelebung etymologischer Bezüge wie bei behände oder Stängel problematisch. Für die meisten naiven Schreiber besteht der Zusammenhang nicht mehr. Folglich sollte man Ass und überschwänglich übernehmen, die anderen Änderungen könnten allenfalls als Nebenvarianten zur Wahl gestellt werden. Für die Einzelfälle ist auf die Wörterliste zu verweisen.
3. Herstellung von Wortverwandtschaften. Etwas zahlreicher sind die Fälle, in denen Bezüge zwischen Wörtern durch Neuschreibungen erst hergestellt werden. Die aufeinander bezogenen Wörter haben etymologisch entweder nichts miteinander zu tun (die berüchtigten volksetymologischen Schreibungen vom Schlage Tollpatsch, Quäntchen, belämmert, schnäuzen) oder sie sind nur weitläufig verwandt wie insbesondere Fremdwortstämme, die zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Wegen ins Deutsche gelangt und unterschiedlich weit integriert worden sind. Beispiele solcher Neuschreibungen sind platzieren, nummerieren, Stuckatur. Einige weitere wie Packet wurden im letzten Moment verhindert.
Die meisten dieser Änderungen, insbesondere die Volksetymologien, sind abzulehnen. Bei vielen von ihnen wird der normale Schreiber überhaupt keine Beziehung sehen (etwa zwischen Tolpatsch und toll), andere sind evident falsch (wer schneuzt sich schon durch die Schnauze, die Menschen ja eigentlich auch gar nicht haben?). In Einzelfällen, etwa platzieren, nummerieren, könnte man die neuen Schreibungen neben den alten als Nebenvarianten zur Wahl stellen und abwarten, welche sich im allgemeinen Gebrauch durchsetzen. Mit anderen Worten: Eine Änderung wäre nur dann zulässig, wenn sie dem Usus folgte. Die Beweislast läge dann bei denen, die verändern wollen. Es geht aber nicht an, künftigem Usus Vorgaben zu machen. Zu Einzelfällen (etwa Quentchen, Mesner) ist auf die Wörterliste zu verweisen.
4. Neuschreibungen wie Mopp, Tipp und Karamell anstelle von Mop, Tip und Karamel sind abzulehnen. Sie verstoßen gegen die im Deutschen gängige Regel, daß Doppelkonsonantbuchstaben ihre Quelle in der Abfolge von betonter und unbetonter Silbe haben. Die Schreibung Boss mit ss ist korrekt, weil die Pluralform zwei Silben hat (Bosse). Bei Mop und Tip ist das nicht der Fall. Es heißt die Tips, nicht die Tippe.
1.2 Wortstämme
1. ß. Die Ersetzung des ß nach Kurzvokalbuchstaben durch ss ist weder systematisch geboten noch ist sie unproblematisch, was das Schreibenlernen betrifft. Sie führt nachweislich dazu, daß die Schüler dazu neigen, nur noch ss zu schreiben. Es finden sich vermehrt Schreibungen vom Typ Landstrasse, Blumenstrauss, d.h. hier tritt ein neuer Rechtschreibfehler auf. Andererseits ist die Ersetzung des ß durch ss gewissermaßen das Herzstück der Reform, sie ist ihr sichtbarster Bestandteil und im großen und ganzen systematisch. Wer sie akzeptiert, gibt zu erkennen, daß er die Neuregelung nicht grundsätzlich bekämpft. Das Umgekehrte gilt ebenfalls. Im Interesse einer Beilegung des Streites, zugunsten einer Wiederherstellung des Rechtschreibfriedens wird vorgeschlagen, die Änderung zu übernehmen. Es sollte nur eine Ausnahme gemacht werden: in Fällen, wo auf eine mit ss auslaufende Silbe eine solche folgt, die mit s beginnt, wird ß geschrieben (z.B. Mißstand statt Missstand, Streßsituation statt Stresssituation). (vgl. 2)
2. Betttuch. Die Verdreifachung von Konsonantbuchstaben anstelle der bisherigen Beschränkung auf zwei Buchstaben ist nicht nur überflüssig, sondern sie führt auch zu teilweise grotesken Wortbildern (Schlammmasse, Schwimmmeister). Da die Fälle häufiger vorkommen und zum großen Teil das Auge verletzen, sollte diese Regel nicht übernommen werden. (vgl. 4)
3. Rohheit. Die Beibehaltung des h am Ende eines Stammes vor -heit (Jähheit, Rohheit) betrifft weniger als ein halbes Dutzend Wörter. Sie kann ohne größeren Schaden hingenommen werden.
