Hierzu schreibt Ludwig Reiners in
Die deutsche Sprache:
Was sind die Vorzüge unserer Sprache? Beginnen wir mit
dem Einfachsten: der deutsche Wortschatz ist größer als
der englische und weit größer als dere französische;
genaue Zahlenangaben sind freilich nicht möglich, denn
wer könnte verbindlich entscheiden, wieviel zusammen-
gesetzte Wörter, Fremd- und Lehnwörter oder Fachausdrücke
zu dem Wortschatz eines Volkes gerechnet werden sollen.
Um diesem Satz durch einige beliebig gegriffene Beispiele
Farbe zu geben: dem Französischen fehlen alle Ausddrücke
der Bewegung: gehen, fahren, reiten, fliegen, segeln,
steigen, sinken werden sämtlich mit dem einen Wort 'aller'
wiedergegeben; es fehlen im Französischen auch stehen,
sitzen und liegen. Überhaupt versucht der Franzose
mit den drei Zeitwörtern faire, mettre und prendre
einige Dutzend deutscher Begriffe zu ersetzen.
Ähnlich verwendet der Engländer to get an Stelle von
hundert verschiedenen deutschen Ausdrücken.
Der Reichtum des Deutschen beruht zum großen Teil
darauf, durch Vor- und Nachsilben und durch Zusammen-
setzungen (!!!!) neue Wörter zu schaffen. Der Deutsche
bildet zum Beispiel zu dem Wort fallen Dutzende
von Ableitungen: hinfallen, abfallen, ausfallen,
zusammenfallen, verfallen, herunterfallen, nieder
fallen, einfallen; der Franzose hat für alle nur das
Wort tomber. Welchen Reichtum an Zweitwörtern , der
wichtigsten aller Wortarten, verschaffen wir uns auf
diesem Wege! er kann so leicht wie wir sich sattessen und
kranklachen, gesundbeten und totschwitzen?
Mühelos verschmilzt die deutsche Sprache Hauptwort,
Zeitwort und Beiwort und bildet mit ellen Abschattierungen
hoffnungslos, hoffnungsreich, hoffnungsarm. Für das Wort
Liebe nennt das Grimmsche Wörterbuch mehrere hundert
Zusammensetzungen. Der Reichtum an Vor- und Nachsilben
erlaubt es deer deutschen Sprache noch heute, neue
Wörter aus eigenen Wortstämmen zu prägen.
Das Englische und Französische sind schon lange
unfruchtbar und können neue Begriffe nur bezeichnen,
indem sie griechische und lateinische Brocken aus-
leihen. Der Baum der deutschen Sprache steht noch
im grünenden saftigen Wachstum, während bei den anderen
die äußersten Äste schon zu verdorren beginnen. (...)
Hebbel hat einige dieser Vorzüge in einem Gedicht
zusammengestellt:
Schön erscheint sie mir nicht, die deutsche Sprache,
und schön ist auch die französische nicht, nur die
italienissche klingt.
Aber ich finde sie reich, wie irgend eine der Völker,
finde den köstlichen Schatz treffender Wörter gehäuft.
Finde unendliche Freiheit, sie so und anders zu stellen,
bis der Gedanke die Form, bis er die Färbung erlangt,
bis er sich leicht verwebt in fremde Gedanken und dennoch
das Gepräge des Ichs, dem er entsprang, nicht verliert.
Denn der Genius, welcher im Ganzen und Großen
hier waltet, fesselt den schaffenden Geist nicht durch
ein strenges Gesetz, überläßt ihn sich selbst, vergönnt
ihm die freiste Bewegung und bewahrt sich dadurch
ewig lebendigen Reiz.
st
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Ruth Salber-Buchmueller
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