4. geschrien. Noch seltener sind Änderungen, die das Weglassen eines e nach ie oder ee fordern, also jetzt geschrien statt geschrieen. Die Neuschreibung ist analog zu die Knie, die Seen. Sie ist durchaus sinnvoll (genau wie die Ablehnung unnützer Verdreifachungen von Konsonanten nach 2.)
5. potenziell/potentiell. Vor Fremdwortendungen wie iell, ial, iös darf künftig mit z und mit t geschrieben werden, wenn eine entsprechende morphologische Basis vorhanden ist. Wegen Potenz und potent also sowohl potenziell als auch potentiell. Gegen diese Regelung ist nichts einzuwenden.
1.3 Bemerkung zur Fremdwortschreibung
Die Neuerungen in der Fremdwortschreibung sind insgesamt weniger dramatisch als häufig angenommen wird. Nicht selten werden der Neuregelung Formen zugeschrieben, die es schon lange gibt (Majonäse, Frisör) oder die sie nicht vorsieht (Filosofie, Fysik oder gar Fysick). Die Polemik hat vieles übertrieben.
Fast durchweg werden Neuschreibungen bei den Fremdwörtern neben den bisher erlaubten eingeführt, d.h. es wird keine der bisher möglichen Schreibungen verboten. Die Änderungen selbst sind überwiegend unproblematisch (Typ Kreme, Panter), wenn auch teilweise willkürlich.
Problematisch bezüglich der Leseaussprache sind teilintegrierte Schreibungen wie Bravur, Ketschup statt der bisher allein möglichen Bravour, Ketchup. Solche Neuerungen können ungewollte Folgen für die Aussprache haben.
Ein Problem von anderer Art stellen die schon erwähnten Eindeutschungen wie Tipp, Mopp, Krepp (für Crêpe) dar. Warum die Reform überhaupt zum Anlaß genommen wird, über die in den Rechtschreibwörterbüchern stets präsente Integrationsbewegung hinaus Schreibungen neu zu regeln, ist nicht bekannt. Manches ist im Zeitalter zunehmender internationaler Begegnungen geradezu kontraproduktiv und sollte sich durch den Respekt gegenüber den anderen Sprachen verbieten (Krepp, Spagetti).
Wir empfehlen, neue Schreibungen nur zu übernehmen, wenn sie nachweislich durch
den Schreibgebrauch gerechtfertigt sind. Zur Klärung der Einzelfälle wird auf das Wörterverzeichnis verwiesen.
Ein strukturelles Problem für die Neuregelung der Fremdwortschreibung besteht in der Verallgemeinerung der wenigen im amtlichen Wörterverzeichnis enthaltenen Beispielschreibungen (insgesamt 12.000 Einträge) auf den Gesamtwortschatz eines Rechtschreibwörterbuches (insgesamt 120.000 Einträge). Die Neuregelung gibt keinerlei Auskunft darüber, welche von den Zehntausenden von Fremdwörtern für den Beispielwortschatz herausgegriffen wurden.
Trotz alledem: Das Hauptproblem für eine konsequente Durchregelung der Fremdwortschreibung die um jeden Preis vermieden werden muß liegt weniger bei den Buchstaben als bei der Wortgliederung (Getrennt- und Zusammenschreibung, s. 2.2).
2. Wortgliederung
2.1 Silbentrennung
Die wichtigsten Änderungen sind die Trennbarkeit des st (Küs-te) und die Nichttrennbarkeit des ck (Ba-cke). Außerdem hat man erlaubt, daß bei Fremdwörtern Verbindungen von Konsonantbuchstaben mit l, n oder r getrennt werden. Daraus ergeben sich vielzitierte unsinnige Trennungen wie ext-ra, Kast-rat, Lust-ration, Hyd-rant).
Die Trennbarkeit des s-t und die Nichttrennbarkeit von c-k sind ohne weiteres akzeptabel. Dagegen ist die alte Regel zur Trennung der Fremdwörter wieder herzustellen.
Regelungen zur Silbentrennung sind von einiger Bedeutung für die Wörterbuchmacher. Unter ihnen wird vor allem lebhaft darüber diskutiert, ob sämtliche Trennmöglichkeiten anzugeben seien. Die orthographische Norm sollte indes eher weniger Festlegungen zur Silbentrennung enthalten. Je mehr man regelt, desto mehr Problemfälle treten in Erscheinung, die für die Schreib-, teilweise auch für die Lesepraxis so gut wie bedeutungslos sind.
2.2 Getrennt- und Zusammenschreibung
Nur was zusammengeschrieben wird, ist im allgemeinen ein Wort. Was getrennt geschrieben wird, kann eine Wortgruppe sein. Beispielsweise handelt es sich bei der Schreibweise mit Hilfe um eine Wortgruppe aus Präposition und Substantiv, bei der Schreibweise mithilfe um ein Wort. Man muß sich lediglich diesen trivialen Tatbestand vor Augen führen, um zu verstehen, warum es bei der Neuregelung der Getrennt- und Zusammenschreibung besonders viele Probleme gibt.
Die Neuregelung sieht wesentlich mehr Getrenntschreibungen vor, als wir sie bisher hatten, d.h. sie macht in zahlreichen Fällen aus einem Wort zwei Wörter. Ein Wort wie auseinandersetzen verschwindet, wenn nur noch auseinander setzen geschrieben werden darf. Daß man sich nicht unbedingt auseinander setzt, wenn man sich auseinandersetzt, geht dabei verloren. Dieser bedeutsamen Tatsache ist von der Neuregelung nicht genügend Rechnung getragen worden. Noch heute meinen einige ihrer Verfechter, es sei doch zweitrangig, ob man ein Wort getrennt oder zusammen schreibt. So ist es dazu gekommen, daß dem Deutschen in der Schrift, damit aber auch im Bewußtsein der Sprechenden mehrere hundert Wörter verloren gehen sollen.
Hinzu kommt, daß manchmal schwer oder gar nicht zu entscheiden ist, ob etwas nur ein Wort oder nur eine Wortgruppe oder beides sein kann. Deshalb hat es in der bisherigen Rechtschreibung gerade hier viele Freiheiten gegeben, d.h. Unentschiedenheiten, scheinbare Inkonsequenzen und darüber hinaus große Bereiche ohne Regelung.
Die Neuregelung möchte diese Bereiche eingrenzen, um Schreibunsicherheiten zu beseitigen. Den Reformern ist nicht oder zu spät klar geworden, daß es sich nicht um unklare Regeln respektive Schreibunsicherheiten, sondern um sprachliche Varianten oder aber um die Möglichkeit eines differenzierten Wortgebrauchs handelt.
Das Nebeneinander von einem Wort (Zusammenschreibung) und zwei Wörtern (Getrenntschreibung) kann unterschiedliche Ursachen haben. So kommt es vor, daß Wörter, die im laufenden Text häufig gemeinsam und in derselben Abfolge auftreten, zu einem Wort zusammenwachsen. Man spricht dann von 'Univerbierung'. In der Phase des Zusammenwachsens sollten beide Schreibweisen zugelassen werden. Bekannte Beispiele sind Fügungen wie infrage/in Frage, zutage/zu Tage und komplexe Präpositionen wie anstatt/an Statt, aufgrund/auf Grund. Die Neuregelung bezieht hier einige Einheiten mehr ein, u.a. auch die Konjunktion sodass neben so dass. Das ist akzeptabel.
Anders zu bewerten sind Fälle, in denen die Neuregelung versucht, im Gang befindliche Prozesse der Univerbierung aufzuhalten oder zurückzudrehen wie bei so genannt (künftig nicht mehr sogenannt) oder bei Bildungen mit anheim wie anheim fallen, anheim stellen usw. Diese sind aber analog zu fehlgehen, feilbieten respektive bereithalten, festsetzen zu behandeln. Auch wenn der Bestandteil anheim, wie es das neue Regelwerk ausdrückt, selbst zusammengesetzt ist, muß die Zusammenschreibung von anheimfallen erlaubt sein.
Einen in manchem ähnlichen Fall, den die Neuregelung gerade umgekehrt löst, stellen Formen mit irgend dar. Sie werden alle zu einer Form erklärt (irgendwer, irgendwie genauso wie irgendwelche und irgendjemand). Diese Lösung ist radikal, aber übersichtlich. Man sollte sie akzeptieren.
Von anderer Art als Univerbierung sind Wortbildungsprozesse. Zusammensetzungen wie Fensterrahmen oder dunkelrot kommen nicht dadurch zustande, daß ihre Bestandteile allmählich zusammenwachsen, sondern aus den Bestandteilen werden nach festen Regeln neue Wörter geformt.
Die Neuregelung möchte nun durch einen Zwang zur Getrenntschreibung Hunderte von Wörtern ausschließen, die nach solchen Wortbildungsregeln gebildet sind oder gebildet werden können. Ausgeschlossen werden also nicht nur vorhandene, sondern auch mögliche Wörter. Die kritischen Fälle betreffen vor allem Zusammensetzungen, deren zweiter Bestandteil ein Verbstamm ist. Paradebeispiele sind die folgenden Typen:
a) Verb+Verb spazierengehen, kennenlernen, stehenbleiben, sitzenlassen
b) Adj+Verb schwerfallen, festhalten, freisprechen, blankputzen
c) Subst+Part ratsuchend, fleischfressend, eisenverarbeitend, notleidend
d) Subst+Verb eislaufen, kopfstehen, maßhalten, nottun
Die in a)-d) angeführten und vergleichbare Wörter soll es in Zukunft, wenn es nach den Reformern geht, nicht mehr geben. Das kann auf keinen Fall hingenommen werden. Wir schlagen vor, eindeutig lexikalisierte Wörter (wie die oben zu a)-d) aufgeführten, aber auch etwa leidtun u.v.a.) ins Wörterverzeichnis aufzunehmen und über alle anderen nichts auszusagen. Der Schreiber muß in Zweifelsfällen selbst wissen, was er meint und wie er das am besten schreibt.
3. Groß- und Kleinschreibung
Bei der Groß- und Kleinschreibung liegen die Dinge in mancher Hinsicht ähnlich wie bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, sie hängen ja teilweise auch unmittelbar mit diesen zusammen.
Abzulehnen ist die Verfügung, wonach zwar das Anredepronomen Sie samt dem Possessivum Ihr groß geschrieben werden soll, dagegen Du, Ihr (2.Ps Pl), Dein, Euer klein. Diese Änderung stellt einen so unnötigen und willkürlichen Eingriff in die im Deutschen gültige Sprach- und Höflichkeitspraxis dar, daß sie schon aus diesem Grund verworfen werden sollte.
Die weitaus meisten Änderungen betreffen die Großschreibung der Substantive. Nachdem die sogenannte gemäßigte Kleinschreibung nicht durchsetzbar war, hat man versucht, mit teilweise mechanischen Regelungen zu einfachen Lösungen zu kommen.
1. Zeitangaben. Begrenzt im Umfang ist die Großschreibung des zweiten Bestandteils von Zeitangaben wie heute Morgen, gestern Nachmittag. Der alten Regelung lag die Fehlanalyse zugrunde, es handle sich bei diesem Bestandteil um ein Adverb. Zwingend ist die Neuregelung nicht, weil Großschreibung der besondere, Kleinschreibung der allgemeine Fall ist. Wenn man nicht genau weiß, ob es sich um ein Substantiv handelt, ist klein zu schreiben. Also sollte man es auch in diesen Fällen tun.
2. Zusammengesetzte Fremdwörter. In Formen wie Corned Beef, Ultima Ratio soll der zweite Bestandteil künftig groß geschrieben werden, wenn er und sei es nur in der Herkunftssprache ein Substantiv ist. Es gibt überhaupt keinen Anlaß für die Abschaffung von Schreibungen wie Corned beef, Ultima ratio. Auf völlig ungeklärte Weise ist außerdem eine Reihe von Wörtern durch Zusammenschreibung von Adjektiv+Substantiv frei erfunden worden, z.B. Bigbusiness, Blackpower, Freejazz. Solche Schreibungen sind abzulehnen.
3. Substantivierte Adjektive. Nicht akzeptabel ist die vorgesehene Großschreibung von Ausdrücken wie im allgemeinen, im wesentlichen, im folgenden, des weiteren. Zumindest zweifelhaft ist der Zwang zur Großschreibung bei Indefinita wie Verschiedenes, Einzelnes, wenn gleichzeitig die Kleinschreibung in das wenige, der eine vorgeschrieben wird. Wir sollen also schreiben die eine und Einzige sowie weniges, aber Verschiedenes. Hier müssen Freiheiten für Analogieschreibungen wie die Eine und Einzige oder weniges, aber verschiedenes erlaubt sein. Da die Abgrenzung von Pronomina und Adjektiven dieser Art schwierig ist, sollten generell mehr Freiheiten eingeräumt werden.
4. goethesches Gedicht. Früher wurde Goethesches Gedicht oder Goethisches Gedicht geschrieben. Jetzt soll es heißen goethesches/goethisches Gedicht. Großschreibung ist nur mit Apostroph erlaubt, also Goethe'sches Gedicht. Die von der Neuregelung vorgesehene Kleinschreibung kann akzeptiert werden, denn in der Tat handelt es sich bei goethesch wie bei goethisch um echte Adjektive. Völlig unverständlich ist Goethe'sch. Die Verwendung des Apostroph an dieser Stelle widerspricht den Regeln, denn hier wird nichts ausgelassen. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn man auf diese Weise Schreibungen wie frischer Lach's aus Helga's Stehimbis's den Weg bereitet.
4. Zeichensetzung
Die Änderungen in der Zeichensetzung sind mit Ausnahme des Kommas bei Infinitiv- und Partizipialgruppen nicht von großem Interesse, wenngleich von einer bisweilen niederschmetternden Mechanik, z.B. Hast du gefragt: Sind sie unglücklich??.
Das Komma bei Infinitivgruppen (und entsprechend Partizipialgruppen) ist freigestellt.Es darf immer gesetzt werden, z.B. auch in Das Wetter droht, schlecht zu werden. Die Neuregelung führt nach Auskunft vieler Lehrer absehbar auch zum Zusammenbruch des Kommas bei Nebensätzen. Vorzuziehen wäre eine einfache Regelung, die die Kommata bei Infinitivgruppen so verteilt:
a) Das Wetter droht schlecht zu werden kein Komma
b) Franz glaubt zu träumen kein Komma
c) Immer zu verlieren (,) mißfällt ihr Komma fakultativ
d) Helga behauptet, alles getan zu haben Komma empfohlen
e) Paula lebt, ohne/um/anstatt zu arbeiten Komma obligatorisch
Die Fälle d) und e) sind die häufigsten. Die Hauptregel würde ungefähr lauten:
Adverbiale Infinitivgruppen werden durch Komma abgetrennt, sonst ist das Komma in der Regel frei. Mit zwei weiteren Sätzen könnte man das Komma in a und b ausschließen.
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Th. Ickler
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